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Peter hatte eine Menge Besuche zu absolvieren. Darunter waren sowohl wichtige als auch nebensächliche, deren Ergebnis man jedoch nicht voraussehen konnte. Im obersten Stock eines Geschäftshauses in der Winchester Street trat er in das Büro einer alteingesessenen Baufirma und wollte sich bei dem ersten Architekten, dessen Name auf dem Firmenschild stand, melden lassen. Der Mann in der Pförtnerloge schüttelte aber den Kopf.
»Mr. Walber lebt nicht mehr. Das Geschäft wird jetzt von Mr. Denny allein geführt. Wollen Sie ihn sprechen?«
Peter stand bald darauf einem hageren, kurzsichtigen Mann gegenüber, der nervös und ungeduldig wirkte. Man hatte den Eindruck, daß er das Gespräch so bald wie möglich zu beenden wünschte. Selbst das Zauberwort ›Redaktion des Postkuriers‹ zog bei ihm nicht. Er war ein so vielbeschäftigter Mann, daß er wahrscheinlich von der Existenz dieser großen Zeitung keine Ahnung hatte.
Peter zog den Plan aus der Tasche, den er in der Schublade von Joe Farmers Schreibtisch gefunden hatte und auf dem der Name der Firma ›Walber und Denny‹ stand. Er zeigte ihn dem Architekten.
»Das ist einer der Baupläne, die noch Mr. Walber entworfen hat«, sagte Denny sofort und zeigte auf eine schwer leserliche Unterschrift in der Ecke des Blattes. »Ich kann Ihnen darüber leider keine Auskunft geben. Mr. Walber liebte es, an solche große Projekte heranzugehen. Was es sein soll? Anscheinend ein riesiger Wohnblock – du lieber Himmel –, die Londoner Baupolizei würde sich gegen einen solchen Unsinn entschieden verwahren. Das Ganze hat nur in Mr. Walbers lebhafter Phantasie existiert.«
»Können Sie vielleicht feststellen, für wen dieser Plan gezeichnet wurde?«
Denny beteuerte nachdrücklich, daß er das nicht wisse.
»Mr. Walber war ein gutherziger, aber unpraktischer Mensch. Als er starb, hinterließ er keinen Pfennig. Als Junggeselle brauchte er auch sehr wenig Geld.«
An Mr. Dennys düsterem Tonfall ließ sich unschwer erkennen, daß er kein Junggeselle war.
»Mr. Walber zeichnete häufig nur zu seinem Vergnügen solche weitläufige Pläne. Er war von dem Gedanken besessen, daß er eines Tages einen Geldgeber finden würde, der ihm die nötigen Mittel zur Verwirklichung seiner Ideen zur Verfügung stellte. Aber Millionäre sind bekanntlich dünn gesät und außerdem meist praktisch veranlagt, und so hatte er keine Gelegenheit, seine verrückten Pläne zu verwirklichen. Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«
Peter faltete den Plan zusammen und steckte ihn wieder ein. Etwas an der kurzangebundenen Art des anderen belustigte ihn.
»Sind Sie sicher, daß dieser Plan in Ihrem Büro nicht weiter bearbeitet wurde?« fragte Peter.
»Ganz sicher. Es war eine private Spielerei von Mr. Walber; ein offizieller Auftrag, der in unseren Akten festgehalten sein müßte, war es keinesfalls – außerdem verwenden wir hier im Büro ein ganz anderes Papier.«
Peter hatte eine unbestimmte Ahnung, auf wen Mr. Walber bei der Verwirklichung seiner Pläne gezählt hatte; daß er aber hier nichts Näheres darüber erfahren konnte, war ihm klar. Er fragte dann noch, ob Walber vielleicht den kürzlich ermordeten Mr. Farmer gekannt habe. Mr. Denny schaute in seiner Kundenliste nach und schüttelte dann den Kopf.
»Unter unseren Kunden befindet sich kein Mr. Farmer.«
Gleich darauf machte sich Peter auf den Weg zur City. In der Queen Victoria Street liegt ein altmodisches Gebäude aus der Zeit der Königin Anna – das Heraldische Amt. In diesem Amt blieb Peter fast eine Stunde, und als er herauskam, sah er bedeutend vergnügter aus. Einen Zipfel des Vorhangs, der das Geheimnis der gefiederten Schlange verbarg, hatte er lüften können.
Die schwierigste Aufgabe erwartete ihn aber erst noch. Buckingham Gate Nr. 10 war ein vornehmes, großes Haus mit einzelnen Mietwohnungen. Der Portier sagte ihm, daß Mrs. Paula Staines zu Hause sei, und öffnete ihm die Tür des Aufzugs.
