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Ein vorübergehendes Unwohlsein, die Folge gesellschaftlicher Anstrengungen, hinderte die Gräfin Sostaniew mehrere Tage hindurch, sich ihren Bekannten zu zeigen. Die Marquise dachte bei sich: kein Wunder! Im übrigen ward das weniger bemerkt, weil die Salons sich geschlossen hatten, man sich zur Frühlingssaison bereitete und das Wetter zur höchsten Eile aufforderte.
Am fünften Tage nach jenem Abend begegneten sich Anatole Montague und der junge Herzog von Vermont im Flur des von Helene bewohnten Hauses. Beider Blicke kreuzten sich wie ein paar Degenklingen. Anatoles Antlitz zeigte dem jugendlichen Roué eine Verachtung, deren Folge nicht die Nacht erwartete.
Am nächsten Morgen reiste Anatole, von zwei Freunden begleitet, nach der belgischen Grenze ab, und wiederum zwei Tage darauf hatten die Boulevard-Journale eine cause célèbre zu erzählen:
Zwei der glänzendsten Kavaliere hatten auf belgischem Boden eine Differenz ausgeglichen, in die sie um eine der schönsten Frauen der Pariser Gesellschaft geraten. Alle übrigen Kavaliere von Paris beneideten diese beiden um die Ehre, für die junge russische Witwe, die seit einigen Monaten die allgemeine Bewunderung erregte, ihre Degen kreuzen zu dürfen. Anatole von M. habe einen leichten Stich in das Handgelenk davongetragen, dem jungen Herzog von V., der zum erstenmal die Mensur betreten, sei der ganze Oberarm aufgeschlitzt worden.
Über die näheren Umstände hieß es, der heißblütige junge Herzog habe, als die Zeugen die Sache für erledigt erklärt, die Fortsetzung des Kampfes begehrt; sein Gegner habe sich schweigend und lächelnd verbeugt und dadurch seine Bereitwilligkeit angedeutet, der Arzt aber habe das für unmöglich erklärt. Der junge Herzog, hieß es, der schon kürzlich durch ein galantes Abenteuer von sich reden gemacht, berechtige in der Tat zu den schönsten Hoffnungen.
Herr von Rostoff, dem das Eintreten der milderen Jahreszeit gestattet hatte, Italien zu verlassen, saß an dem Abend nach seiner Gewohnheit im Boulevard-Café und las den Artikel im Journal du Soir.
»Ei, ei!« rief er überrascht. »Sind wir so weit schon! Daß die Sostaniew in Paris sei, las ich längst in der Chronik der französischen Journale, die von ihrer Schönheit und ihrem Reichtum schwärmten. Daß Montague sie also gefunden, war mir selbstverständlich; daß er aber von ihr berechtigt ist, einem anderen um ihretwillen den Arm aufzuschlitzen, ist mir neu ... Ich hatte ihm schon längst einen Besuch zugedacht; jetzt gebietet es der Anstand, ihm meine Teilnahme zu zeigen. Die belgische Grenze ist nicht weit von hier, er wird also schon zurück sein ... Was dieses junge Weib überall, wo es sich sehen läßt, doch für Unglück anrichtet!«
Rostoff las weiter. In dem »Paris le Jour« fand er eine Notiz, die ihn beide Augen weit aufreißen ließ, die er wieder und wieder durchlas.
»Hölle, tue dich auf!« rief er, indem er das Blatt in den Schoß sinken ließ. »Da sind wir ja alle beisammen!«
Wieder las er: »Das Auftreten eines reichen, jungen Griechen, der im Grand Hôtel abgestiegen, macht seit einigen Tagen große Sensation. Herr Gregor Cantopulos hat die glänzendsten Salons des Hotels bezogen, er führt die kostbarsten arabischen Pferde mit sich und eine Dienerschaft, aus der namentlich einer in reichem Arnautenkostüm mit schneeweißer Fustane, einem hohen roten Fes und weißem Schaffell über der goldgestickten griechischen Jacke hervorsticht. Die Persönlichkeit dieses jungen Mannes und sein fürstlicher Train versprechen eine interessante Staffage für die beginnenden Frühlingsfahrten im Bois zu werden ...«
»So steht da gedruckt! Buchstäblich so!« rief Rostoff, eine neue Zigarette anzündend und seinen Mazagran hastig leerend. »Gregor Cantopulos! Mit Dienern, Kawassen, arabischen Pferden! Er hat die glänzendsten Salons im Grand Hôtel bezogen, während unsereins bescheiden im Hôtel de Bade wohnt, und muß also wohl irgendeinen Nabob beerbt haben, oder es muß ein anderer sein, der zufällig denselben Namen führt, was mir nicht wahrscheinlich ist ... Gregor Cantopulos! Wenn er Sensation erregt, werde auch ich ihn ja bewundern können! Paris wird mir noch einmal so interessant, als ich je erwartet hätte!«
Rostoff erhob sich und schlenderte in der frohen Überzeugung, daß er sich vorzüglich unterhalten werde, den Boulevard hinab.
