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IX.
Der Kichu.

Der Bote Sokolas, des Häuptlings des Zwergvolkes im Urwald, stand auf. Er war ein häßlicher kleiner Kerl, vier Fuß lang und untersetzt und sehr dürftig bekleidet, nämlich nur mit einem kleinen Lendenschurz aus Gras. Sanders betrachtete ihn nachdenklich; der Bezirksamtmann kannte das Buschvolk sehr wohl.

»Du wirst deinem Herrn sagen, daß ich, der ich dieses Land für meinen König regiere, ihm dessen Gnadenbeweis in Gestalt von Reis und Salz und Zeug gesandt habe, und daß dein Herr bei seinem Tode geschworen hat, Frieden im Urwald zu halten. Ein weiteres Geschenk werde ich ihm nicht geben.«

»Herr,« unterbrach ihn der kleine Buschmann wütend, »er bittet Deine Lordschaft nur um ein Stück Zeug, um sich ein feines Gewand zu machen, und um zehntausend Glasperlen für seine Weiber, dann wird er dir für immer untertan sein.«

Sanders zeigte seine Zähne in einem Lächeln, worin man kein Vergnügen entdecken konnte. »Er wird mir untertan sein«, sagte er bedeutungsvoll.

Die Füße des Buschmannes schaufelten nervös im Sande.

»Herr, es wird mein Tod sein, wenn ich deine stolze Botschaft zu unserer Stadt zurückbringe, denn wir selbst sind ein stolzes Volk, und Sokola besitzt größeren Stolz als irgendein anderer.«

»Das Palaver ist aus!« sagte Sanders, und der kleine Mann stieg die hölzernen Stufen herab, die zu dem sandigen Gartenpfad führten. Er wandte sich, indem er seine Augen vor der allzuhellen Sonne nach Art der Buschvölker beschattete; denn diese Leute leben in dem feierlichen Halbdämmerlicht der Wälder und lieben die brennende Glut des Tagesgestirns nicht.

»Herr,« sagte er ängstlich, »Sokola ist ein schrecklicher Mann, und ich fürchte, daß er seine Speere zum Morden brauchen wird.«

Sanders seufzte gelangweilt und steckte beide Hände in die tiefen Taschen seines weißen Jacketts.

»Dann werde auch ich meine Speere zum Morden brauchen!« antwortete Sanders. »O, Ko! Bin ich ein Ochori, daß ich das Schnattern eines Waldmenschen fürchten soll?«

Noch immer zögerte der Mann.

Er stand und wog einen leichten Speer auf der Fläche seiner Hand, wie einer, der mit seinen Gedanken beschäftigt ist, mit etwas spielt, das im Bereich seiner Hand liegt. Zuerst drehte er den Speer langsamer, dann wirbelte er ihn immer schneller zwischen Daumen und Finger.

»Ich bin der Diener Sokolas!« sagte er einfach.

Wie ein Blitz holte sein dünner, brauner Arm weit aus, der Speer lag wagrecht und steif in der Luft.

Sanders feuerte dreimal mit seiner Selbstladepistole, und der Bote des stolzen Häuptlings Sokola taumelte seitwärts nieder wie ein Betrunkener.

Sergeant Abiboo sprang, einen Revolver in der Hand, durch das Fenster des Bungalows. Er fand seinen Herrn, wie dieser sein glimmendes Uniformjackett auszog – man kann nicht ungestraft durch seine Tasche hindurchschießen –, und die zusammengebündelte Gestalt des gefallenen Waldmenschen mit nachdenklichem Stirnrunzeln betrachtete.

»Bringt ihn ins Krankenhaus! Ich glaube nicht, daß er tot ist.«

Sanders hob den Speer auf und prüfte die Spitze.

Auch nur die leiseste Verletzung damit hätte Genickstarre zur Folge gehabt, denn diese Leute sind sehr bewandert im Gebrauch von Tetanusgift.

Das Lager wurde alarmiert. Leute waren von den Haußabaracken herüber gekommen und hatten eine rohe Bahre gefertigt, um das, was übrig war von dem Buschmann, hinwegzuschaffen.

Da Sanders auf diese Weise mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt war, hatte er keine Zeit, um auf die Ankunft des Postdampfers und auf das Landen Mr. Holds zu achten.

Dieser dicke Amerikaner füllte den einzigen bequemen Sitz des Brandungsbootes vollkommen aus, aber er rief seine Familiengötter an, die Gefährlichkeit seines Sitzes zu bezeugen.

Er war in einen weißen Anzug gekleidet, der mit großen grauen Flecken von Seewasser unregelmäßig bespritzt war, denn die Kruleute, die die Paddeln handhabten, hatten weder die Erfahrung noch den federnden Strich einer Harvard-Achter-Mannschaft und arbeiteten auch nicht gleichmäßig. Im Gegensatz zu ihnen war er groß, breit und dick; sein Gesicht war glatt rasiert; dabei hatte er eine Zigarre fast quer im Mundwinkel.

