Edgar Wallace
Gucumatz
Edgar Wallace

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1

Reporter Peter Dewin war unzufrieden. Schuld daran war der Fall Lane – besser gesagt eine Kette von rätselhaften Ereignissen, deren Begleitumstände geradezu ans Unwahrscheinliche grenzten.

Übrigens hätte sich auch kein anderer Zeitungsreporter, der etwas auf seinen Ruf hielt, gerne mit einer solchen Sache abgegeben. Gute Kriminalgeschichten ziehen im Zeitungsmetier zwar immer, aber jeder Redakteur lehnt schaudernd ab, wenn von mysteriösen Geheimgesellschaften die Rede ist, an deren Existenz doch niemand glaubt – außer den Autoren von sehr guten oder sehr schlechten Romanen.

Als man Peter Dewin zum erstenmal von der gefiederten Schlange erzählte, lachte er laut; als er zum zweitenmal davon hörte, lächelte er nur noch höhnisch und war durchaus uninteressiert. Solche Märchen waren seiner Meinung nach typisch für die Welt des Theaters – denn es war ein Theater, in dem die außergewöhnliche Geschichte der gefiederten Schlange ihren Anfang nahm . . .

*

Der Beifallssturm schlug gegen die stuckverzierte Decke des Zuschauerraums und brandete von dort zu dem dichtbesetzten Parkett zurück.

Ella Creed tänzelte wieder aus den Kulissen hervor. Ein enganliegendes Kleid brachte ihre Figur ausgezeichnet zur Geltung; sie warf ihren Bewunderern ein reizendes Lächeln zu und verschwand dann mit einer leichten Verneigung – nur um gleich wieder hervorgerufen zu werden.

Sie schaute aufmerksam zum Kapellmeister hinüber, der soeben noch einmal die Anfangstakte des großen Erfolgsschlagers der letzten Monate dirigierte. Das Orchester setzte ein, Ella lief zur Mitte der Bühne, und die Girls der Revue gruppierten sich um sie, um den ungeduldigen Wunsch des Publikums nach einer Zugabe zu erfüllen. Das Solo von Ella, ein Exzentrik-Tanz, war sehenswert, und ein Sturm von Applaus, der besonders von den billigen Plätzen des Hauses ausging, belohnte sie.

Der Vorhang fiel, und Ella trat atemlos an das kleine Pult des Regisseurs.

»Das dritte Mädel von rechts in der ersten Reihe können Sie entlassen; sie tanzt nicht besonders und versucht außerdem unentwegt, die Aufmerksamkeit der Zuschauer von mir abzulenken. Und sagen Sie mir bitte sofort, warum Sie eine Blondine in die zweite Reihe gestellt haben? Ich habe Ihnen doch bestimmt schon zwanzigmal erklärt, daß ich nur Brünette als Hintergrund brauchen kann!«

»Entschuldigen Sie vielmals, Miss Creed« – der Regisseur hatte eine Frau und drei Kinder zu Hause und war darum sehr gefügig –, »ich werde dafür sorgen, daß dem Mädchen noch heute gekündigt wird . . .«

»Unsinn, werfen Sie sie einfach hinaus. Meinetwegen können Sie ihr noch ein Monatsgehalt geben, aber nur fort mit ihr!«

Ella Creed war wirklich hübsch, besonders ihren Gang konnte man nur als effektvoll bezeichnen. Doch als sie jetzt vor dem Pult stand, grell beleuchtet von der Tischlampe, wirkte sie nicht mehr so reizvoll wie vorher auf der Bühne. Wenigstens sahen ihre Lippen unter der schwungvollen grellroten Bemalung sehr dünn und hart aus.

An und für sich hätte sie jetzt warten müssen; bis die Kapelle mit ihrem letzten Musikstück zu Ende war, aber Ella hatte eine Verabredung zum Abendessen – und schließlich war sie ja auch kein gewöhnlicher Revuestar, sondern die Besitzerin des Theaters, in dem sie auftrat.

Sie schritt an den Mitgliedern der Tanzgruppe vorbei, die ihr diensteifrig Platz machten. Einige wenige wagten einen Gruß, mußten aber mit einem hochmütigen Blick ihrer Chefin zufrieden sein.

Die Garderobe Ellas war ein kleiner, luxuriös eingerichteter Raum; indirekte Beleuchtung und weiche Teppiche gaben ihm ein sehr intimes Aussehen. Eine Garderobiere half ihr beim Ablegen ihres Kostüms. Sie schlüpfte in einen seidenen Kimono, setzte sich in einen Sessel und ließ sich abschminken. Ihr Gesicht war gerade von einer dicken Schicht Gold Cream bedeckt, als jemand an die Tür klopfte.

