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XI.
»Sie.«

Im Akartilande verehrte man viele Dämonen und fürchtete keinen, außer einem sonderbaren Gott, der Wu genannt wurde, was in unserer Sprache »Sie« bedeutet.

»Denken Sie daran!« sagte Sanders vom Strom, als er die Hand Grayson Smiths, seines Assistenten, drückte.

»Ich werde es nicht vergessen,« antwortete dieser heitere junge Mann, »und, was ich noch sagen wollte, wenn mir was zustoßen sollte, könnten Sie vielleicht feststellen, wie sich's zugetragen hat und 'ne Zeile an meine Leute schreiben und dabei alle häßlichen Einzelheiten unterdrücken.«

Sanders nickte.

»Ich werde eine fromme Lüge draus machen,« antwortete Sanders, »und was auch geschieht, Ihr Tod soll so schnell und schmerzlos sein, wie mein Füllfederhalter ihn machen kann.«

»Sie sind 'n netter Kerl«, sagte Grayson Smith, wandte sich an seinen Kanuvormann und warf ihm eine Anzahl Flüche in der Suahelisprache an den Kopf, denn trotz seiner Jugend war Smith doch ein großer Sprachkenner.

Sanders beobachtete das große Kanu, wie es in die gelben Wasser des Fasai hinausfuhr, verfolgte es, bis es hinter einer Sandbank verschwand, brachte die Nase seines Dampfers in eine Richtung mit dem Strom und steuerte heimwärts.

Um die volle Bedeutung der Unabhängigkeit des Akartivolkes und ihre Unangreifbarkeit zu würdigen, muß man sich daran erinnern, daß sich ihr Land vom »Urwald an den Wassern« bis zum »Urwald an den Bergen« erstreckte. Es war ein breiter Strich Weideland, umgeben von natürlichen Befestigungen. Urwald und Sumpf hielten das räuberische Volk des »Großen Königs« zurück, Berge und Urwald vereitelten Übergriffe der Ochoris, Akasavas und Isisis.

Die kühnsten N'Gombis hatten sich niemals über die sägeförmigen Häupter der großen Berge gewagt, obwohl Beute und Weiber lockten.

Der König der Akartis war unbestrittener Herr jener ausgedehnten Gebiete; er hatte zehn Heerhaufen von je tausend Mann und ein Amazonenregiment, das er seine »zornigen Jungfrauen« nannte; diese tranken starke einheimische Getränke und führten Ringkämpfe auf wie die Männer.

Da er als König vom Urwald an den Wassern bis zum Urwald an den Bergen herrschte, war er mächtig und erbarmungslos, und niemand wagte, N'rakis »Ja« sein »Nein« entgegenzusetzen, denn er war zu grausam und ein zu fürchterlicher Mann, wenn jemand seinen Unwillen erregte.

Einst kam Culuka von den Marschen mit tausend Speeren in N'rakis Gebiet. Nun liegen die Marschen viele Meilen von der Stadt des Königs entfernt, und der Beutezug, den Culuka plante, richtete kein Unheil an, denn das überfallene Land war arm und steinig.

Aber N'raki, der Töter, war an seiner empfindlichsten Stelle getroffen und führte seine Tausende durch die Sümpfe bis zur Hauptstadt Culukas, bekämpfte ihn bis unter die Wälle und darüber hinaus. Die Stadt verbrannte er. Die Männer und Kinder erschlug er auf der Stelle. Culuka wurde vor seiner brennenden Hütte gekreuzigt. Danach waren die Grenzen des Töters gefeit gegen jeden Angriff.

Das war eine besonders scharfe Lektion, und als das französische Gouvernement – denn Culuka wohnte in einem Gebiet, das, wenigstens auf der Karte, unter französischer Herrschaft stand – eine Gesandtschaft schickte, um nach der Ursache dieser Vorgänge zu forschen, schnitt N'raki dem Führer der Gesandtschaft den Kopf ab und sandte diesen mit Nachrichten zurück, die sich nicht drucken ließen, und die ursprünglich für den Gouverneur von Französisch-Westafrika und unter Umständen für den Quai d'Orsay bestimmt waren.

Deshalb lebte N'raki ungestört, denn diese Schmach fiel zeitlich mit den Feststellungen der Grenzkommission zusammen, die zwei Jahre lang getagt hatte, um gewisse Fragen wegen der Grenzlinie zu regeln.

Durch die Feststellung der Kommission wurde das gesamte Akartiland im Nu britisches Gebiet und N'raki ein Vasall des Königs von England – obwohl er keine blasse Ahnung von dieser Ehre hatte.