Dennoch, alles in allem war er ein umgänglicher Mann, oder seine Gesichtszüge mußten schauderhaft lügen.

Als er sich dem langen gelben Strande näherte, wo die Wasser unaufhörlich mit dem fruchtlosen Versuch beschäftigt sind, eine Mauer aus Seewasser zu errichten, hörten seine Vergleiche mit seinen heimatlichen Verhältnissen auf, und er beschränkte sich auf ängstliche »Huhs«.

»Huh!« grunzte er, als das Boot wie ein Spielzeug auf einer Sturzwelle in die Luft geschleudert wurde. »Huh!« sagte er, als eine andere gewaltige Welle von der Höhe eines neunten Stockwerkes bis auf ein wässeriges Untergeschoß zusammenfiel. »Huh – oh!« rief er aus, aber es ereignete sich kein Unglück, als das Boot von watenden Leuten vom Lande aus erfaßt und in Sicherheit gezogen wurde.

Der dicke Ben Hold rollte an Land und stand endlich auf festem Boden; unterdessen sah er grollend über die zwei Seemeilen Ozean, die ihn vom Dampfer trennten.

»Müßten 'n Dock hier bauen!« knurrte er.

Er überwachte mit einem argwöhnischen Auge das Ausladen seines Eigentums, indem er die Gepäckstücke mit einem Stück grüner Kreide bezeichnete, das er aus seiner Westentasche ausgegraben hatte. Schließlich fand er, daß eins der Gepäckstücke fehlte. Das wichtigste von allen noch dazu!

»Ist es dieses? Nein! Ist es das? Nein! Ist es jenes? Ah, ja! Das ist es.«

Er saß darauf.

»He!« sagte ein höflicher Krumann, »Sie zu dem Sandi wollen? Ihr finden ihm?«

»Sprich«, sagte Mr. Hold, »ich hab dich nicht ganz begriffen. Ich will zum Bezirksamtmann! Zu dem Englishman! Verstehst du?«

Dann überschritt er das saubere und tadellose Gehöft des großen kühlen Bungalows, wo Herr Bezirksamtmann Sanders von seiner schattigen Veranda aus das Herannahen des Ankömmlings, ohne gerade davon entzückt zu sein, beobachtete.

Denn Sanders hatte eine Abscheu vor weißen Fremden. Sie brachten immer einen Umsturz mit sich, hatten verrückte Ideen, wollten eine Eskorte durch Landstriche haben, in denen sich das natürliche Verlangen nach Krieg und eine unnatürliche Furcht vor etwaigen Maßregelungen des Gouvernements scharf die Wage hielten.

»Freut mich, Sie zu sehen! Boy, schieb den Stuhl hier längs! Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Mr. Hold setzte sich vorsichtig.

»Wenn ein Mann zweihundertundachtunddreißig Pfund wiegt,« knurrte der dicke Benjamin vergnügt, »dann setzt er sich mit Vorsicht, wie einer meiner holländischen Freunde sagt.« Er stieß einen langen und tiefen Seufzer der Erlösung aus, als er sich in dem Stuhl zurechtgesetzt und herausgefunden hatte, daß dieser sein Gewicht ohne das leiseste Krachen aushielt.

Sanders wartete, mit einem vergnügten Zwinkern im Auge.

»Möchten Sie was zu trinken haben?«

Mr. Hold hielt feierlichst seine Hand hoch. »Führen Sie mich nicht in Versuchung!« sagte er beschwörend. »Ich muß Diät halten – ich sehe doch nicht aus wie einer, der verrückt auf Futter ist. Oder doch?«

Er suchte mit Mühe etwas in der Innentasche seines Rockes. Sanders fühlte den unwiderstehlichen Trieb, ihm dabei zu helfen. Anscheinend hatte der Schneider Mr. Holds diesen in einer unverantwortlich unschönen Weise zum besten gehalten dadurch, daß er die Innentasche weit außerhalb des Bereiches seiner kurzen Arme angebracht hatte.

»Hier ist er!«

Der dicke Ben übergab Sanders einen Brief. Der Bezirksamtmann öffnete ihn, las ihn sehr aufmerksam und gab ihn seinem Eigentümer zurück. Dabei lächelte Sanders ein an ihm ganz ungewohntes Lächeln; denn Sanders war nicht leicht zum Lächeln zu bringen.

»Sie erwarten, den Kichu hier zu finden?« fragte Sanders.

Mr. Hold nickte.

