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Elftes Kapitel

Zeitiger als ihre Gewohnheit erhob sich Helene am nächsten Morgen. Ihre Augen waren müde und glanzlos; ein dunkler Schimmer lag um dieselben, ihre Wangen waren bleich, um ihre Mundwinkel war ein bitterer, menschenfeindlicher Zug. Die Unordnung ihres Haares verriet eine ruhelose Nacht. Als sie in das Morgengewand schlüpfend vor den Spiegel trat, legte sie beide Hände vor das Antlitz und wandte schaudernd sich ab, als fürchte sie sich vor sich selbst. So stand sie minutenlang da, die Augen mit beiden Händen bedeckt, nur zuweilen leise das Haupt bewegend, bis ihre Arme endlich müde herabfielen. Sie sank auf das Ruhebett und legte die Stirn an die Lehne desselben. Mit halb geöffnetem Munde starrte sie zur Decke hinauf.

»Ich wußt' es ja, ich soll nicht glücklich sein. Warum versuchte ich es, den eigenen Mahnungen zum Trotz! Wenn ich diese leisen, geisterhaften Tritte höre, ist mir stets ein Unglück auf den Fersen, und vielleicht büße ich es diesmal schwer, nicht beizeiten der Mahnung gehorcht zu haben!«

Sie richtete sich wieder auf. Tränen fanden den Weg aus den müden Augen über ihre Wangen. Ihre Hände lagen ratlos auf ihren Knien.

»Es ist heute mein letzter Tag in seiner Nähe; er soll, er muß es sein, wenn ich mich und ihn retten will!« hauchte sie mit bebenden Lippen. »Er soll nichts ahnen, niemand soll davon wissen. Erst wenn ich fern bin, will ich ihm sagen, wie teuer er mir war, wie ich gegen meine Liebe für ihn gekämpft und erliegen musste, weil ich zu schwach war, ihn zu fliehen! Er soll mich nicht mehr finden, denn niemals soll mich die Eitelkeit wieder verführen, mit dem glänzen zu wollen, was mir die Natur als ein mir selbst so verderbliches Geschenk verliehen ... Ich will heute wieder stark sein. Es wird ja nicht über meine Kräfte gehen, nur ein paar Stunden lang die Gewalt über mich zu behaupten!«

Helene erhob sich. Sie schellte ihrer Zofe, die mit heimlichem Seitenblick die Verwüstung auf dem Antlitz ihrer schönen Herrin beobachtete.

»Zoe,« begann Helene mit schwachem Atem, »ich fühle mich wirklich so ermattet, daß ich beschlossen habe, die Einladung der Frau von Sergas anzunehmen und für einige Wochen bei ihr in Fontainebleau die stärkende Frühlingsluft zu genießen. Ich reise am Nachmittag und nehme vorläufig nur das Notwendigste meiner Garderobe mit. Sobald ich dich benachrichtigt, folgst du mir mit dem übrigen. Ich muß nach dieser ermüdenden Wintersaison wieder zu Kräften kommen, wenn ich nicht ... Schlimmeres befürchten will.«

Zoe stand überrascht da, als ihre Herrin die Stirn in die Hand legte.

»Zu Befehl!« stammelte sie endlich verwirrt. »Komtesse geben mir wohl vor der Abreise die nötigen Verhaltungsbefehle!«

»Alles, Zoe! Wenn ich zurückkehre, gehen wir ins Seebad. Der Arzt verlangt, ich solle meine Nerven kräftigen ... Bring' mir nur eine Tasse Tee, ich will heute nicht dejeunieren; dann packe meine Reisetoilette, ich habe inzwischen noch einige Briefe zu schreiben.«

Helene sprach das alles mit zunehmender Ruhe und Sicherheit, als schöpfe sie selbst Kraft aus ihren eigenen Worten, während Zoe sichtbar die Frage auf der Zunge lag: »Und Herr von Montague?«

Eine Stunde verstrich. Zoe war pflichteifrig mit dem Einpacken beschäftigt; Helene vollendete ohne ihre Hilfe ihre Toilette und stand in reich verziertem, isabellfarbenem Promenadenanzug da, der von der Modistin allerdings für die Frühlingsausflüge der Gräfin verfertigt war. Sie trat gegen Mittag an ihren Schreibtisch, um die nächsten Bekannten von ihrer kleinen Exkursion zu benachrichtigen.