N'raki war der Ausbund eines Selbstherrschers, und von vielen Bataillonen geschulter Krieger, die alle sehr jung und schön waren mit ihren leuchtenden Gliedern und federgeschmückten Köpfen, liebte er am meisten sein erstes Regiment.

Dieses bestand aus den größten, stärksten, schnellsten und wildesten Kriegern; er verbot ihnen, zu heiraten, denn jedermann weiß, daß Weiber einen üblen Einfluß auf Krieger ausüben. Und kein verheirateter Mann ist tapfer, bis er Kinder zu verteidigen hat, aber bis zu diesem Zeitpunkt ist er auch fett geworden.

So kannte dieses Leibregiment weder die Sehnsucht noch die Freuden der Liebe, und diese Krieger waren sehr stolz darauf, daß ihr Gebieter sie von allen anderen Männern gesondert hielt und sie so auszeichnete. Sie taten sich immer bei den Spielen hervor, da sie die stärksten und die schnellsten waren und den Einfluß der Weiber nicht an sich gespürt hatten. Und der alte König, der ihre Tüchtigkeit sah, rief: »Wa!«

Bei diesem Regiment stand ein Mann mit Namen Taga'ka, ein stattlicher Bursche von zwanzig Jahren. Es gab aber auch in der Königstadt ein Weib von fünfzehn Jahren, namens Lapai, das gerade gewachsen, hübsch und eine hervorragende Tänzerin war.

Lapai war ein hochmütiges Weib, da sie den Haupt-Zauberdoktor des Königs zum Onkel hatte, und besaß solch weitgehenden Einfluß, daß sie schon zwei Ehemänner beiseite gebracht hatte.

Eines Tages sah sie Taga'ka beim Wasserholen und verliebte sich in ihn. Und als sie ihn einmal im Gehölz allein traf, fiel sie vor ihm nieder und umklammerte seine Füße.

»Taga'ka, Gebieter,« sagte sie, »du bist der einzige Mann auf der Welt, den ich begehre.«

»Ich bin über allen Begehr erhaben,« antwortete Taga'ka aufgeblasen, »denn ich gehöre zum Königsregiment und Weiber sind wie Gras zu unseren Füßen.«

Und selbst ihre eindringlichsten Lockungen konnten ihn nicht dazu bewegen, ihr auch nur das Gesicht zu streicheln. Das Herz des Weibes war wahnsinnig vor Liebeskummer.

Kurz darauf wurde der König krank; von Tag zu Tag ging es ihm schlechter. Die Zauberdoktoren opferten siebenmal und ersahen aus gräßlichen Anzeichen, die nicht im einzelnen beschrieben zu werden brauchen, daß der König eine lange Reise bis an die Grenzen seines Reiches machen müsse, wo er einen Mann mit einem Auge treffen sollte, der im Schatten der königlichen Hütte leben würde.

Der König folgte der erhaltenen Weissagung und unternahm eine Reise von drei Monaten, bis er zu dem angegebenen Platze kam und dort einen Mann traf, wie ihn die Zauberdoktoren beschrieben hatten. Und dieser Mann weilte im Schatten der königlichen Hütte.

Nun ist es eine Tatsache, die zu leugnen sich niemand die Mühe nehmen wird, daß die Nichte des Hauptzauberdoktors diese Behandlung des Königs geplant hatte. Sie hatte den Plan mit großer Geschicklichkeit ausgeheckt und dafür gesorgt, daß der verstümmelte Mann an des Königs Hütte wartete.

Denn sie liebte Taga'ka mit der ganzen Macht ihres Herzens, und als die langen Monate vergangen waren und der König immer noch weit weg blieb, flüsterte Lapai dem jungen Manne so lange in die Ohren, bis er sie zum Weibe nahm, obwohl Todesstrafe auf diesen Fehltritt stand.

Die anderen Leute des Leibregiments, die Taga'ka für ein Muster in allen ernsten Angelegenheiten hielten, sahen das und sagten: »Seht! Taga'ka, der Günstling des Königs, hat sich ein Weib genommen. Nun, wenn wir alle das tun, wird es besser für Taga'ka und besser für uns sein. Der König, der alte Mann, wird ihm vergeben und uns nicht bestrafen.«

Möglicherweise hätte N'raki, der König, seine Tage an jenem Orte beschlossen, an den ihn sein Medizinmann gesandt hatte; aber da stand in jenem Landstrich ein größerer Zauberer auf als irgendeiner – ein gewisser Fremder aus den Marschen, der Zauberkräfte besaß, und der die Schmerzen in des Königs Beinen durch kein schmerzlicheres Verfahren als durch Handauflegung heilte, und den der König zu seinem Hauptzauberer machte. Und das war das Ende von Lapais Onkel, denn wenn schon zwei Könige nicht in ein und demselben Lande regieren können, so können zwei Zauberdoktoren erst recht nicht gleichzeitig nebeneinander tätig sein.