Um dieselbe späte Nachmittagstunde meldete Zoe ihrer Herrin den Herrn von Montague. Weder sie noch die letztere wußten bis jetzt von dem Duell. Anatole hatte Helene in einem Billett angezeigt, daß ihn dringende Geschäfte für zwei Tage von Paris abriefen, und da Zoe die Instruktion erhalten hatte, den Herrn von Montague stets zu melden, wenn er komme, so annoncierte sie mit einer Miene, als stehe draußen der gleichgültigste Besuch.
Helene empfing ihn in einfachster, dunkler Toilette, aber mit klarerem, ruhigerem Antlitz, als wir sie in jener Nacht gesehen. Mit liebenswürdigem Lächeln trat sie ihm entgegen und reichte ihm die Hand zum Kuß.
Sie erschrak, als sie die Rechte Anatoles in einer leichten Binde sah.
»Ein kleiner Unfall, der mich auf der Reise traf«, antwortete Anatole gleichgültig. »Sind wir allein, Helene?« setzte er leise hinzu.
Helene schüttelte verneinend den Kopf, rief ihre Zofe und gab ihr einen Auftrag, der sie in den hinteren Teil der Wohnung entfernte.
»Ich war recht besorgt um dich, Anatole«, sagte sie, seine Linke ergreifend und ihn zum Fauteuil führend. »Ich weiß selbst nicht warum, es war mir, seit ich dich nicht sah, so beklommen ums Herz! Hast du meiner unterwegs gedacht?«
»Parbleu!« Anatole mußte unwillkürlich lächeln, verbesserte dies aber. Er beugte sich wieder über ihre Hand, hob dann den Blick zu ihr und schaute sie so leidenschaftlich, so heiß, verzehrend an, daß Helene das Auge niederschlug und unbewußt die Hand auf das Herz legte. »Es ist mir lästig,« sprach er halblaut, »diesem Mädchen gegenüber hier bei dir eine Maske tragen zu müssen. Welche Gründe hätten wir, der Welt zu verhehlen, daß wir uns lieben?«
Helene blickte ihn mit Innigkeit an, suchte dabei aber eine aufsteigende Regung zu unterdrücken.
»Nur Geduld, Anatole!« flüsterte sie. »Du begreifst, daß ich die Gesellschaft erst vorbereiten möchte! Die Neuigkeit wird ihr eine sehr überraschende sein.«
»Ich glaube kaum!« Anatole lächelte. Er wußte, daß sein Abenteuer in Belgien den Zeitungen nicht geheim bleiben, daß der junge Herzog schon um der Pose willen es affichieren werde, um hier das übliche Wort zu gebrauchen. Er war sogar schon gefaßt, die Sache noch heute abend in den Blättern zu lesen, denn unfehlbar waren schon in dem Zuge, in welchem er und der Herzog abreisten, einige Pariser Reporter gewesen.
»So laß mir nur wenige Tage Zeit, Anatole!« bat sie mit Herzlichkeit in Blick und Ton. »Du weißt es, ich liebe dich; aber du begreifst, daß eine Frau in meiner Stellung ...«
Anatoles Augen verschlangen das schöne Weib, während es sprach; seine Leidenschaft erhitzte sich in ihrem Anblick; er war eben im Begriff, alle von ihr begehrten Rücksichten über den Haufen zu werfen, als Zoe sich mit dem gewohnten Hüsteln ankündigte und eintrat.