Im Schreiben wurde sie durch ein Geräusch gestört. Zoe trat ein und überbrachte eine Karte.

»Der Herr wünscht dringendst empfangen zu werden, obgleich ich ihm gesagt, daß die Komtesse eben im Begriff, einen Ausflug aufs Land zu machen.«

Zoe erschrak in ihrer Rede, als sie sah, mit welch ängstlichem Ausdruck in den Mienen ihre Herrin aufschaute, wie dieselbe zaudernd und dann bebend die Hand nach der Karte ausstreckte.

Die letztere glitt nach einem einzigen Blick durch die Finger Helenens und fiel auf den Tisch. Helene stützte die Stirn in die Hand, um von Zoe nicht beobachtet zu werden. Dann vergaß sie, der Wartenden eine Antwort zu geben.

»Was soll ich dem Herrn sagen? Er wird sich nicht abweisen lassen!« hörte sie die Stimme der Zofe.

Helene schrak wieder auf und schaute ratlos vor sich hin.

»Sag' ihm, morgen sei ich bereit, ihn zu empfangen!« stieß sie heraus, während sie mit Ekel das Auge von der vor ihr liegenden Karte abwandte.

Zoe ging zögernd. Helene, als das Mädchen hinaus war, packte sich mit beiden Händen bei der Brust, schöpfte hoch und kurz Atem und starrte lauschend an der Wand empor.

»Er! Er! Ich durft' es erwarten! Ich mußte schon gestern fort! Er hat mich gesehen! Wie rette ich mich vor diesem Menschen!«

Und von namenloser Angst gefaßt, sprang sie auf und stürzte in ihr Schlafgemach.

Kaum vergingen einige Sekunden. Sie hörte schwere Männertritte dumpf auf dem Läufer des Korridors schallen; sie hörte Zoes Stimme und dann eine andere, deren Klang ihr das Haar auf dem Scheitel sträubte.

Jetzt schallte diese Stimme schon in ihr Boudoir, nur wenige Schritte von ihr. Das Blut stockte in Helenens Adern; ihr Antlitz glich dem einer Statue.

»Ich sage Ihnen, liebes Kind, es ist ein Irrtum! Ich werde zu jeder Zeit von der Gräfin Sostaniew empfangen! Sagen Sie ihr, ich erwarte sie hier, und dann seien Sie so freundlich, sich so weit wie möglich zu entfernen, denn ich habe mit ihr Angelegenheiten zu besprechen, welche die Dienerschaft nichts angehen.«

Helene, mit beiden Händen sich an eine Etagere klammernd, wagte nicht zu atmen. Sie horchte, was Zoe antworten werde, und war sich doch bewußt, daß sie von dieser keinen Schutz zu erwarten habe.

»Sie weigern sich, mein Kind?« fuhr die Stimme mit kalter Ruhe fort. »So werde ich selbst den Dienst übernehmen! Vermutlich jene Tür dort ... Ich bitte, entfernen Sie sich! Ich sagte Ihnen schon einmal ...«

Helene hörte eine Tür öffnen und schließen. Dann vernahm sie Tritte auf dem Teppich, die sich schnell näherten. Mit dem Mut der Verzweiflung raffte sie sich zusammen; sie stürzte zur Tür, riß diese auf und stand mit weit geöffneten, zornsprühenden Augen, eine gereizte Löwin, vor einem jungen Mann in elegantestem Kostüm, der den Hut in der fein glacierten Hand hielt.

»Ah! Meine schöne Helene!« Mit einer ironisch artigen Verbeugung trat er unerschrocken einen Schritt näher; sein großes dunkles Auge glitt dabei über die Frauengestalt bis zu deren Füßen hinab und hob sich wieder zu ihr. »Wie unartig, mich so abweisen zu lassen! Haben Sie nichts mehr in sich, was Sie an unsere alte Freundschaft erinnerte? Ich dächte, als alter Freund hätte man Anspruch auf besseren Empfang!«

Helene stand regungslos da; nur ihr Auge glühte Haß, ihre Züge waren gespannt, ihr Mund hatte sich halb geöffnet, ohne Worte finden zu können.