»Ich habe ihn niemals gesehen«, gestand Sanders. »Gehört habe ich von ihm; ich habe darüber gelesen, und ich habe Leute darüber angehört, die durch meinen Bezirk gereist sind, und die mir erzählt haben, sie hätten ihn gesehen, und zwar – mit Geringschätzung – fürchte ich.«

Der dicke Ben beugte sich vornüber und legte seine große Hand ernst auf des anderen Knie.

»Ich sage, Mr. Sanders, Sie haben wahrscheinlich von mir gehört. – Ich bin der dicke Ben Hold. – Jeder kennt mich, vom Stillen bis zum Atlantischen Ozean. Ich besitze das größte Unternehmen in Zirkussen und in Ausstellungen von wilden Bestien, das die Welt jemals gesehen hat. Mr. Sanders, ich habe Geld gemacht, und ich bin aus dem Zirkus- und Menagerieunternehmen für eine Million Jahre heraus, aber ich will den Monkey – den Affen Kichu – sehen.«

»Aber ...«

»Halten Sie sich fest!« Des dicken Ben Hand hielt den anderen fest. »Mr. Sanders, ich habe Geld aus dem Kichu gemacht. Barnum machte seins aus Meerjungfrauen, aber mein Zugstück war der schwanzlose Kichu, der Affe, der dem Menschen so ähnlich ist, daß kein Ratsherr sich in die Nähe seines Käfigs wagen durfte, aus Furcht, die Leute könnten glauben, der Kichu sei entschlüpft. Ich bin auf den Kichu gereist von Seattle bis Portland, von Buffallo bis Arizonastadt. Ich habe eine Kompanie Militär gebraucht, um die Mengen in Schach zu halten, die den Kichu sehen wollten. Ich habe eine Rotte Polizisten herbeigerufen, um mich vor einer wütenden Bevölkerung zu schützen, weil der Kichu nicht ganz mustergetreu ausgefallen war. Einige meiner früheren Kichus sind jetzt Familienoberhäupter und Hypothekengläubiger im mittleren Westen. Ferner gibt's Kichus, die Eastside-Gastwirtschaften mit Gewinn für sich selbst und ihre Gecken von Söhnen betreiben, ferner ...«

»Ja, ja, freilich!« Sanders lächelte von neuem. »Aber warum ...?«

»Lassen Sie mich Ihnen das erzählen, Herr!« Der dicke Ben hielt seine beringte Hand hoch. »Ich bin jetzt raus aus dem Geschäft – gut! Aber, Mr. Sanders, ich habe ein Gewissen.«

Er legte seine große Hand auf sein Herz und dämpfte seine Stimme. »In neuerer Zeit habe ich mich wegen dieses alten Kichu gegrämt. Ich habe mir eine prächtige Villa in Boston gebaut. Ich habe mich mit allem erdenklichen Luxus umgeben; aber ich höre immer eine leise Stimme, die die gegen jedes Geräusch dichten Wände meines Schlafzimmers durchdringt; die in das Schweigen meines türkischen Bades Zugang findet – und diese Stimme spricht: ›Dicker Ben Hold – es gibt keine Kichus! Du bist ein Betrüger! Du bist ein Schwindler! Du bist ein Grünzeughändler! Du wälzest dich in Reichtümern, die du durch Betrug gewonnen hast.‹ – – – Mr. Sanders, ich muß den Kichu sehen; ich muß einen wirklichen Kichu haben, und wenn ich mein ganzes Vermögen opfern sollte, um einen zu kriegen.« Er ließ seine Stimme von neuem sinken: »Selbst wenn ich bei diesem Versuch mein Leben lassen sollte.«

Er starrte Sanders mit düsterem Ernst an. Der Bezirksamtmann betrachtete ihn nachdenklich. Und von Mr. Hold wanderten seine Augen hin zu dem kiesbestreuten Pfade draußen, und der dicke Amerikaner, der Sanders' Augen in der Richtung folgte, sah einen dunklen Flecken.

»Irgend jemand Farbe vergossen?« flüsterte er.

»Ich hatte ...«

Sanders schüttelte den Kopf.

»Das ist Blut!« sagte er einfach.

Mr. Hold fuhr zusammen.

»Ich habe eben einen Eingeborenen erschossen«, sagte Sanders im Tone der Unterhaltung. »Er war zu erpicht darauf, mich zu speeren, und ich war erpicht darauf, nicht gespeert zu werden. So erschoß ich ihn.«

»Tot?«

»Nicht ganz«, erwiderte der Bezirksamtmann. »Die Sache ist die: ich glaube, es war dicht daran. Jetzt ist er in Behandlung eines indoeuropäischen Doktors, und wenn es Sie interessiert, will ich Sie wissen lassen, wie es ihm geht.«

Der Zirkusmann holte tief Atem. »Das ist ja ein niedliches Land hier!« meinte er.