Als Peter oben an der Wohnungstür geklingelt hatte, öffnete ihm ein Dienstmädchen und führte ihn in eine kleine, geschmackvolle Diele; besonders fielen ihm an den Wänden eine Reihe von eingerahmten Zeichnungen auf.
Das Mädchen kam bald zurück und führte ihn in einen Raum, der das Meisterstück eines Innenarchitekten hätte sein können. Ein Blick auf Mrs. Paula Staines genügte Peter, um zu wissen, daß er hier einen ganz anderen Typ vor sich hatte als die eingebildete Schauspielerin vom Orpheum. Mrs. Staines saß an einem Tischchen, einen weißen Zeichenkarton vor sich. Er konnte nicht umhin, sie bewundernd anzuschauen; in ihrem ganzen Wesen drückte sich das aus, was man eben nur bei einer ›Dame‹ findet.
Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und begrüßte ihn mit einem etwas spöttischen Lächeln.
»Eine große Ehre für mich, Mr. Dewin«, sagte sie. »Wollen Sie mich etwa interviewen?«
Bevor er antworten konnte, nahm sie den vor ihr liegenden Zeichenkarton und hob ihn in die Höhe.
»Ich zeichne gefiederte Schlangen – sehen sie nicht phantastisch aus?«
Er erkannte einige Skizzen von gefiederten Schlangen auf dem Blatt – zusammengerollt, den Kopf zurückgebogen, um auf ein Opfer loszustoßen, in seltsamer Verschlingung. Daneben Einzelstudien von Köpfen und Versuche, besonders das eigenartige Gefieder herauszuarbeiten.
»Reizend von Ihnen, daß Sie mir meine Aufgabe so leicht machen«, meinte Peter begeistert. »Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.«
Ihre Lippen preßten sich für einen Augenblick zu einem dünnen Strich zusammen.
»Das vermutete ich schon, als ich Ihre Karte las«, entgegnete sie. »Aber glauben Sie mir, Mr. Dewin, Sie haben sich nicht gerade an eine kompetente Person gewandt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas von gefiederten Schlangen gehört – bis dieser fürchterliche Mord geschah.«
Sie sah ihn offen an, und er war sich fast sicher, daß sie ihn nicht belog.
»Vermutlich sind Sie auch wegen des Mordes gekommen.« Sie wischte die Zeichnungen vom Tisch und schauderte zusammen. »Es ist furchtbar!«
Er wußte ganz genau, warum die Tat dieser sonst so gelassenen Frau besonders naheging. Wäre er ein brutaler Mensch gewesen, so hätte er ihr sofort einiges auf den Kopf zugesagt; so erkundigten sich vorerst nur nach dem Vorleben Mr. Farmers. Anscheinend hatte sie ihn gut genug gekannt, um auch über seine verschiedenen Straftaten im Bilde zu sein; trotzdem berührte sie diese Dinge nicht.
»Und jetzt, Mr. Dewin« – bei diesen Worten legte sie ihre schönen schlanken Hände auf den Tisch und zog die Augenbrauen zusammen –, »sagen Sie mir bitte, was Sie wirklich von mir wollen.«
Das war eine Herausforderung, und er nahm sie an.
»Ich will ganz offen sein – ich brauche Informationen über die gefiederte Schlange.« Sie machte eine abwehrende Bewegung. »Vielleicht sind Sie selbst überzeugt davon, daß Sie nichts über diese Angelegenheit wissen – ich vermute das Gegenteil. Nun, vor vielen Jahren erregte eine große Betrugsaffäre viel Aufsehen . . .«
»Ich war nicht daran beteiligt«, erwiderte sie ruhig und bestimmt. »Natürlich kann ich nicht verlangen, daß Sie mir glauben, aber deswegen ist es doch wahr. Ich will nicht behaupten, daß ich in gewissem Sinn von dieser Angelegenheit damals nicht profitiert hätte – aber bis zur letzten Minute, in der man mich einweihen mußte, wurde ich über die eigentlichen Zusammenhänge im unklaren gelassen. Übrigens werde ich Ihnen über die Sache nichts weiter erzählen.«
»Warum haben Sie denn überhaupt schon so viel angedeutet?«
Sie überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete.
»Weil ich annehme, daß Sie irgend etwas entdeckt haben, was mich angeht. Ich wußte es nicht, bis Sie hier hereinkamen – erst als ich Ihren Gesichtsausdruck sah.«
Er nickte.