»Sie geben mir Zeit, Sie aufs neue zu bewundern, Helene! Ich schwöre Ihnen, Sie sind reizender noch geworden und Paris muß notwendig zu Ihren Füßen liegen! Keinen günstigeren Sockel konnten Sie für Ihre Schönheit wählen als Paris, das allein diese zu würdigen versteht!«

»Verlassen Sie mich! Auf der Stelle!« entrang es sich endlich gepreßt aus Helenens Brust, während er sie mit übermütigem Lächeln fixierte.

»O, ich habe nicht die Absicht, Sie lange zu belästigen, Helene!« Gregor Cantopulos kräuselte mit der linken Hand seinen Schnurrbart und sein Auge glitt abermals frech über Helenens Gestalt. »Ich habe mit der Gräfin Sostaniew nur einige dringende Worte zu sprechen, und vielleicht erlaubt sie mir, da ich den Weg zu Fuß gemacht, um nicht Aufsehen zu erregen ...«

Gregor Cantopulos ließ sich am Schreibtisch auf den Stuhl nieder, warf dabei gleichgültig einen Blick auf den daliegenden Briefbogen und las: »Teurer Anatole ...«

»Ah, ich habe schon gehört! Man sprach im Klub von deiner Verlobung mit dem immens reichen Montague, und das führt mich gleich zur Sache, die ohnehin pressant ist. Ich habe nämlich hier gegen meine Gewohnheit verwünschtes Unglück im Spiel gehabt und gestern sogar meine beiden herrlichen Rappen auf eine unselige Karte verloren. Um kurz zu sein: ich brauche Geld, viel Geld, denn ich würde mich kompromittieren, wenn ich, nachdem ich, auf mein Spielglück rechnend, hier so glänzend debütiert, plötzlich in einem Restaurant niedern Ranges gesehen würde. Dir, der Braut eines hundertfachen Millionärs, als welchen man Montague bezeichnet, kann es unmöglich auf einige hunderttausend Franken ankommen, mit denen ich mein Glück korrigieren muß! Willst du die Gefälligkeit haben? ...«

Dabei warf er einen lüsternen Blick auf eine kaum in Armeslänge vor ihm stehende geöffnete Kassette, in welche Helene, ehe sie sich an den Schreibtisch setzte, nachlässig ihr Geschmeide zusammengelegt.

Helene hatte ihre Angst, dann die diese ablösende Entrüstung niedergekämpft. Sie glaubte ihre Rettung nur in der Entschlossenheit finden zu können, zu der die Unverschämtheit des Gastes ihren Stolz aufrief.

»Sie täuschen sich, Herr Cantopulos, in der Voraussetzung, die Sie hierher führte, um in meine Wohnung einzubrechen!« rief Helene, einen Schritt näher tuend. »Erstens sind Sie nicht bei der Braut des Herrn von Montague, der diese Beleidigung zu strafen wissen würde, sondern bei der Gräfin Sostaniew ...«

»Das letztere weiß ich!« unterbrach sie der Gast mit einer beißend höhnischen Miene, sie so frech anschauend, daß sein Blick die Röte in Helenens Antlitz aufflammen ließ.

»Ferner sind Sie im Irrtum, wenn Sie bei mir Reichtümer vermuten, die Sie verleiten könnten ...«

Ein ebenso höhnischer Blick des Gastes auf die Kassette, aus der ein obenauf liegendes Diamantgeschmeide herausblitzte, unterbrach Helene abermals. Ihr Antlitz entfärbte sich vor Angst wieder, denn der Blick des Gastes sagte ihr etwa: im Notfall bin ich auch mit dem da zufrieden! Unwillkürlich trat sie zum Schutz ihres Eigentums an den Tisch.

»Keine Gefahr! Wir werden uns auch ohne das arrangieren!« lachte der Gast. »Ich kann mir unmöglich vorstellen, daß die halbe Million Rubel, welche der Selige Ihnen in seinem Ehepakt ausgesetzt und von der doch nur ein Almosen auf mich fiel, schon erschöpft sein sollte! Für Frauen wie Sie, schöne Helene, ist wohl die Million eines andern ein Frühstück, die eigene aber pflegen Sie besser zu konservieren ... Machen wir keine Umstände!« setzte er hinzu, indem er sich nonchalant erhob. »Ich werde für heute auch mit hunderttausend zufrieden sein.«

Helene hatte sich mühselig gesammelt.