»Sehen Sie nach, wer es ist!« rief Ella ungeduldig. »Ich möchte jetzt niemand empfangen.«

Das Mädchen kam aus dem kleinen Vorraum zurück.

»Mr. Crewe wartet draußen«, berichtete sie leise.

Ella runzelte die Stirn.

»Gut, von mir aus – lassen Sie ihn herein. Wenn Sie mich abgeschminkt haben, können Sie gehen.«

Mr. Crewe trat lächelnd ein. Er war ein großer, schlanker Mann mit harten Gesichtszügen und ziemlich spärlichen, leicht ergrauten Haaren. Sein eleganter Frack ließ nichts zu wünschen übrig.

»Warte einen kleinen Moment«, bat sie. »Rauche inzwischen eine Zigarette. – Machen Sie schnell«, wandte sie sich wieder an das Mädchen.

Mr. Crewe setzte sich nachlässig auf die Armlehne eines Sessels und sah gleichgültig zu, wie Ella sich abschminken ließ und dann ein neues Make-up auflegte. Endlich stand sie auf und verschwand hinter einem Seidenvorhang, um sich anzuziehen. Man hörte ihre scharfe Stimme, mit der sie der Garderobiere die Meinung über irgendeine kleine Nachlässigkeit sagte. In der besten Laune war sie heute abend wirklich nicht, aber Mr. Crewe ließ sich davon nicht im mindesten beunruhigen. Tatsächlich gab es nur wenige Dinge, die die stoische Ruhe dieses erfolgreichen Börsenspekulanten stören konnten. Und trotzdem war an diesem Morgen etwas vorgefallen, das ihn aus der Fassung gebracht hatte.

Ella kam in einem tief ausgeschnittenen Abendkleid wieder zum Vorschein. Die Perlenschnur, die mit fünf Smaragden besetzte kostbare Spange und die Ringe, die sie trug, sahen aus, als hätten sie zusammen ein kleines Vermögen gekostet.

»Ich habe alles wie ausgemacht erledigt«, begann Mr. Crewe liebenswürdig, als sich das Mädchen zurückgezogen hatte. »Bist du übrigens verrückt, dich mit diesem ganzen Schmuck zu behängen . . .?«

»Imitationen!« unterbrach sie ihn lässig. »Glaubst du vielleicht, daß ich mit einem Vermögen von zwanzigtausend Pfund herumlaufe, Billy? Und jetzt, was willst du von mir?«

Sie hatte die letzten Worte sehr brüsk gesagt, aber er schien gar nicht zugehört zu haben. »Wer ist heute abend das unschuldige Opfer?« erkundigte er sich lächelnd.

»Ein junger Gentleman aus Mittelengland – sein Vater hat ungefähr zehn Millionen. Die Leute sind so reich, daß sie nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen . . . Übrigens muß mein Kavalier jeden Augenblick kommen – warum besuchst du mich eigentlich?«

Mr. Leicester Crewe zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Kärtchen; es hatte ungefähr die Größe einer kleinen Visitenkarte, ohne daß aber ein Name darauf stand. Dafür war in der Mitte eine merkwürdige Figur eingedruckt – das Bild einer gefiederten Schlange. Darunter standen die Worte:

Damit Sie es nicht vergessen.

»Was soll das sein? Ein Vexierbild? Blödsinn – eine Schlange mit Federn?«

Mr. Crewe nickte.

»Die erste Karte – sie sah genauso aus wie diese – wurde mir vor einer Woche mit der Post zugesandt; und diese hier fand ich heute morgen auf meinem Schreibtisch.«

Sie starrte ihn erstaunt an.

»Was soll das nur?« fragte sie neugierig. »Eine neuartige Werbung für irgendeinen Gebrauchsartikel?«

Leicester schüttelte den Kopf und las noch einmal laut die merkwürdigen Worte: »›Damit Sie es nicht vergessen.‹ Ich habe das dunkle Gefühl, daß es eine Warnung ist . . . Hast du dir vielleicht einen Spaß damit machen wollen?«

»Ich? Ich bin doch nicht verrückt! Glaubst du, daß ich nichts Besseres zu tun habe, als Dummheiten auszuhecken? – Weshalb sollte es denn eine Warnung sein?«

Mr. Crewe strich sich nachdenklich über die Stirn.

»Ich weiß nicht recht . . . Es gibt mir eben zu denken . . .«

Ella zuckte lachend die Schultern.