»Frau von Chambras bittet ...« meldete sie mit einem spitzfindigen Blick auf Anatole und dessen Haltung, da dieser unbemerkt und leise, aber unwillig mit dem Fuß auf den weichen Teppich stampfte.
Helene bemerkte es; mit einem beschwörenden Blick streifte sie das unwillige Antlitz des jungen Mannes. »Ich hatte sie erwartet!« setzte sie zu Zoe gewandt hinzu und bat von neuem in stummer Weise den jungen Mann um Zurückhaltung.
Anatole fühlte sich unbefriedigt durch Helenens Empfang. Wie warm derselbe gewesen, er glaubte mehr verlangen zu dürfen. Eben rauschte indes Frau von Chambras herein in einer kaffeebraunen, reich garnierten Robe, das Antlitz bis zur vollendetsten Jugendfrische geschminkt, die Blüten des Frühlings beschämend, die diesem in dem noch oft rauhen Wetter nur mühselig gelangen.
Unbeschreiblich war der Blick, mit welchem sie beim Eintreten Helene und Anatole betrachtete. Es lag Triumph darin und zugleich ein Vorwurf, daß sie, die Führerin Helenens, nicht des verdienten Vertrauens gewürdigt sei.
»Ich komme, meine Gratulationen zu bringen!« rief sie mit affektierter Emphase. Sie wandte sich zu Helene, streckte ihre Arme aus, legte dieselben um ihre Taille und blickte ihr süßlich, zärtlich ins Antlitz. »Ja, ich gratuliere, meine teure Helene, von ganzem Herzen! O, ich ahnte es ja lange; aber ich sollte böse sein, daß man meiner Voraussicht so wenig mit Vertrauen gedankt ... Und Sie, Herr von Montague, nehmen auch Sie meine Glückwünsche in doppelter Hinsicht! ... Dieser kleine Herzog! Wir wußten wohl, daß er in den Logen gewisser Künstlerinnen schon mit Erfolg debütiert, aber daß ihm der Mut schon so geschwollen, mit Ihnen, einem Kavalier, den mein Gatte für die sicherste Klinge erklärte, sich in einen Zweikampf einzulassen, das erstaunte uns alle! ... Und sieh nur, wirklich ist es dem Kleinen gelungen, Ihre Hand zu verletzen«, fügte sie mit schadenfrohem Lächeln hinzu. »Sieh nur! Sieh nur! So schreiben die Zeitungen doch die Wahrheit! Wer hätte es ihm zugetraut!«
»Mein Fuß, Marquise, strauchelte an einer kleinen Wurzel am Boden, das machte meine Parade unsicher! Im übrigen schonte ich ihn!«
Montague gab diese Erklärung nur mit Widerwillen, gereizt durch die Schadenfreude der Dame, ohne Selbstüberhebung. Er sah gleichzeitig, wie Helene die Farbe wechselte.
»Montague! Ein Duell! Und um ... meinetwillen! ... Sie sind verwundet ... und durch den ...« stammelte Helene erschreckt, brachte aber den Namen nicht heraus.
Was Anatole nicht sah, bemerkte die Marquise. Als Helene schnell das Taschentuch an die Stirn führte, um scheinbar ihr Erbleichen zu verstecken, geschah es nur, um einen neuen, jähen Farbenwechsel zu verheimlichen, den ihr der unausgesprochene Name des Herzogs verursachte.
»Und das wußten Sie nicht, kleine Unschuld?« rief die Marquise. »Ganz Paris hat es schon vor einigen Stunden gelesen; ganz Paris spricht nur von Montague, von Vermont, natürlich auch von Ihnen, schöne Helene, die Sie die Heldin des Konflikts sind! Aber der kleine Herzog wird auch in der öffentlichen Meinung den kürzeren ziehen, da er auch bei Ihnen geschlagen ist, und deshalb wird es unumgänglich sein, Ihre Verlobung mit unserem Montague sofort zu proklamieren. Ich freue mich schon auf den Moment, wo im Bois alles die Hälse strecken und rufen wird: ›Ah, da kommen sie – Montague und die reizende Sostaniew! Welch schönes Paar!‹ ... Aber was ist Ihnen, Helene?« wandte sie sich plötzlich erschreckt.