»Ich habe nie eine halbe Million besessen! Das dort«, Helene zeigte auf die Kassette, »ist alles, was ich noch mein nenne und das sollte eben in Geld verwandelt werden!«

»So haben Sie über Ihre Kräfte gelebt! Das war unrecht von Ihnen!« Mit überlegenem, strafendem Blick musterte er die junge Frau.

»Ja, ich gestehe es! Ich ließ mich verleiten, hier einen Reichtum zu zeigen, den ich nicht besaß, um mich dann in der Einsamkeit zu vergraben!«

»Wie schade! Die Welt hat gerechte Ansprüche auf Ihre Schönheit, Helene! Sie dürfen das nicht; Sie werden es nicht! Es gibt in Paris Hunderte, die eine Wonne darin finden würden, sich um Ihretwillen zu ruinieren! ... Also teilen wir! Ein schönes Weib, wie Sie, nennt die Schätze von ganz Paris sein eigen!«

Gregor Cantopulos streckte die Hand lachend nach der Kassette aus, während er sich mit großer Ruhe dem Tisch näherte.

»Zurück!« schrie Helene kreischend, sich mit einem Sprung seiner Hand bemächtigend und sie fortstoßend. »Ehrloser! Sie sind zum Räuber, zum Dieb schon hinabgesunken?«

Eine schnelle Bewegung des Gastes schüttelte die zarte Hand von dem Armgelenk, dem Anschein nach schonend, und dennoch so heftig, daß Helene einen Schmerzenslaut ausstieß. Halb mitleidig, halb verächtlich schaute er auf sie hinab; dann erfaßte er abermals ihren Arm, zog sie gewaltsam an sich, beugte sich mit spöttischem Lächeln zu ihr und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr, vor denen Helene zurücktaumelte.

Mit geöffnetem Mund starrte sie ihn sprachlos, wie versteinert vor Entsetzen an.

»Es gab keine Stufe abwärts mehr für mich, schöne Helene«, höhnte er, ihr die weißen Zähne unter dem schwarzen Bart zeigend. »Ich mußte nach aufwärts bedacht sein und das hatte lange seine Schwierigkeiten. Auf der Bahn, die ich einschlagen mußte, gibt's der Feinde, der Verfolger zu viel, und Sie selbst streiten mit mir jetzt über ein Recht, das mir ohne Frage zusteht. Sie wollen sich in die Einsamkeit zurückziehen und verweigern mir dieses kostbare Brillantgeschmeide, von dem Sie doch in Ihrer Einsiedelei keinen Gebrauch werden machen können; und was würde der Juwelier sagen, wenn die gefeierte Gräfin Sostaniew käme, es zu veräußern! Mich kann das Ding da retten, denn ich möchte nicht wieder zu meiner früheren Gesellschaft hinabsteigen, nachdem ich es glücklich bis zum Grand Hotel gebracht und ich die beste Aussicht habe, hier irgendeine reiche Erbin zu finden, deren Vermögen mich vor fernerem Mühsal sichert. Überlassen Sie's mir; ich werde Ihnen gewissenhaft die Rechnung Ihres Juweliers bringen.«

Mit Gravität trat er wieder an den Tisch, erfaßte mit geübter Hand das große, aus seinem Etui genommene Geschmeide und steckte es zwischen Rock und Weste, ehe Helene imstande war, ihn zu hindern. Der Gedanke aber, um diesen kostbaren Gegenstand beraubt zu sein, entlockte ihr einen neuen Schrei. »Zu Hilfe! Er bestiehlt mich! Zu Hilfe!« rief sie aus Leibeskräften, die Hände ringend.

Der Gast wandte ihr gleichgültig den Rücken und schritt zur Tür, in der sich nach seiner Berechnung höchstens die kleine Zofe ihm entgegenstellen konnte.

Diese öffnete sich, als er eben, um die Arme frei zu haben, den Hut auf den Scheitel gesetzt. Anstatt der Zofe aber trat ihm ein bärtiger Mann entgegen, bei dessen Anblick er einen Schritt ins Zimmer zurücktat.

Der Wechsel der Szene war ein so jäher, daß auch Helene zurückprallte, denn hinter dem Bärtigen sah sie Zoe, die ihre Hände rang, und hinter Zoe zwei andere Männer, die sich schweigend draußen an die Tür postieren zu wollen Miene machten.

»Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie, Demeter Rhodios!« durchdrang eine kräftige Baßstimme das Zimmer.