So wurde Lapais Onkel getötet und sein Blut zu Zauberzwecken verwendet.

Eines Morgens stand der neue Zauberdoktor vor N'raki, dem König.

»Herr und König,« sagte er, »ich habe einen Traum gehabt, und dieser Traum sagt mir, Deine Herrlichkeit muß zurück nach der Hauptstadt. Aber du mußt unerkannt reisen, damit die bösen Geister, die den Weg bewachen, nicht Hand an dich legen.«

König N'raki kehrte ohne Gefolge nach seiner Hauptstadt zurück; nur seine persönliche Wache war bei ihm; er kam unangekündigt an, sehr zum Leidwesen seines Leibregiments.

Und als er alles erfahren hatte, hielt er ein schnelles Gericht. Er ließ die verbotenen Weiber, sechshundert an der Zahl, auf den Gipfel eines hohen Berges bringen und von einem Felsen hinabstürzen.

Dieser Berg trägt bis heute den Namen: »Berg der betrübten Weiber«. Eine einzige schonte er, Lapai, schonte sie vor dem zum Urteil versammelten Volke.

»Seht dieses Weib, Volk von Akarti!« rief er. »Sie hat Kummer und Tod über mein Leibregiment gebracht. Heute soll sie Taga'ka, ihren Mann, brennen sehen. Und fortan soll sie unter euch leben, um euch daran zu erinnern, daß ich ein sehr eifersüchtiger König bin und schrecklich im Zorn.«

Die Nachricht von diesem Massenmord sickerte langsam durch die Länder. Sie kam auch zum britischen Gouvernement, aber die britische Regierung ist sehr vorsichtig in Sachen, in denen es sich um primitive Völkerschaften handelt.

Sanders, der zwischen Downing Street und den Bezirksamtleuten vieler abgelegener und isolierter Punkte saß, vergegenwärtigte sich die Fruchtlosigkeit eines Straffeldzugs. Er sandte zwei Sonderbotschaften, eine an einen jungen Menschen, namens Farquharson, der augenblicklich an einem großen Sumpfe südlich von den Ambalinabergen Schnepfen jagte. Und dieser junge Mann fluchte wie ein Schotte, weil ihm der Sport unterbunden wurde; aber er gürtete seine Lenden und zog mit einer halben Kompanie von des Königs afrikanischen Jägern gegen die Stadt.

Auf dem Wege dorthin geriet er in einen Hinterhalt und fluchte noch mehr, denn er sah ein, daß ihn der Teufel holen würde, ehe er seinen jährlichen Urlaub genießen konnte.

Er rief nach seiner Ordonnanz.

»Hafiz,« sagte er zu dieser auf arabisch, »wenn du entkommen solltest, durchquere das Land bis zu den Ochoris am Großen Fluß. Dort wirst du Sandi finden. Bring' ihm meine herzlichsten Grüße und sage ihm, daß Fagazoni ihm gute Nachricht schickt! Der Töter von vielen mordet sein eigenes Volk.«

Eine Stunde später lag Farquharson oder Fagazoni, wie ihn die Eingeborenen nannten, vor dem König; seine erloschenen Augen starrten in den unbarmherzigen blauen Himmel; seine geöffneten Lippen zeigten die Spur eines Lächelns.

»Das ist ein schlimmes Palaver,« sagte der König, als er auf den Toten niedersah. »Nun werden sie kommen, und ich weiß nicht, was geschieht.«

In seiner Aufregung vergaß er ganz, den Umstand in Rechnung zu ziehen, daß er in seiner Hauptstadt ein volles Tausend Männer hatte, die krank vor Trauer um ihre Weiber waren.

König N'raki war kein Feigling. Er hatte eine gute Witterung für alle verdächtigen Charaktere. Sogar die Räte um ihn herum nahm er davon nicht aus, denn der neue Zauberdoktor fand Spuren von Treulosigkeit bei jedermann. Mit Hilfe seines Amazonenregimentes hielt er die Hauptstadt im Schach und entledigte sich erbarmungslos geheimer Nörgler. Dazu gehörten Leute seiner nächsten Umgebung, und es kam eine Zeit, wo er keinen fand, dem er seine Gedanken mit einem gewissen Gefühl der Sicherheit hätte anvertrauen mögen.