Helene war in den Sessel gesunken; sie hielt die Stirn in dem feinen Spitzentuch; ihre Brust bewegte sich heftig.
»O, nichts, nichts!« rief sie abwehrend, das Antlitz halb erhebend, und Anatole sah bei dieser Gelegenheit in ein verstörtes, todbleiches Antlitz. »Nur der Gedanke, daß Montague ohne mein Wissen ..., daß er verletzt ..., daß die Zeitungen ... Großer Gott, daß dies geschehen mußte!«
»Aber Kind! Er ist ja mit einer Schramme davongekommen!« rief Frau von Chambras, die sich in ihrer Toilette nicht hinabbeugen konnte und den Arm auf Helenens Schulter legte. »Der kleine Herzog ist ja viel schlimmer daran! Der ganze Arm soll ihm geöffnet sein, wie die Zeitungen schreiben.«
»Es ist mir entsetzlich! ... Blut, und um meinetwillen!« hauchte Helene kaum hörbar. »Und der Lärm! ...«
»Aber mit welchem Rechte konnte nur der Herzog ...«
Frau von Chambras war ja nicht allein der Gratulation wegen auf der Stelle hierher geeilt, sondern um die näheren Details zu hören, da Zoe sie ganz mit Nachrichten im Stich gelassen.
»O, ich weiß es ja nicht!« Helene brach in Tränen aus. »Ich trage keine Schuld daran, daß ich auf diese Weise zum Tagesgespräch geworden. Der Herzog war allerdings vor einigen Tagen hier, vielleicht kühn gemacht dadurch, daß ich auf der Soiree seines Vaters seinen Arm als den nächsten erbat, um, einer Ohnmacht nahe, der Hitze zu entfliehen. Ich empfing ihn nicht, als er kam, gewiß nicht!«
»Diese Anmaßung! Von Ihnen abgewiesen, wagt er es dennoch, sich zu Ihrem Ritter aufzuwerfen! Er will sich lancieren! Er bietet alles auf, um sich eine Pose zu machen. Wie gut, daß ich kam, um alles zu erfahren! Noch heut abend soll mein Gemahl die Sache im Klub erzählen! ... Inzwischen trösten Sie sich, schöne Freundin! Im Grunde muß dieser Vorfall Sie ja nur noch viel interessanter machen, und welch ein Eklat, welch eine Demütigung für den Herzog, wenn die Verlobung dem Duell auf dem Fuße folgt! ... Aber jetzt leben Sie wohl, schöne Gräfin! Ich wage es nicht, Ihre Tete-a-tete länger zu stören; Sie werden sich viel mit Montague zu erzählen haben, und ich bin hier lästig! ... Adieu, auf Wiedersehen!«
Frau von Chambras drückte einen Kuß auf die kalte, bleiche Stirn Helenens, warf Anatole, der ratlos auf eine Etagere gelehnt dastand, einen flüchtigen Gruß zu und rauschte hinaus, um noch vor dem Diner das Sachverhältnis einigen Freundinnen zu erzählen und diese auf die Verlobung vorzubereiten.
Tiefe Stille herrschte einige Sekunden lang im Zimmer. Montague, tief verstimmt, näherte sich ihr, beugte sich zu ihr hinab und legte zärtlich den Arm um ihren Nacken.
»Helene, fasse dich!« sprach er mit Innigkeit. »Was ich tat, war meine Pflicht! Ich mußte einen Unverschämten züchtigen, der, als ich ihm an deiner Schwelle begegnete, die Miene einer Berechtigung zeigt, wo nur ich diese zu besitzen glaubte. Die Sache ist etwas sehr Alltägliches bei uns hier! Folge dem Rat der Marquise; laß alle Welt wissen, daß wir uns lieben und uns für immer gehören wollen! Du weißt, die Existenz, die ich dir bereiten kann, ist eine beneidenswerte vor der Welt und sie soll eine auch dein Herz befriedigende sein, wenn du mich liebst!«
Schweigend, zu Boden starrend, hörte Helene ihm zu. Ein schwerer Vorwurf drückte sie, ein Vorwurf, von dem Anatole keine Ahnung hatte. Zoe wußte, daß sie den Herzog dennoch empfangen, wenn sie ihn auch unter einem Vorwand bald wieder entlassen!