Sanders nickte. Er rief seine Diener und gab Anweisung, seinen Besucher gut unterzubringen.

Eine Woche später schiffte sich Mr. Hold nach dem oberen Flusse ein, unter Äußerung lebhafter Mißbilligung, denn das Kanu, das ihm Sanders zur Verfügung gestellt hatte, erschien ihm, gelinde gesagt, seinen Körperverhältnissen nicht angemessen.

Um diese Zeit herum erfreuten sich die Ochoris bei ihren Nachbarstämmen einer gewissen Unbeliebtheit, und eine kleine Epidemie von Aufstand und Fehde hatte das Interesse des Bezirksamtmannes an seinen aufsässigen Völkern in Anspruch genommen.

Als erste fochten die N'gombileute gegen die Ochoris; dann zog das Isisivolk gegen die Akasavas wegen eines Weiberpalavers, und die Ochoris befehdeten die Isisileute. Zwischendurch bekämpften die Zwerg-Buschleute jeden, indem sie sich auf den Umstand verließen, daß sie im Urwald wohnten und vergiftete Pfeile gebrauchten.

Sie waren ein scheues, aber anmaßendes Volk; sie versahen ihre Pfeile mit Tetanusgift, so daß alle, die dadurch verwundet wurden, nach vielen qualvollen Stunden an Starrkrampf verschieden.

Sie waren damit beschäftigt, die Ochoris einzuschüchtern, als Bezirksamtmann Sanders, der nicht übermäßig beunruhigt war, mit fünfzig Haußas und einem Maximgeschütz anrückte; und obwohl die Leute des Zwergvolkes schnell waren, konnten sie doch nicht so schnell laufen, wie ein Maschinengewehr-Kugelregen dahinbraust, und sie erlitten einige Verluste.

Damals sprach Timbani, der kleine Häuptling der Kleineren Isisis, zu seinem versammelten Volke: »Laßt uns die Ochoris bekämpfen, denn sie sind frech, ihr Häuptling ist ein Fremdling und verdient keine Achtung!«

Und die Krieger dieses Stammes erhoben ihre Hände und riefen: »Wa!«

Timbani führte tausend Speere ins Ochoriland und wünschte bald, er hätte eine andere Art gewählt, sich an jenem schwülen Morgen die Zeit zu vertreiben; denn während er das Kisidorf verbrannte, fiel ihm Sanders mit geradezu boshafter Behendigkeit vom Wald aus in die Flanke.

Zwei Kompanien Haußas schossen mit beträchtlicher Genauigkeit auf zweihundert Yards Entfernung, und als die Speere auf einen Haufen geschichtet lagen und die Gefangenen ergeben, aber neugierig, in einem Kreise bewaffneter Wachen herumhockten, sah Timbani ein, daß dies ein schwarzer Tag in seiner Geschichte war.

»Ich sah nur das eine, Herr, daß Bosambo mich zu einem betrübten Mann gemacht hat. Denn wenn es nicht wegen seines Wohlstandes gewesen wäre, hätte ich niemals meine Leute gegen ihn geführt, und ich säße nicht hier vor Deiner Lordschaft und fragte mich nicht, welches von meinen Weibern am meisten um mich trauern wird.«

»Was das anbetrifft, Timbani,« sagte Sanders, »so habe ich kein Mittel, das in Erfahrung zu bringen. Aber später, wenn du in der Stadt der Ketten arbeiten wirst, werden Leute kommen und es dir sagen.«

Timbani holte tief Atem. »Dann wirst du mich also nicht hängen, Herr?«

»Ich hänge dich nicht, weil du ein Narr bist. Ich hänge wohl Bösewichter, aber Narren schicke ich ins Zuchthaus.«

Der Häuptling grübelte. »Ich bin der Meinung, Mr. Sandi, daß ich mich lieber für eine Schurkerei gehängt werden als für eine Torheit leben sehen möchte.«

»Hängt ihn!« befahl Sanders, der sich in einer entgegenkommenden Stimmung befand.

Aber als der Strick über den Ast eines Baumes geworfen wurde, änderte Timbani seine Ansicht und zog es vor, ein schimpfliches Dasein hinzuschleppen. Und darin tat er sehr klug, denn wo Leben ist, da ist auch Freiheit, wenn die Umkehrung des Sprichwortes einmal gestattet ist.

Timbani, der Titularhäuptling der Kleineren Isisis, marschierte also in die Stadt der Ketten und fand dort angenehme Gesellschaft und überdies mehrere Vorgänger im Amt, denn die Isisis sind berüchtigt dafür, daß sie in der Wahl ihrer Häuptlinge sehr unvorsichtig sind.