Da erreichte ihn die Nachricht, daß eine arabische Karawane seine Westgrenze überschritten hätte und mit seinem Volke Handel triebe. Und der Bericht, den er darüber erhielt, war schmeichelhaft für den Verstand und den Geist des Führers jener Karawane.

N'raki sandte dem Eindringling Boten mit Geschenken und freundlichen Worten, und eines Tages wurde der schlanke Araber Ussuf vor ihn gebracht.

»O, Ussuf, ich habe von dir und deiner Weisheit gehört,« sagte der König, »du bist oft in meinem Lande herumgereist, und niemand hat dir etwas zuleide getan.«

»Herr und Gebieter, das stimmt!« bestätigte Ussuf.

Der König betrachtete ihn nachdenklich. N'raki hatte zu jener Zeit seine Reife erreicht. Er war ein kluger und schlauer Mann und trug sich nicht mit Hirngespinsten.

»Arabi,« sagte er, »das geht mir durch den Kopf: du sollst bei mir bleiben und im Schatten meiner Hütte wohnen. Du sollst mein Häuptling sein, denn du bist sehr klug und kennst die Gewohnheiten fremder Völker. Du sollst Schätze haben, die deine kühnsten Träume übersteigen, denn in diesem Lande gibt es viel Elfenbein, das das Volk meiner Ahnen vergraben hat.«

»Herr und König,« entgegnete Ussuf, »das ist eine große Ehre, und ich bin ein zu gewöhnlicher und zu unbedeutender Mann, um dir zu dienen. Allerdings ist es wahr, daß ich die Sitten fremder Völker kenne, und daß ich erfahren im Regieren von Menschen bin.«

»Außerdem sage ich dir,« fuhr der König langsam fort, »daß ich weder Menschen noch Dämonen fürchte, dennoch fürchte ich ›Sie‹, wegen ihrer fürchterlichen Grausamkeit. Wenn du mir nun dazu behilflich sein willst, mich vor ihrem Zorn zu schützen, so sollst du hier in Frieden und Glück wohnen.«

Auf diese Weise brachte es Ussuf, der Araber, zum ersten Minister des Königs von Akarti, und zwei Tage nach seiner Ankunft wurde der neue Zauberdoktor schnell und entschlossen von einem König abgesetzt, der keine Verwendung mehr für ihn hatte.

Alles, was aus diesen Länderstrichen an Nachrichten zu Sanders gelangte, war die Kunde, daß jenes Land mit einer gewissen Weisheit regiert wurde. Die Furcht vor »Sie« war dem König immer gegenwärtig. Lange Abende saß er mit seinem arabischen Ratgeber zusammen und dachte an die geheimnisvolle Macht, die jenseits des Sägerückengebirges ihr Wesen trieb.

»Ich sage dir, Ussuf,« sprach er, »daß mir mein Herz zu Wasser wird, wenn ich an ›Sie‹ denke, denn das ist ein furchtbarer Dämon, und ich bringe jeden Neumond Opfer, um seinen Zorn zu besänftigen«, sagte der König.

»Gebieter und König, ich kenne die Gewohnheiten von ›Sie‹, und ich sage dir, daß sie Opfer nicht lieben.«

Der König rückte unruhig auf seinem Sessel hin und her.

»Das ist sonderbar,« sagte er, »denn die Götter befahlen mir im Traum, daß ich Lapai opfern müsse.«

Er warf einen schnellen Seitenblick zu Ussuf hinüber, denn dieser Araber war der einzige in der ganzen Stadt, der dieses einsame verworfene Weib, dem jeder Tag zur Hölle gemacht wurde, nicht verächtlich behandelte.

Auf des Königs Befehl mußte sie jeden Tag zweimal zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang durch die Stadt gehen, und nach einer Laune des Königs mußte sie jeder, der ihr begegnete, verfluchen; und obwohl das Gedächtnis der Eingeborenen kurz ist und die Erinnerung an jene Tragödie im Schwinden war, fürchteten die Leute den König viel zu sehr, um sie ohne förmliche Verwünschung vorbeigehen zu lassen.

Ussuf allein war mit ihr gegangen, und den Leuten stand der Verstand still, als sie den freundlichen Araber an ihrer Seite sahen.

»Du kannst das Weib haben und sie zu dir in dein Haus nehmen«, sagte der König plötzlich.

Des Arabers ruhiges Auge wandte sich dem lauernden Gesicht des anderen zu.