Helene sank, gelähmt an allen Gliedern, auf einen Sessel und bedeckte das Antlitz.

Eine Pause, während welcher Cantopulos den Eingetretenen vornehm und finster musterte.

»Sie wenden sich an eine falsche Adresse, mein Herr!« Damit suchte er ihn verächtlich beiseite zu drängen und in grotesker Haltung die Tür zu gewinnen. Die beiden draußen stehenden Männer traten ungerufen in dieselbe, ihm den Weg versperrend. Der Grieche trat zurück.

»So verhafte ich Sie, Gregor Cantopulos!« Der Kriminalbeamte legte ihm barsch die Hand auf die Schulter und mit einer Heftigkeit, die ihn in seiner Haltung erschütterte.

»Und mit welchem Recht?« rief der Grieche, schnell den Eindruck verwindend, den dieser Name auf ihn gemacht, sich mit hochmütiger Miene die derbe Hand von seiner Schulter schüttelnd und den Stock zu seiner Abwehr erhebend.

»Im Namen des Gesetzes, das die Gesellschaft vor Banditen zu schützen hat, in welcher Fasson sie auch auftreten mögen!«

Gregor Cantopulos trat zurück und maß ihn, sich hoch aufrichtend.

»Herr, Sie bringen sich um Ihr Amt durch einen Mißgriff, der nicht ungeahndet bleiben wird.«

Beide Hände ballend, das Auge sprühend, zur Verteidigung bis aufs äußerste bereit, stand er da.

»Im Gegenteil, ich übe mein Amt nach Pflicht und Gewissen, nach ausdrücklichem Befehl!« war die phlegmatische Antwort des Beamten. »Ersparen Sie sich die Komödie, Herr Rhodios-Cantopulos! Um jeden möglichen Mißgriff zu vermeiden, beobachten wir Sie schon seit mehreren Tagen, bis jeder Zweifel hinsichts der Identität gehoben. Sie sind derselbe Demeter Rhodios, der sich in Alexandrien von dem aus Singapore kommenden Sir Hough als Diener engagieren ließ und von diesem die schriftliche Vollmacht erhielt, die Pferde, Wagen und Gepäck des Herrn nach Paris zu bringen, denen er mit dem nächsten Schiffe folgen wollte. Laut Meldung der ägyptischen Polizei fand man die Leiche des Engländers im Sande vergraben, und der Verdacht lag nahe, daß Demeter Rhodios der Mörder, der die unerhörte Frechheit besaß, hier unter seinem wirklichen Namen Cantopulos mit dem geraubten Geld und der Equipage des Engländers aufzutreten ... Durchsucht seine Kleider!« rief der Kommissär den beiden Beamten in der Tür zu, ohne ihn eines weitern Blickes zu würdigen.

Gregor Cantopulos sah, daß angesichts der Übermacht jeder Widerstand nutzlos. Man öffnete seinen Rock. Das Geschmeide fiel zu Boden.

Ein Blick des Beamten auf die Kassette überzeugte ihn von der Veranlassung des Hilferufs, den er bei seinem Kommen im Korridor gehört.

»Ein Diamantendiebstahl!« rief er, den Griechen musternd, ohne eine Miene der Überraschung.

Dieser schwieg und starrte mit finsterem Auge und verbissener Miene vor sich hin.

»Eine Waffe!« damit überreichte dem Kommissär einer der Beamten einen reich mit Silber eingelegten kleinen Revolver.

Ein Wink. Gregor Cantopulos wurde abgeführt. Tiefe Stille herrschte im Zimmer, nur unterbrochen durch die dumpfen Tritte draußen im Korridor und das Wehklagen der armen Zoe ...

»Gräfin Sostaniew!«

Helene hatte nichts von all dem zu sehen gewagt. Jetzt schrak sie auf, als die tiefe Männerstimme ihren Namen rief. Sie ließ die Hände sinken, mit denen sie, im Fauteuil liegend, während der ganzen Szene die feuchten Augen bedeckt, und starrte ins Gemach.

Der Beamte stand in respektvoller Entfernung vor ihr und blickte mit Teilnahme in das von Schmerz verzerrte und doch noch so schöne Antlitz. Der Ton, in welchem sie ihren Namen rufen gehört, war ihr ins Mark gedrungen. Entsetzen stand auf ihrem Gesicht; ihre Hände bebten, große Perlen rannen über die bleichen Wangen.