Diese – d. h. sie und ihre Weiber – bildeten ein kleines Gemeinwesen für sich selbst; und am Abend konnte man sie um einen brennenden Kloß Gummiholz herumsitzen sehen, mit ihren roten Decken um die Schultern, und hören, wie sie sich Geschichten ihrer früheren Größe erzählten; und wenn sie eine Bewegung machten, dann gaben die losen Eisenfesseln an ihren Füßen einen musikalischen Klang.

Als eines Nachts die Haußaposten, die auf erhöhten, die Übersicht über das Gefangenenlager beherrschenden Gerüsten auf- und abpatrouillierten, ungewöhnlich nachlässig waren, bewerkstelligte Timbani seine Flucht und verfolgte, so gut er konnte, seinen Weg durch das Land bis zum Urwald. Die Reise nahm zwei Monate in Anspruch; aber Eingeborene sind geduldige Arbeiter, und an einem Frühlingsmorgen stand Timbani, mager, aber muskulös, vor Sokola, dem Häuptling des Zwergvolks.

»Herr!« redete er ihn an, obwohl er alle Buschleute verachtete, »ich bin viele Tage gereist, um dich zu sehen, da ich weiß, daß du der größte aller Häuptlinge bist.«

Sokola saß auf einem roh gezimmerten Stuhl, dessen Schnitzereien Schlangen vorstellen sollten. Sokola war weniger als vier Fuß groß und selbst nach den Begriffen des Zwergvolkes – und diese sind sehr nachsichtig – wenig von der Natur begünstigt. Sein riesiger Schädel, seine kleinen Augen, das Büschel grauer Barthaare unter dem Kinn, die hervorstehenden Backenknochen – alles trug dazu bei, einen Gipfel von Häßlichkeit zu schaffen.

Er war von einer unangenehm auffallenden Beleibtheit und hatte die Gewohnheit, sich an der Wade zu kratzen, wenn er sprach.

Er blinzelte den Eindringling an, denn ein Eindringling war er, wie das die beiden Wächter bewiesen, die rechts und links neben ihm standen.

»Warum kommst du?« krächzte Sokola. Er sagte das mit zwei kurzen Worten, die buchstäblich meinten: »Warum – hier?«

»Herr des Urwalds!« erklärte Timbani schlagfertig, »ich kam, weil ich dein Glück wünsche. Die Ochoris sind sehr reich, denn Sandi liebt sie. Wenn du gegen die Ochoris ziehst, wird es Sandi sehr leid tun.«

»Ich ging zu ihnen, und mir tat es sehr leid«, schnob der Waldmensch bedeutungsvoll.

»Ich habe einen Juju, einen Zauber«, sagte eifrigst Timbani, der von dem Mangel an Begeisterung beunruhigt war. »Der wird euch helfen und wird euch Zeichen geben.«

Sokola maß ihn mit kaltem und berechnendem Blick. So starrten sie einander im Schweigen des Urwaldes an; der entwichene Gefangene mit der Brust voll Haß gegen seinen weißen Gebieter und die kauernde Gestalt auf dem Sessel.

Dann sprach Sokola: »Ich glaube an Teufel! Und ich will deinen Juju versuchen. Denn ich werde dich ein wenig schneiden und dich an meinen Opferbaum binden. Und wenn du bei Sonnenuntergang noch am Leben bist, sieh, dann will ich das für ein gutes Zeichen ansehen und noch einmal ins Ochoriland gehen. Aber wenn du tot bist, dann wird es ein schlechtes Zeichen sein, und dann werde ich nicht kämpfen.«

Als die Sonne hinter dem vergoldeten Grün der Baumwipfel unterging, sah die dumme Masse des Zwergvolkes, die mit gereckten Hälsen und nach oben gewandten Gesichtern dastand, das arme Wrack eines Menschen sich langsam winden.

»Das ist ein gutes Zeichen!« sagte Sokola und schickte Boten durch den Urwald, um seine Krieger zu versammeln. Zweimal warf er eine Wolke von Kriegern ins Ochoriland. Zweimal warfen die Ochorihäuptlinge die Eindringlinge zurück, erschlugen viele und machten Gefangene.

Wegen dieser Gefangenen hatte Sanders, der seine sanften Ochoris kannte, endgültige Weisungen erteilt.

Als die Nachrichten von einem dritten Einfall kamen, gab Bosambo folgenden Befehl.

»Ihr marschiert mit Lebensmitteln für fünf Tage. Alle Gefangenen, die ihr macht, müßt ihr von dem Mais, den ihr mithabt, ernähren! Ihr müßt davon zwei Hände voll an jeden Gefangenen geben und eine Hand für euch selbst nehmen!«

»Aber, Herr,« protestierte der Häuptling, »das ist ja Wahnsinn! Denn wenn wir viele Gefangene machen, dann werden wir selber verhungern.«

Bosambo winkte ihm, zu gehen. »M'bilini,« antwortete er mit Würde, »ich war einmal ein Christ! Genau wie mein Bruder Sandi einmal ein Christ war. Und wir Christen sind sehr freundlich gegen unsere Gefangenen!«

»Aber, Lord Bosambo, wenn wir unsere Gefangenen töten und nicht zurückbringen, wird das doch besser für uns sein«, beharrte der andere.