»Herr,« sagte er, »sie ist nicht meines Glaubens, da sie eine Ungläubige ist und eine Ketzerin und nach dem Gebot meiner Götter unwürdig.«

Er war sich der Gefahr bewußt, in die ihn seine undiplomatische Freundschaft gebracht hatte. Er wußte auch, die Herrschaft eines ersten Ministers war selten von langer Dauer.

Er war weniger unersetzlich geworden, als er es gewesen war, denn der König hatte etwas von seinem verlorenen Vertrauen in die Ergebenheit seines Volkes wiedergewonnen. Überdies hatte Ussuf bei den Akartis Verdacht erregt, und das war unheilvoll.

Der König entließ ihn, und Ussuf ging nach seiner Hütte zurück, in der er sein Gefolge von sechs Arabern antraf.

»Ahmed,« sagte er zu einem von ihnen, »es steht geschrieben in der Schrift, daß das Leben des Menschen sehr kurz ist. Nun ist es mein höchst persönlicher Wunsch, daß es nicht kürzer sein soll als die Tage, die Gott mir geschenkt hat. Deshalb sei morgen bereit, diese Stadt zu verlassen, denn ich spüre das Ende meiner Macht.«

Er stand am nächsten Morgen früh auf und ging zu dem Palaver, mit dem der Tag gewöhnlich begann. Es beunruhigte ihn nicht, als er entdeckte, daß sein Sitz, der ihm für gewöhnlich zur Rechten des Königs vorbehalten war, von einem unbedeutenderen Häuptling besetzt und sein eigener Sessel vier Sitze weiter unten zur Linken aufgestellt war.

»Ich habe mit meinen weisen Ratgebern gesprochen«, sagte der König, »und mit meinen Zauberdoktoren. Und diese weisen Männer haben gesehen, daß die Ernte schlecht ist, und daß kein Segen auf dem Lande ruht. Und darum wollen wir ein großes Opfer bringen.«

Ussuf neigte sein Haupt.

»Nun meine ich,« fuhr der König langsam fort, »da ich mein Volk lieb habe und ich nicht, wie es sonst Sitte ist, irgendwelche junge Mädchen für den Scheiterhaufen und das Schlachten nehmen will, wäre es gut für alle, wenn ich das Weib, die Lapai, dazu bestimme.«

Aller Augen richteten sich auf Ussuf. Dessen Gesicht war ruhig und unbewegt.

»Auch höre ich,« sprach der König weiter, »schreckliche Dinge, die meinen Magen mit Kummer füllen.«

»Herr,« gab Ussuf ruhig zurück, »auch ich höre viele Dinge. Aber ich bin weder traurig noch froh darüber, denn solche Geschichten gehören zu den Weibern am Kochtopf und zu Männern, die infolge Erkrankung nicht ganz zurechnungsfähig sind.«

N'raki schnitt ein hämisches Gesicht.

»Weiber oder Verrückte,« sagte er barsch, »man sagt, daß dich dieses Weib bezaubert hat, und daß du etwas gegen dieses Land im Schilde führst; daß du heimlich Boten an ›Sie‹ gesandt hast, und daß du große Heere gegen meine Krieger herbeiholen willst, die mein Land auffressen, wie das Sandi mit den Akasavas und den Ländern des Großen Königs getan hat.«

Ussuf sagte nichts. Aus vielen Gründen wollte er das nicht abstreiten.

»Wenn der Mond aufgeht,« wandte sich der König ganz allgemein an die Versammlung, »werdet ihr die Lapai an den Pfahl vor meinem königlichen Hause binden, und alle jungen Mädchen sollen tanzen und Lieder singen, denn das Glück wird zu uns kommen, wie es in den Tagen unserer Väter gekommen ist, wenn ein böses Weib starb.«

Ussuf hielt seine Bewegungen an diesem Tage nicht geheim. Zuerst ging er in seine Hütte am Ende der Stadt und redete zu den sechs Arabern, die mit ihm dieses Königreich betreten hatten.