»Gräfin Sostaniew!« wiederholte dieselbe tiefe Stimme, während der Beamte, die Hand auf den Tisch stützend, vor ihr stand. »Verzeihen Sie einem Beamten, wenn er auch gegen Sie mit aller Schonung seine Pflicht zu üben gezwungen ist. Dieser Schmuck, den wir bei dem Verhafteten fanden, gehört Ihnen?«

Helene schwieg, den Blick zu Boden gesenkt; ein Bild des Erbarmens saß sie da.

»Sprechen Sie, ich bitte um die Wahrheit!«

Ein leichtes Nicken.

»Und diesen Schmuck hat sich der Verhaftete gegen Ihren Willen angeeignet?«

Abermals Schweigen. Der Beamte wiederholte barscher seine Frage.

Endlich abermals ein Kopfnicken. Ein Tränenstrom folgte dieser Antwort. Helene bedeckte schluchzend das Antlitz wieder mit dem Taschentuch.

»Fassen Sie sich, Gräfin, ich bitte darum, denn wir sind leider noch nicht zu Ende.« Der Beamte schien die Ruhe zu verlieren, trotz seinem Mitgefühl; er betrachtete die Frau mit kriminalistischem Mißtrauen.

Helene trocknete ihre Tränen. Ihre Arme fielen schlaff herab; ihre Brust hob sich unter tiefem Seufzen, als wolle sie sich von einer Angst befreien, die sich immer von neuem auf sie wälzte.

Der Beamte machte eine Pause, um Helene zur notdürftigsten Fassung kommen zu lassen, die wie ein Schlachtopfer vor ihm saß. Prüfend hing inzwischen sein Auge an ihrem Gesicht; die immer wachsende Angst der jungen Frau ließ ihn die Stirn runzeln. Er machte eine Miene, als halte er es für besser, ohne Floskeln seine Pflicht zu tun.

»Wollen Sie meine Fragen beantworten, Madame?« begann er von neuem in artigem Zureden.

Helene, betäubt, verwirrt, vernichtet, bewegte, vor sich hinstarrend, kaum merkbar die Lippen.

Der Beamte räusperte sich.

»Die telegraphischen Nachforschungen wegen des Verhafteten«, begann er wieder, »führten von Alexandrien nach Odessa, von da nach Petersburg und von dort zurück nach Moskau. Wir mußten Gewißheit haben, ehe wir es wagten, den Zorn des Jockeiklubs auf uns zu laden, in welchem dieser Fremde täglich verkehrte. Das Resultat dieser Nachforschungen war auch für Sie, Madame, ein sehr bedenkliches ... Sie hatten eine gewisse Iwanowna als Kammerfrau in Ihrem Dienst?«

Helene fuhr erschreckt zusammen. Schweigend nickte der Beamte vor sich hin, als sehe er leider alles bestätigt.

»Ich verstehe Ihre Antwort, Madame!« fuhr er fort. »Wie von Moskau gemeldet ward, ist diese Person vor kurzem an einer schweren Krankheit gestorben und hat auf ihrem Sterbebett Aussagen gegen Sie abgelegt, die ...«

»Sie lügt!« rief Helene, beide Hände erhebend, als wolle sie Gott zum Zeugen anrufen. »Sie lügt! Sie trennte sich in Neapel im Groll von mir! Sie sprach damals schon Drohungen gegen mich aus ... Es ist eine Lüge! Eine zum Himmel schreiende Lüge!«

»Ich vermag dies nicht zu beurteilen, Madame; es ist das auch meine Sache nicht! Was ich Ihnen hier mitteile, diktiert mir überhaupt nur das Mitgefühl für Sie. Diese Iwanowna sagte also aus: Ihr Gemahl, der Graf Konstantin Sostaniew, sei nicht in einem zeugenlosen Duell mit einem Verwandten gefallen, hinter dem auch die russischen Behörden vergeblich nach einer Spur gesucht, sondern an einem Tage, wo die ganze Hausbedienung draußen bei der Ernte und der Graf ganz allein war, von seinem damaligen Sekretär Gregor Cantopulos auf einer Promenade zum Walde erschossen worden. Sie, diese genannte Iwanowna, habe, am Waldesrand versteckt, gesehen, wie Gregor Cantopulos, der unter dem Vorwand, mit dem Grafen nach einem Ziel schießen zu wollen, zwei Pistolen mitgenommen, seine Waffe, als der Graf zufällig fortgeblickt, auf diesen abgefeuert, wie er dann auch die andere Pistole abgeschossen, die eine Waffe neben dem Leichnam, die andere in kurzer Entfernung hingelegt und sich danach unter die auf der andern Seite des Waldes bei der Ernte befindlichen Leute gemischt habe. Am Abend habe er ausgesagt, als er das Schloß verlassen, sei der Graf eben mit einem plötzlich eingetroffenen Verwandten in Zank geraten, der ihn jedenfalls im Duell erschossen, denn er habe gehört, wie zwischen beiden Herren von einem Gang auf Pistolen die Rede gewesen.«