»Diese Dinge stehen bei den Göttern«, sagte der fromme Bosambo unsicher.

M'bilini zog also gegen das Zwergvolk aus und schlug es. Er brachte ein wohl genährtes Heer zurück, aber keine Gefangenen.

So lagen die Dinge, als der dicke Ben Hold gemütlich den Fluß heraufgepaddelt kam. Sein Kanu hielt dicht unter Land, denn da fließt der Strom weniger stark.

Es war eine lange Reise gewesen, und der große Mann in dem unsauberen Tropenanzug fühlte sich erlöst, als er am Ochoriufer an Land ging und seine Beine ausstrecken konnte.

Er brauchte nicht danach zu fragen, bei welchen von den Leuten, die auf ihn zukamen, sich Bosambo befinde. Denn der Häuptling trug sein rotes Plüschgewand, seinen Zylinderhut, seine Armringe aus Glas und alles übrige Zubehör seiner Würde.

Big Ben war in aller Gemütlichkeit den ganzen Fluß hinaufgefahren und hatte sich mittlerweile an den Verkehr mit den kleinen Häuptlingen gewöhnt.

Sein Dolmetscher begann mit einer unterhaltsamen Rede, aber Bosambo fiel ihm ins Wort.

»Nigger,« sagte er auf englisch. »Du nich snackst'm. Mir snacken'm sein englisch. Mir kennen Lukassen, Markussen, Johannessen, Judas – alle feine Kerle! – Du, Herr,« wandte er sich an den sichtlich überraschten Mr. Hold, »du kommen for mir? Sixpence – Vier Dollar, gud Nacht! Ick lieben dir, Mister!«

Er lieferte seinen ganzen Vorrat von englisch atemlos ab.

»Fein!« sagte Mr. Hold, voller Ehrfurcht und baff.

Er fühlte sich wie zu Hause in dem feierlichen Aufzug, der pomphaft auf die Hütte Bosambos zu marschierte; der Umzug glich aufs Haar einer Zirkusparade.

Bei einem Gericht Fische skizzierte Hold das Ziel seiner Forschung und den Grund seiner Anwesenheit.

Es war eine mühevolle Arbeit, da er den verachteten und scheu gemachten Dolmetscher dazu nötig hatte, bis das Wort »Kichu« fiel. Daraufhin heiterte sich Bosambos Gesicht auf.

»Sah!« unterbrach Bosambo. »Mir kennen dem Snack. Mir machen dem Englisch früher mal gut.«

»Fein!« sagte Mr. Hold dankbar. »Ich krieg' dich schon, Steve.«

»Du sehn dich um nach Kichu,« fuhr Bosambo fort, »du nich finden ihm. Ick kieken ihm. Mir sein Missionar, Christ. Mir kennen Hänschen, den Täufer. Peter ihm haben Kopf abgeschlagen. Verflucht sleckten Kerl. Mir kennen Hölle un all dem feinen Kerls.«

»Sage ihm ...«, begann Big Ben.

»Mir snacken Englisch selbe wie weißen Mann«, sagte Bosambo entrüstet. »Du nich können machen den Kerl snacken läufig –. Mir kennen dem Kichu.«

Der dicke Ben seufzte hilflos. Den ganzen Fluß entlang war die Sage vom Kichu Gemeingut. Jeder wußte von dem Kichu – welche hatten welche gesehen, die ihn gesehen hatten. Er war nicht begeistert davon, daß Bosambo zu diesen Getreuen gezählt werden sollte.

Denn der ehemalige Schaubudenbesitzer hatte um diese Zeit beinahe sein Gewissen eingeschläfert. Es genügte vielleicht schon, daß der Nachweis von der Existenz des Kichus an sich gebracht wurde. Dennoch hätte er es sehr gern gesehen, wenn er eins dieser angeblichen Fabelwesen mit sich nach Amerika nehmen könnte.

Er sah Bilder vor sich von einem zahmen Kichu, der an einen auf seinem Bostoner Rasenplatz stehenden Pfahl gekettet war; von einem Kichu, der in einem vergoldeten Käfig als eine Art Anhang zu seiner Privatmenagerie saß.

»Ich nehme an,« sagte Mr. Hold, »du hast noch keinen Kichu – gesehen! Sage – weeßte – mit den Oogen mein ick?«

Bosambo war im Begriff, zu behaupten, daß der Kichu ein bekanntes Zubehör der Landschaft sei, als ihm ein Gedanke kam.