Helene besaß einen Fehler, den wir oft bei weiblichen Charakteren finden, wenn ihre Erziehung nur auf die Außenseite bedacht gewesen. Sie tat aus Laune, aus Langweile Dinge, für die sie selbst keine ausreichenden Gründe fand, die sie dann hinterdrein vor anderen leugnete, vor sich selbst vergeblich zu rechtfertigen suchte.
Der Herzog in seinem jugendlichen Drange war ihr eben nur interessant, originell gewesen; sie glaubte, ihn ebenso empfangen zu dürfen, wie ihn andere Damen der Gesellschaft empfingen, ohne zu berechnen, daß er in dem Empfang bei ihr einen Vorzug, bei den anderen nur eine gesellschaftliche Usance erblickte. Sie hatte Montague das Recht gegeben, sie zu lieben, und durfte niemand sich nähern lassen, der mit gleichen Ansprüchen kam. Beide jungen Männer waren im Recht gewesen, und nur Helenens Schuld wär's gewesen, hätte das Duell einen schlimmeren Ausgang gehabt.
Es war etwas wie Reue, was Helene zwang, den Blick zu Boden zu schlagen; ihr Herz klopfte schuldbewußt, als Anatole so herzlich zu ihr sprach, sie um ihrer Stellung vor der Welt willen zu einer Verbindung aufforderte, um welche sie in Paris jedes Weib beneidet haben würde.
»Anatole,« sagte sie endlich halblaut, nachdem ein scheuer Blick sie überzeugt, daß sie mit ihm allein, »du bist edel und gut; du bist bereit, dein ganzes Leben mit allen seinen Ansprüchen an das höchste Glück einem Weibe hinzugeben, das du noch so wenig kennst!« Sie ergriff seine Hand, die sie, als er sich hinabbeugte, mit warmem Druck an ihre Brust, dann an ihre Lippen führte. »Wir begegneten uns in Neapel; ich floh dich, weil ich mir gelobt, kein Eheband wieder einzugehen; du siehst also, ich bin mir selbst gegenüber nicht frei und dennoch meinem Herzen schuldig, dir zu gehören. Dränge mich heute nicht, Geliebter! Der Gedanke, die unschuldige Ursache zu einem öffentlichen Ärgernis geworden zu sein, die Neugier der Menge noch mehr auf mich gelenkt zu sehen, als es zu meiner eigenen Belästigung schon der Fall ist, macht mich scheu und unentschlossen, nimmt mir den Rest meines Mutes. Ich bin ja fremd hier, werde es immer bleiben, und erdrückt von der Gesellschaftslast, die man mir aufgebürdet, habe ich oft die Sehnsucht gefühlt, dieselbe wieder abzuschütteln, bis du diesen Drang in mir überwandest und ich, um dich zu sehen, mich bereitwillig unterwarf. Du hast mich in der Leidenschaft kennen gelernt, Anatole, die ich für dich empfinde; ich war zu schwach, ihr zu widerstehen, ich wollte ihr unterliegen. Aber gestatte mir die Momente der Ruhe, in denen ich Herrin über mich sein will, um einen Kampf in mir auszutragen, dessen Zeuge du nicht sein sollst, und vor allem mache mich nicht zum Gegenstand der öffentlichen Sensation, das macht mich furchtsam, gibt mir den Wunsch ein, von hier fort zu fliehen, wenigstens mich in den dunkelsten Winkel meiner Wohnung zu verkriechen, um nicht von einer Teilnahme gefunden zu werden, die doch nur eine lieblose ist ... Sieh, Anatole!« Helene erhob sich heftig, während ihr Auge glühend aufleuchtete und sie ihm tief, verlangend in das seinige blickte. »Sieh, dieser Frau, die uns eben verließ, ist es gelungen, vor aller Welt die Verkündigerin dessen zu werden, was vorläufig nur ein stilles Glück für uns beide bleiben sollte! Heute abend wissen sie alle, daß wir uns lieben; es wird also nutzlos sein, dies leugnen zu wollen ... Komm heute abend; wir wollen über unsere Lage sprechen. Du sollst empfangen werden wie mein Verlobter; aber verlaß mich jetzt, ich beschwöre dich!«
Mit Heftigkeit schloß sie ihn in ihre Arme; sie bedeckte seinen Mund mit leidenschaftlichen Küssen. Dann sank sie wieder auf den Fauteuil, und mit den Armen abwehrend, beschwor sie ihn stumm, sie allein zu lassen.