»Ja – Sie sind Paula Ricks.«
Sie erwiderte nichts, und er wiederholte die Worte. Wieder verzog sie den Mund zu einem spöttischen Lächeln.
»Ganz richtig, ich bin Paula Ricks – aber was kann Ihnen diese Tatsache helfen?«
»Sie kennen William Lane«, entgegnete er ernst. Aber zu seiner größten Verwunderung schüttelte sie den Kopf.
»Ich habe ihn niemals gesehen – ich wußte kaum etwas von ihm, bis er festgenommen wurde. Später habe ich dann natürlich alles erfahren, was es überhaupt über ihn zu wissen gab.« Sie lehnte sich vor und sah ihn groß an. »Ist es denn ein Verbrechen, daß ich Paula Ricks bin? Sie können mir doch nicht den Aufenthalt in England verbieten – und die Polizei kann mir nichts anhaben!« Forschend sah sie ihn an. »Soll ich Ihnen erzählen, was die Polizei vermutet, was aber bisher niemand weiß? Ich habe alle Platten selbst gestochen, die mein Vater brauchte, um die falschen französischen Banknoten nachzudrucken. Allerdings, was mir kaum jemand glauben wird, ich dachte damals, daß es nur ein Scherz sei . . . Ja, sogar als ich den Ernst der Lage übersah, machte ich mir nicht viel Gewissensbisse, ich hielt es immer noch für einen großen Spaß. Vielleicht hatte ich auch eine gewisse Genugtuung dabei, als ich es tat . . . Übrigens habe ich nachher nie wieder eine solche Platte gestochen.«
Er betrachtete vielsagend die luxuriöse Einrichtung des Zimmers.
»Nun, das hier muß doch etwas gekostet haben – und nicht zu wenig. Nehmen Sie mir diese Frage nicht übel – wie bringen Sie es fertig, von Ihren sicher nicht sehr großen Einnahmen als Künstlerin in diesem Stil zu leben?«
Peter war von der Art dieser Frau schon vorher beeindruckt gewesen, aber das größte Rätsel gab sie ihm erst jetzt auf.
»Das Geld, das ich besitze, diese Wohnung, alles, was Sie hier sehen, habe ich nur deshalb, weil ich ehrlich war! Und ich würde genau dasselbe haben, wenn ich nicht ehrlich gewesen wäre. Merken Sie sich – ich kann sagen, daß mein Vermögen der Preis für meine Ehrlichkeit und meine energische Weigerung ist, das alte Leben weiterzuführen.«
Er war davon überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte, wenn er sich vorerst auch durchaus noch keinen Reim darauf machen konnte.
»Man sagt, daß Sie eine Vorliebe für Rätsel haben, Mr. Dewin – lösen Sie dieses!« Sie stand auf und drückte auf einen Klingelknopf. »Ich werde jetzt Tee trinken. Wollen Sie mir dabei Gesellschaft leisten? Ich war wirklich im Unrecht, als ich Ihrem Besuch mit einem gewissen Unbehagen entgegensah.«
Das Mädchen kam herein, und sie sprach erst weiter, als es einen Auftrag entgegengenommen und die Tür wieder geschlossen hatte.
»Ich fürchtete, Sie würden herausbekommen, wer ich in Wirklichkeit bin, und das haben Sie in der Tat ja auch getan; nur daß es jetzt gar nicht so schlimm ist, wie ich mir einbildete. Eigentlich war es sehr dumm von mir, daß ich so unruhig war . . . Sie sind heute morgen in Scotland Yard gewesen – haben Sie dort Ihre Entdeckung mitgeteilt?«
Er sah sie erstaunt an.
»Woher wissen Sie das?«
»Aus einem ganz einfachen Grund«, entgegnete sie gelassen. »Ich habe Sie während der letzten sechsunddreißig Stunden überwachen lassen – und habe dabei eine ganze Menge über Sie und Ihr Privatleben erfahren. Miss Olroyd ist wirklich ein sehr hübsches Mädchen, nicht wahr, Mr. Dewin?«
Er hörte den heiteren Unterton in ihrer Stimme und wurde rot.
»Sie haben doch nicht etwa Mr. Stebbings engagiert, um mich beobachten zu lassen?«
»Aber natürlich – Mr. Stebbings in Person«, sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. »Sie haben ihn also erkannt? Ich habe ihm doch gleich gesagt, daß sein Bart viel zu sehr auffällt!«
Der Tee wurde hereingebracht, und sie goß ein.