»Wenn ick dir den Kichu bringe, du mich schenken viele Dollars?«

»Wenn du mir diesen Kichu anbringst,« antwortete Mr. Hold langsam und mit ungeheurem Ernst, »dann bezahle ich dir tausend Dollars.«

Bosambo stand auf. Er war offensichtlich erregt.

»Tausend Dollars?« wiederholte er.

»'n Tausend Dollars,« sagte Big Ben mit der vergnügten Miene eines Menschen, dem der Besitz von tausend Dollars fast wie ein Stückchen Unglück vorkommt.

Bosambo streckte seine Hand aus und lehnte sich an die aus Mattengeflecht bestehende Wand seines Hauses.

»Du machst'm hundert Dollars zehnmal?« fragte er heiser, »du machst'm schriftlich? Buch?«

»Ich mach'm Buch – schriftlich«, antwortete Ben und folgte einer plötzlichen Eingebung, zog ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb sorgsam den Inhalt seines Angebots nieder. Er übergab dem Häuptling das Schriftstück, und Bosambo starrte es verständnislos an.

»Und,« fügte der dicke Ben hinzu, indem er sich verbeugte und das Knie des vor ihm stehenden Häuptlings mit dem goldenen Knopf seines Spazierstockes berührte, »wenn du ...«

Bosambo erhob seine Hand, sein Gesicht lag in feierlichen Falten.

»Herr,« er verfiel in seiner Aufregung in die Landessprache, »und wenn dieser Kichu in einem Dorfe voll Teufel lebt und Geister um seine Hütte wandern, ich bring' dir ihn.«

Am nächsten Morgen verschwand Bosambo; er nahm drei geschickte Jäger mit sich, und wer ihm begegnete, fragte: »He, Bosambo! Wo willst du hin?«

Er antwortete kein Wort. Aber wer sein Gesicht sah, war erschrocken, denn Bosambo war ein Christ gewesen und kannte den Wert des Geldes.

Acht Tage war er abwesend, und Big Ben fand das Leben während dieser Zeit sehr angenehm, denn er wurde mit all der Förmlichkeit behandelt, die das Vorrecht der großen Häuptlinge ist.

Am Abend des achten Tages kehrte Bosambo zurück und brachte den »Kichu« mit.

Big Bens Herz schlug schneller, als er dieses Wunder sah.

»Mein Gott!« rief er, und seine Gottlosigkeit war beinahe verzeihlich.

Denn der Kichu übertraf seine kühnsten Träume. Er sah wie ein Mensch aus und doch wieder nicht. Sein Kopf war beinahe kahl; ein Stück Knüppel, das wie ein Gebiß zwischen seinen Zähnen hervorlugte und grün angestrichen war, vermehrte das wilde Aussehen der Bestie. Seine langen Arme, die ihm fast bis an die Knie reichten, hatten Ähnlichkeit mit Menschenarmen, und die großen krummen Füße, die einen unaufhörlichen Generalmarsch trommelten, sahen schlimmer aus als die eines Tieres.

»Herr!« erklärte Bosambo stolz, »ich habe den Kichu gefunden.«

Das Gesicht des Häuptlings trug Spuren eines scharfen Kampfes; es war zerbeult und zerkratzt. Auch seine Arme zeigten Merkmale von eilig angelegten Wundverbänden.

»Drei Jäger hatte ich mit mir genommen,« sagte Bosambo, »und nur einen habe ich zurückgebracht, denn ich fing den Kichu, als er auf einem Baume saß, und er war sehr wild.«

»Mein Gott!« rief Big Ben von neuem aus und atmete schwer.

Sie bauten einen Käfig für den Kichu; einen Käfig aus schweren hölzernen Stangen, und das seltene Tier wurde vor zudringlichen Blicken der Eingeborenen durch Vorhängen von Zeug geschützt.

Der Kichu stellte sich nicht freundlich zu seiner Gefangennahme. Er heulte und winselte und warf sich gegen die Käfigstangen, und Bosambo folgte seinen Wutausbrüchen mit Anteilnahme.

»Herr!« sagte er, »um das eine bitte ich dich: Nimm den Kichu bald von hier weg! Auch darfst du ihn nicht Sandi zeigen, sonst könnte er zornig werden, weil wir ein so seltenes Ding aus unserem Lande wegschicken.«

»Aber,« wandte Mr. Hold dem Dolmetscher gegenüber ein, »sage dem Häuptling, daß ja gerade Mr. Sanders haben will, daß ich den Kichu fange; he, Bosambo,« wandte er sich an diesen unmittelbar, »Sandi will'em Kichu sehn, verstehste?«

Es war am neunten Tage nach Ankunft des Amerikaners bei Bosambo. Beide saßen vor der Hütte des Häuptlings. Abendfrieden lag über der Stadt, und außer den gequälten Lauten des Gefangenen brach kein Geräusch die Sabbatstille des sinkenden Tages.