Zu dem Vormann sprach er: »Ahmed, wir leben in einer Zeit, wo der Tod jedem von uns sehr nahe ist. Sei bereit, bei Mondaufgang zu sterben, wenn es sein muß! Aber da uns allen das Leben kostbar ist, sei bei Sonnenuntergang an der kleinen Pflanzung am Stadtrand, sobald die Nacht beginnt und das Volk zum Opferfest hereinkommt!«

Er verließ sie und ging durch die breite, von Palmen beschattete Straße der Akartistadt, bis er zu der einsamen Hütte kam, wo das ausgestoßene Weib wohnte. Es war eine Hütte von der Art, wie die Akartileute sie für die errichteten, die im Sterben lagen, damit kein Wohnplatz durch den Verwesungsgeruch belästigt würde. Das Weib war im Begriff, ihren täglichen Büßgang anzutreten. – Sie war ein stattliches hübsches Weib und beobachtete das Näherkommen des Ministers ihres Königs, ohne in ihrem Gesicht die Qualen zu zeigen, die ihre Brust zerfleischten.

»Lapai,« sagte Ussuf, »in dieser Nacht veranstaltet der König ein Opferfest!«

Er gab keine weitere Erklärung, noch forderte das Mädchen eine solche.

»Wenn er sein Opfer früher gebracht hätte,« antwortete sie sehr gefaßt, »wäre er sehr gütig gewesen, denn ich bin ein sehr unglückliches Weib.«

»Das weiß ich«, sagte der Araber leise.

»Das weißt du nicht«, verbesserte sie ihn. »Ich hatte Kummer, weil ich einen Mann liebte und ihn ins Verderben riß. Ich hatte Kummer, weil ich mein Volk liebe, und weil sie mich hassen. Und nun bin ich unglücklich, weil ich dich liebe, Ussuf, und weil diese Liebe mächtiger ist als sonst eine.«

Er sah sie an; ein sonderbares Mitleid stand in seinen Augen, und seine dünnen braunen Hände berührten ihre Schultern.

»Alle Dinge liegen in Gottes Hand,« sagte er, »ich kann dich nicht lieben, Lapai, obwohl ich von Mitleid für dich erfüllt bin, denn du bist nicht von meiner Rasse, und auch noch aus anderen Gründen nicht. Aber, weil du ein Weib bist, und gewisser Lehren halber, die ich in meiner Jugend erhalten habe, will ich dich aus der Stadt bringen und, wenn es erforderlich ist, auch für dich sterben.«

Er folgte ihr mit den Blicken, als sie langsam in der Richtung ging, wo sie das Volk von Akarti in krankhafter Neugier erwartete, denn des Königs Absicht war kein Geheimnis geblieben. – Dann zuckte er hilflos seine Schultern.

Als die Amazonenwache und der alte König gegen neun Uhr kamen, um sie zum Opfertod abzuholen, war sie verschwunden, ebenso Ussuf und seine sechs Araber. Wütend rasselte des Königs Lokoli einen Aufruf an das ganze Volk, ihm dieses Weib und diesen Mann in die Hände zu liefern.

* * *

Sanders war um diese Zeit hinter einem langen Manne her, der O'Fasa hieß. O'Fasa hatte seit zwölf Monaten die Schlafkrankheit und hatte sich aus einem sanften Ehemann und gütigen Vater in ein brutales Vieh verwandelt. Er hatte sein Weib gespeert, die Haußawache niedergemacht, die Sanders zur Aufrechterhaltung des Friedens im Dorf zurückgelassen hatte, und war in den Wald geflohen.

Ein Wahnsinniger ist ein König, der seine Untertanen im Banne der Furcht hält, und da in diesem Gebiet für zwei Könige kein Raum war, kam der Bezirksamtmann schleunigst den Fluß herauf, landete eine Kompanie schwarzer Infanterie und folgte den verheerenden Spuren des Wahnsinnigen.

Nach acht Tagen stieß er auf O'Fasa, den langen Mann. Der lehnte mit dem Rücken an einem Gummibaum, seine schön polierten Speere neben sich, und sang den Totensang der Isisis, einen langen, tiefen, klagenden, traurigen Sang, der folgendermaßen in Knüttelverse übersetzt werden könnte:

Leben ist ein Ding so klein,
Kann für viele nicht sichtbar sein.
Tod ist so weise eingericht',
Man kriegt ihn, wie sehr auch vermummt, zu Gesicht.
Ein Sohn des Lebens ist der Tod,
Sein Lieblingsweib ist Schmerz und Not.

Sanders schritt, seine Selbstladepistole in der Hand, langsam über die Lichtung.

O'Fasa sah ihn an und lachte.

»O'Fasa,« sagte Sanders leise, »ich besuche dich, weil mein König gehört hat, du seiest krank.«

»O, Ko!« lachte der andere, »ich muß ein großer Mann sein, daß Könige ihre Boten zu mir senden.«

Sanders ging, die Augen ständig auf die Speere gerichtet, vorsichtig vorwärts.