Helene hing wie bewußtlos in dem Sessel, der eine Arm war über die Lehne gesunken, die andere Hand lag ohne Regung im Schoß.

»Die genannte Iwanowna hat diese Aussage auf das Sakrament gemacht. Das Schlimmste an derselben aber ist« – der Beamte kniff die Augenlider zusammen, um Helene scharf zu beobachten – »daß sie die Vermutung ausgesprochen, Sie, Madame, hätten um diesen Mord gewußt und dem jungen Mann, mit welchem Sie vor Ihrer Heirat in einem Liebesverhältnis gestanden, eine bedeutende Summe gegeben, als Ihnen das von dem seligen Grafen testamentarisch zugesicherte Vermögen ausgehändigt ward, damit er sich außer Landes entferne, was auch geschehen sein soll. Daß er jetzt hier bei Ihnen betroffen wurde, daß er die Kühnheit haben konnte, Ihnen hier, ohne Furcht, als Dieb bestraft zu werden, ein so kostbares Geschmeide abzunehmen, ist jedenfalls höchst gravierend für Sie ... Ich bin zu Ende, Madame! Nur aus Rücksicht geschah diese Mitteilung, um Ihnen gegenüber den Rest meiner schweren Pflicht zu rechtfertigen. – Die russischen Gerichte verlangen Ihre Auslieferung, die nicht versagt werden kann, sobald Sie hier als Zeugin in betreff des eben an Ihnen begangenen Diebstahls vernommen worden.«

Der Beamte schwieg. Er sah, wie die Unglückliche matter und matter ward, wie ihr Auge sich schloß und ihr Haupt an die Lehne des Sessels zurücksank.

»Es ... ist ... eine zum Himmel schreiende Lüge!« hauchten ihre bleichen, zitternden Lippen, während ihre Hand sich krampfhaft auf die Brust preßte. »So wahr Gott lebt ... ich ... bin unschuldig!«

Mit einem herzzerreißenden, aus tiefster Seele herauf jammernden Schmerzenslaut fiel ihr Haupt zur Seite. Helene hatte das Bewußtsein verloren; regungslos, einer Leiche gleich, lag sie da.

Der Beamte – geschah es aus einer Barmherzigkeit, die er zu üben sich Miene gegeben, oder aus Furcht, seine Beute zu verlieren – er trat schnell heran, erfaßte die auf der Brust liegende Hand und behielt sie sekundenlang in der seinigen.

»Nur eine Ohnmacht!« brummte er beruhigt vor sich hin. »Die Zofe wird wenigstens noch so viel Geistesgegenwart haben, hier hilfreich zu sein ... Und dann ein Posten vor den Ausgang der Wohnung!«

An Vorfälle dieser Art vielleicht schon gewöhnt, schritt er in den Korridor, wo er Zoe furchtsam wimmernd und in Tränen schwimmend auf dem Teppich liegen sah.

»Ihre Herrin ist in Ohnmacht gesunken! Stehen Sie auf! Helfen Sie!« herrschte er das trostlose Mädchen an.

»Meine arme, arme Gräfin!« jammerte Zoe, die Hände ringend. »Welch eine Schmach, und sie ist doch so gut!«

Mit schlotternden Knien, von dem Beamten gestützt, wankte sie herein und sank zur Verzweiflung desselben, anstatt Hilfe zu leisten, haltlos zu den Füßen Helenens nieder.

»Ich will lieber zehn Bösewichter verhaften, als ein schönes junges Weib!« brummte der Beamte und schritt wieder hinaus, um beim Concierge den nötigen Beistand zu suchen.


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