»Entsetzlich, diese Sache mit Mr. Farmer«, sagte sie nach einer längeren Pause. »Nicht, daß ich ihn besonders leiden konnte . . . Ich könnte Ihnen viel von ihm erzählen, aber es ist besser, wenn ich es nicht tue. Außerdem sind Sie ja so klug, daß Sie alle diese Dinge selbst herausbringen werden.«
»Soll das eine Beleidigung oder ein Kompliment sein?«
»Ich weiß nicht – nehmen Sie es, wie Sie wollen.«
Er starrte in seine Tasse, dann trank er einen Schluck und schaute ihr von unten herauf in die Augen.
»Wenn wir Wein hätten, würde ich einen Trinkspruch auf Sie ausbringen«, meinte er mit einem seltsamen Unterton. »Ich brauchte Ihnen dabei nur das schöne alte Wort Gucumatz zu sagen!«
Klirrend fiel ihr die Tasse aus der Hand, und sie wurde plötzlich totenblaß.
»Gucumatz!« stieß sie hervor und starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an. »Gucumatz . . .«
Sie atmete erregt. In der nächsten Sekunde würde sie zu reden beginnen . . .
Aber in diesem Augenblick klopfte es an die Tür, und das Mädchen kam herein. Paula wurde am Telefon verlangt – die günstigste Gelegenheit für sie, um Zeit zu gewinnen.
Sie verließ schnell das Zimmer, war einige Minute abwesend, und als sie wieder eintrat, hatte sie ihre alte, sichere Haltung bereits zurückgewonnen.
»Ich glaube, wir müssen jetzt sehr vernünftig sein«, sagte Paula mit einer Stimme, die gezwungen fröhlich klang.
»Und aufrichtig!« fügte Peter hinzu.
»Auch aufrichtig!« wiederholte sie. »Und zwar gilt das für uns beide. Ich gestehe, daß Sie mich überrascht haben . . . Gleich darauf wurde mir klar, daß Sie das böse Wort bei Farmer gefunden haben, der es stets mit sich herumtrug. Sie erschreckten mich tatsächlich furchtbar! Solche unvermittelte Überraschungen gehören zu Ihrem Beruf, wie?«
»Das kann ich nicht abstreiten – und wenn ich von Gucumatz sprach . . .«
»Ein verrücktes Wort – ich schwöre Ihnen, daß ich es nicht gehört habe, bis ein Jahr nach . . .« sie zögerte und suchte nach einem Ausdruck.
»Bis ein Jahr nach?« wiederholte Peter.
». . . nach einem gewissen Ereignis«, vollendete sie den Satz. »Aber was bezwecken Sie eigentlich mit diesem Wort?«
Wußte sie es wirklich nicht, oder wollte sie ihn nur verblüffen? Es sah doch so aus, als ob sie dem Wort eine besondere Bedeutung zugrunde legte, und seine Vermutung wurde auf seinen nächsten Satz hin bestärkt.
»Gucumatz ist nur ein anderer Name für gefiederte Schlange«, sagte er langsam.
Sie schaute ihn lange an, dann ließ sie sich plötzlich in einen Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Als sie wieder aufschaute, war sie so blaß wie vorher.
»Würden Sie mich morgen besuchen?« sagte sie und reichte ihm die Hand. »Nein, nein, ich will heute nicht mehr darüber sprechen, ich fühle mich nicht wohl – morgen . . .»
Sie begleitete ihn bis zur Tür und sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterging. Dann klingelte sie ihrem Mädchen.
»Rufen Sie sofort bei Cooks Reisebüro an, und lassen Sie zwei Schlafplätze im Orientexpreß belegen.«
Das Mädchen war anscheinend an solche plötzlichen Entschlüsse gewöhnt und antwortete nur mit einem zuvorkommenden Lächeln.
»Nita, niemand darf erfahren, daß wir morgen früh verreisen. Es wäre gut, wenn Sie sofort packen würden und die Koffer nachts zum Bahnhof brächten. Sagen Sie auch dem Portier erst im letzten Moment, daß wir fortfahren – für mindestens ein Jahr . . .«
Paula Staines ging zu ihrem Schreibtisch und verbrachte den ganzen Nachmittag damit, Briefe zu zerreißen und Schecks auszuschreiben. Sie hatte sich an einen Grundsatz erinnert, den ihr Vater ihr einmal eingeprägt hatte: »Gehe immer Verwicklungen aus dem Weg!« Und es waren böse Verwicklungen im Anzug, die schnell über die hereinbrechen würden, die dablieben.