Bosambo saß still vergnügt; an seinem Halse baumelte, von einem Bindfaden festgehalten, ein Bündel englischer Banknoten, und in seinem Gemüt herrschte himmlischer Frieden.

Er hatte gerade den Mund geöffnet, um die Eigentümlichkeiten des Bezirksamtmannes zu erläutern, da ...

»Wiff – Snick!«

Etwas zischte an Big Bens Nase vorbei – etwas, das seinen Kopf mit einem weichen Laut in das Gras der Hütte bohrte.

Er sah den zitternden Pfeil, hörte den schrillen Alarmruf und das geifernde Rollen einer fellbedeckten Trommel.

Dann packte eine Hand wie Stahl seinen Arm und schleuderte ihn kopfüber in die Hütte, denn Sokolas Hauptmann war in Person gekommen, um gewisse schimpfliche Beleidigungen zu rächen, und die Ochoristadt war umringt von zwanzigtausend Waldmenschen.

Die Nacht brach herein, und die Lage war verzweifelt. Bosambo war nicht im unklaren darüber. Ein verwundeter Krieger vom Pygmäenvolk fiel in seine Hände – ein wütender kleiner Kerl, der heulte und spuckte und biß um sich wie ein wütendes kleines Tier.

»Brennt ihn, bis er spricht!« befahl Bosambo; aber als der kleine Mann das Feuer sah, gestand er alles – und Bosambo wußte, daß er die Wahrheit sprach.

Der Lokoli (die Sprechtrommel) auf dem hohen Wachturm der Stadt schrie in abgerissenen Wirbeln nach Hilfe, und einige der Dörfler ringsherum antworteten. Bosambo stand am Fuß einer einfachen Leiter und horchte. Von Ost und Süd und Nord kam die Antwort. Vom Westen – nichts. Das Zwergvolk war vom Westen her ins Land hereingefegt, und, wo die Eindringlinge durchgezogen waren, schwiegen die Sprechtrommeln.

Der dicke Ben Hold nahm, eine Selbstladepistole in der Hand, an der Verteidigung der Stadt teil. Die ganze Nacht hindurch brach Angriff nach Angriff vor den Verhauen zusammen, und in der Zwischenzeit spuckte die einzige Feuerwaffe der Verteidiger laut in die Finsternis.

Mit der Morgendämmerung kam ein unrasierter Sanders. Er fegte um die Flußkrümmung, während zwei Hotchkißkanonen verderbenbringend dazwischen knallten. Und das Ende des Buschkrieges kam, als die gesammelten Ochoris den Angreifern in die Flanke fielen und sie dem Feuer der »Zaire« zutrieben.

In diesem Augenblicke warf Bosambo die gesamte Streitmacht der Stadt gegen den Feind. Sanders landete seine Haußas, um die Niederlage zu vervollständigen; er verfolgte seinen Weg unmittelbar in die Stadt und atmete erlöst auf, als er Big Ben am Leben fand; denn Big Ben war ein Weißer und obendrein der Bürger eines fremden Staates.

Der Dicke streckte ihm seine Riesenhand zum Willkommen entgegen.

»Erfreut, Sie zu sehen!« begrüßte er Sanders.

Dieser lächelte. »Den Kichu gefunden?« Es klang höhnisch, und er blickte ungläubig auf, als der andere nickte.

»Hier«, sagte Mr. Hold triumphierend und zog den Vorhang des Käfigs beiseite.

Der Käfig war leer.

»Hölle!« brüllte Big Ben Hold und warf, sich vergessend, seinen Tropenhelm zu Boden.

»Dort ist er!« Er zeigte in der Richtung des freien Feldes, das die Stadt vom Walde trennte. Eine kleine Gestalt lief dort schnell dem Walde zu; auf einmal machte sie Halt, hob etwas vom Erdboden auf und wandte sich der Gruppe zu. Als sie ihre Hände in die Luft erhob, legte Haußasergeant Abiboo an und feuerte. Die Gestalt brach zusammen.

»Mein Kichu!« jammerte der Zirkusmann, als er auf die stumme Gestalt hinuntersah.

Sanders schwieg. Er betrachtete zuerst den toten Sokola, den man auf die abscheulichste Weise mitten aus seinem Volke heraus entführt hatte; dann sah er sich nach Bosambo um. Aber Bosambo war verschwunden.

Gerade in diesem Augenblick war der Ochorihäuptling damit beschäftigt, in fieberhafter Eile ein Loch im Fußboden seiner Hütte zu graben, um seinen Sündenlohn darin zu deponieren.

* * *


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