»Und deshalb kommst du zu mir? Da kannst du gleich wieder gehen – vergiß nicht, daß ich eine Verabredung mit einem netten jungen Mann habe . . .«

Plötzlich hielt sie mitten im Satz inne. Sie hatte ihr kleines Abendtäschchen geöffnet, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Er schaute auf und sah, daß sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Als sie die Hand wieder aus der Tasche zog, hielt sie eine längliche Karte zwischen den Fingern – sie sah genauso aus wie die, die er ihr eben gezeigt hatte.

»Was soll das bedeuten . . .?« Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

Crewe nahm ihr die Karte aus der Hand. In der Mitte war ebenfalls das Bild einer gefiederten Schlange und die gleiche Inschrift.

»Als ich vor der Vorstellung hierherkam, war die Karte noch nicht in der Tasche«, sagte sie ärgerlich und drückte auf einen Klingelknopf. Das Mädchen kam herein.

»Haben Sie das Ding hier in meine Tasche gesteckt? Los, antworten Sie – wenn Sie sich diesen Spaß mit mir erlaubt haben, fliegen Sie noch heute abend hinaus!«

Das Mädchen beteuerte erschrocken, von nichts zu wissen, und lief schließlich heulend davon.

»Leider kann ich sie nicht auf die Straße setzen, gute Dienstmädchen sind heute schwer zu bekommen«, meinte Ella. »Außerdem wird das Ganze doch nur irgendein Unsinn sein. Vermutlich Reklame für eine neue Zahnpasta – nächste Woche klebt das gleiche Bild an allen Plakatsäulen Londons . . ., und jetzt, Billy, entschuldige mich bitte – mein Freund wartet.« Mit einem flüchtigen Kopfnicken verabschiedete sie sich.

Das Café de Reims, eines der teuersten Nachtlokale Londons, war neben anderen Attraktionen auch wegen seiner vorzüglichen Küche bekannt; Ella speiste dort mit ihrem Begleiter zu Abend. Der langweilige junge Mann, der sie eingeladen hatte, zeichnete sich lediglich dadurch aus, daß er der Inhaber einer großen Wollfirma war. Trotzdem wurde es zwei Uhr morgens, bis sie aufbrachen. Der junge Herr hätte Ella sehr gern nach Hause begleitet, aber sie lehnte in einer plötzlichen Anwandlung von Schicklichkeitsgefühl ab.

Ein Taxi brachte sie zu ihrem hübschen kleinen Haus in St. Johns' Wood, 904 Arcacia Road. Das Grundstück lag hinter einer hohen Mauer; eine Zufahrt führte durch ein schmiedeeisernes Tor bis zu einem mit Fliesen belegten, glasüberdachten Gang, auf dem man zur eigentlichen Haustür kam.

Nachdem sie den Taxichauffeur bezahlt hatte, klinkte sie das äußere Tor auf und schloß dann von innen zu. Ein Blick zu ihrem erleuchteten Zimmer sagte ihr, daß ihr Mädchen auf sie wartete. Sie ging die Zufahrt entlang . . .

»Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen den Hals um!«

Diese Worte wurden ihr direkt ins Ohr gezischt, und sie blieb starr vor Schrecken und Furcht stehen. Aus den dunklen Sträuchern, die die Zufahrt an dieser Stelle einsäumten, tauchte eine breitschultrige, drohende Gestalt auf. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, da es von einem schwarzen Taschentuch halb bedeckt war; weiter hinten sah sie zu ihrem Entsetzen noch eine zweite Gestalt. Ihre Knie wankten, und sie taumelte einen Schritt zurück.

Endlich holte sie keuchend Luft und öffnete den Mund, um zu schreien – aber eine große, schwere Hand legte sich sofort über ihr Gesicht.

»Wollen Sie gleich parieren? Ich bringe Sie um, wenn Sie nur einen Laut von sich geben!«

Dann wurde es Ella Creed glücklicherweise schwarz vor den Augen, und sie, die schon oft eine Ohnmacht vorgetäuscht hatte, verlor zum erstenmal in ihrem Leben wirklich das Bewußtsein.

Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich in halbsitzender Stellung gegen die Haustür gelehnt. Die beiden dunklen Gestalten waren verschwunden – und ebenso ihre Perlen und ihre Smaragdspange. Es wäre nichts weiter als ein gewöhnlicher Raubüberfall gewesen, wenn sie nicht an einer Schnur um ihren Hals eine Karte gefunden hätte, auf der das Bild einer gefiederten Schlange war.

 


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