»Komm mit mir, O'Fasa!« sagte er.

Der Mann sprang auf. Er versuchte nicht, die Speere zu ergreifen. Auf einmal bückte er sich, machte Kehrt und lief schnell nach dem Inneren des Waldes zu. Sanders erhob seine Pistole und zauderte – gerade eine Sekunde zu lange. Er vermochte es nicht über sich, den Mann zu töten, obwohl dieser das Leben seiner Mitmenschen und den Frieden des Landes in Gefahr bringen würde, wenn er ihn am Leben ließ.

Der Bezirksamtmann befand sich in einer mißlichen Lage. Zehn Meilen entfernt lag der enge Paß, der in das Gebiet N'rakis führte. Wenn er eine bewaffnete Schar durch diese Öffnung führte, dann würde das Verwicklungen nach sich ziehen, die zu vermeiden seine Pflicht und sein Wunsch waren. Die einzige Hoffnung bestand darin, daß O'Fasa umkehren würde, denn die Spur, die sie verfolgten, ließ wenig Zweifel über die Richtung, in der er verschwunden war. Mit dem nicht irrenden Instinkt des gejagten Wildes hatte er die Richtung nach dem Passe eingeschlagen.

Sie kamen gegen Sonnenuntergang an die mit Palmen bestandene Schlucht, die feucht von rieselnden Wassern war, und lagerten sich. Sie fanden die Spur des verfolgten Mannes, verloren sie und nahmen sie von neuem auf. Bei Tagesanbruch stieß Sanders mit zwei Leuten durch den engen Paß vor und gelangte in das verbotene Gebiet. Aber nirgends fand er ein Zeichen des Flüchtlings.

Sanders' Lokoli rasselte vier dringende Botschaften in die Luft. Sie waren an einen gewissen Grayson Smith gerichtet, der möglicherweise dort in der Nähe sein konnte. Aber, wenn dieser die Botschaft erhalten hatte, eine Antwort sandte er nicht.

Nun haben Wahnsinnige und Kinder eine tiefgewurzelte Abneigung gegen ihnen unbekannte Plätze, und Sanders baute darauf und legte seinen Hinterhalt in den engen Teil der Schlucht. Früher oder später würde O'Fasa zurückkehren. Auf jeden Fall wollte Sanders ihm vier Tage opfern.

So standen die Dinge, als der ehemalige Minister Ussuf mit einem Weibe und fünf Arabern auf die Schlucht zulief, mit den schnellen und unermüdlichen Wächtern des Königs auf ihren Fersen.

Dreimal hatte der Araber Halt gemacht, um seine Verfolger abzuschlagen, und in einem dieser Scharmützel hatte er seinen einzigen Verlust erlitten und einen Araber seines Gefolges tot auf dem Platze gelassen.

Die Schlucht war in Sicht, als ein Kriegshaufen aus dem Norden, durch die Sprechtrommel herbeigerufen, auf seine Linke herunterfegte und seinen Rückzug wirkungsvoll abriegelte. Ussuf nahm seine Stellung auf einem kleinen felsigen Hügel ein. Seine rechte Flanke wurde durch sumpfiges Land geschützt, während linke Flanke und Rücken ungedeckt waren.

»Lapai,« sagte er, als er seine Lage übersehen hatte, »es scheint mir, daß der Tod, nach dem du dich sehnst, sehr nahe bevorsteht. Es tut mir zwar leid um dich, aber, Gott weiß, daß mein Kummer wenig dazu tun kann, dich zu retten.«

Das Weib sah ihn mit festem Blick an.

»Herr,« sagte sie, »ich bin sehr froh, wenn wir, du und ich, zusammen in die Unterwelt fahren, denn in einer neuen fremden Welt könntest du mich vielleicht lieben, und ich wäre damit zufrieden.«

Ussuf lachte und ließ mit aufrichtigem Vergnügen zwei Reihen geradgewachsener weißer Zähne sehen.

»Das wird sich finden!« sagte er.

Der Angriff geschah fast gleichzeitig. Aber die Büchsen der sechs wiesen den Sturmangriff zurück. Nach Verlauf der nächsten zwei Stunden stand die kleine Abteilung unversehrt. Dann folgte ein zweiter Angriff. Einer von der arabischen Wache sank mit einem Pfeil in der Kehle nieder. Aber Ussufs Schießen wirkte, und wieder zog das nördliche Regiment ab.

Vor dem Hügel und in der Richtung aus Akartistadt befand sich die Leibwache des Königs. Von dort her erwartete Ussuf den letzten vernichtenden Angriff.

»Lapai,« sagte er, indem er sich nach ihr umwandte, »ich ...«

Das Weib war verschwunden. In der Hitze der Verteidigung hatte er nicht bemerkt, wie sie von ihm wegglitt. Plötzlich tauchte sie auf halbem Wege hügelabwärts auf und wandte sich nach ihm um.

»Komm zurück!« rief er.

Sie hielt ihre beiden Hände in Form eines Sprachrohrs vor den Mund, damit ihre Stimme weitertrüge. In der stillen Abendluft kam jedes Wort deutlich heraus.

»Lord,« rief sie, »so ist's am besten, denn wenn sie mich haben, wird man dich laufen lassen. Und eines Tages wird der Tod auch zu dir kommen, und dann werde ich auf dich warten.«

Sie wandte sich um und lief schnell hügelabwärts auf die dicken Linien der unten befindlichen Krieger zu.

Da plötzlich erschien, wie aus dem Boden gezaubert, eine lange, schlanke Gestalt mitten im Weg. Lapai zögerte einen Augenblick. Der Mann warf sich auf sie und nahm sie ohne Anstrengung in seine Arme.

Ussuf erhob seine Büchse und zielte auf sie, aber er wagte nicht, zu schießen.

Noch ein anderer interessierter Zuschauer hatte sich eingefunden. König N'raki, ein rachsüchtiger Mann und trotz seiner Jahre sehr behende, war so eifrig wie die jüngsten seiner Krieger gefolgt, stand jetzt inmitten seiner Ratgeber und beobachtete den Vorgang am Hügel.

»Was ist das für ein Mann?« fragte er, »denn ich sehe, es ist keiner aus unserem Volke.«

Ehe die Boten, die er absenden wollte, ihre Weisung erhalten konnten, kam der große Mann, der leicht mit seiner Bürde dahinschritt, auf ihn zu gelaufen und legte ein totes Weib vor des Königs Füße.

»Mann!« sagte er frech, »ich bringe dir dieses Weib, das ich getötet habe, weil mir ein böser Geist das befohlen hat.«

»Wer bist du?« fragte N'raki, »ich sehe, du bist ein Fremder.«

»Ich bin ein König,« antwortete O'Fasa, der Lange, »größer als alle Könige, denn hinter mir kommt das Heer der Weißen.«

Der Humor, der in dieser verworrenen Wahrheit lag, dämmerte ihm plötzlich, denn er brach in einen Anfall unbezähmbaren Gelächters aus.

»Du hast die Heere der Weißen hinter dir?« wiederholte N'raki langsam und sah nervös von einer Seite zur anderen.

»Siehe!« antwortete O'Fasa, und streckte seine Hand aus.

Des Königs Augen folgten der Richtung der Hand. Weit weg, über die nackte Ebene sah er schwarze Punkte von Männern in regelmäßigen Zwischenräumen vorrücken. Die sinkende Sonne ließ die Bajonette von Sanders' kleiner Macht erglänzen. Der Bezirksamtmann hatte das Feuern gehört und das übrige erraten.

»Es ist ›Sie‹«, sagte König N'raki und blickte wütend auf O'Fasa, den Langen.

Schnell drehte er sich nach seiner Leibwache um. »Tötet den Mann!« befahl er.

* * *

Sanders zog seine halbe Kompanie Haußas nach dem Hügel heran, und Ussuf begegnete ihm auf halbem Wege.

»Ich hörte Ihre Büchsen«, sagte er. »Haben Sie so einen langen Kerl gesehen? Von einem wilden und kühnen Aussehn?«

Sanders sprach englisch, und Ussuf antwortete in derselben Sprache.

»Einen langen Kerl?« fragte er, und Sanders wunderte sich ein wenig, daß ein Mann, der so schwer aus der Ruhe zu bringen war, wie Grayson Smith vom Kolonialen Nachrichten-Dienst, so beim Sprechen zittern konnte.

»Ich glaube, er ist hier«, sagte der Engländer in dem arabischen Gewand und ging den Weg hügelabwärts voran.

N'rakis Kriegsheer war schnell abgezogen. Die Furcht vor »Sie« war in ihrer Wirkung größer als alle seine Legionen.

Die Engländer bahnten sich den Weg zu der Stelle, wo zwei Gestalten den stillen Schlaf des Todes schliefen.

»Wer ist das Weib?« fragte Sanders.

»Eine Eingeborene, die mich liebte«, sagte Grayson einfach; er bückte sich und schloß die Augen des Mädchens, das ihn so geliebt hatte.

* * *


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