Anatole taumelte willenlos hinaus, er gewann die Straße; wie ein Träumender schritt er dahin, berauscht von Helenens Liebesglut, verwirrt durch ihr seltsames Wesen, das er vergebens sich zu erklären bemühte, und durch diese Empfindungen drängte sich eine ihm fast unheimliche Wahrnehmung auf: Helene, die so souverän die Salons beherrscht, zeigte plötzlich einen Kleinmut, eine Furcht, wenigstens eine Scheu, die nur einem Schuldbewußtsein entsprungen sein konnte. Und doch schien ihm auch dies wieder erklärlich. Helenen waren die Anschauungen der Pariser Gesellschaft noch nicht ganz geläufig geworden; sie war aus dem tiefsten Rußland hierher gekommen; man hatte sie hier überhäuft, fast erdrückt, durch Bewunderung, und der Eklat, den er ihr nicht hatte ersparen können, mußte sie notwendig einschüchtern. Sie war öffentlich die Heldin eines Romans geworden, den sämtliche Zeitungen natürlich eine Woche hindurch ausbeuteten, und sie stand allein, hatte niemand, unter dessen Schutz sie sich vor dem allgemeinen Aufsehen hätte flüchten können ...
Als Anatole sein Hotel erreichte, präsentierte ihm sein Diener verschiedene Briefe, von denen der eine, groß und voluminös, einen transatlantischen Poststempel trug. Ahnungsvoll öffnete er ihn – sein Großoheim in Kuba war endlich seiner Altersschwäche erlegen; man forderte seinen einzigen Erben auf, sich, wie es Gesetz und Testament verlangten, baldtunlichst auf die Reise zu begeben.
Unangenehm berührt, wo jeder andere bereitwillig sich dieser Pflicht unterworfen haben würde, da ja der Großoheim um seinetwillen eine viel größere Reise angetreten, warf Anatole den Brief beiseite.
»Gerade jetzt! ... Ich werde meinem Anwalt auftragen, die Sache zu übernehmen, einen Bevollmächtigten ernennen zu lassen, bis ich selbst ... Gerade jetzt! ... Ich kann nicht fort, und stünden hundert Millionen auf dem Spiel, sie würden mich nicht hier fortziehen, ja schleppte man mich gewaltsam aufs Schiff, ich würde ins Meer springen, um wieder hierher zurückzukehren. O, wäre mir diese Nachricht früher gekommen, ich hätte einen Wink des Schicksals darin sehen können, mich von diesem schönen, anbetungswürdig schönen und mir doch zuweilen unbegreiflichen Weibe abzulenken; ich hätte noch die Macht über mich selbst gehabt! Jetzt aber empfinde ich, was ich an meinen Freunden so oft verspottet, die Ohnmacht des Mannes, von einem Weibe zu lassen, selbst wenn er sich, wie ich, sagen muß: sie würde stärker sein als du; sie wäre imstande zu entsagen! ... Und Helene? Ja, ja, ich sah's ihr an: sie könnte es!«
Trotzdem überlegte Anatole. Er warf sich auf den Diwan und überließ sich prüfenden, sondierenden Gedanken. Helene hatte heute Momente gehabt, die ihm unverständlich. Und doch wurden ihm auch diese erklärlich. Frau von Chambras' unerwartetes Erscheinen, die Art und Weise, wie sie die arme Helene mit Nachrichten überrumpelte, die er selbst ihr langsam und schonend mitzuteilen beabsichtigt, ihr Forteilen, um die erste zu sein, eine Verlobung zu proklamieren, auf die Helene selbst nicht einmal vorbereitet war: das alles mußte ein zartes Gemüt verletzen, und Anatole hatte ja oft genug Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie peinlich es ihr war, wenn die Welt sie mit ihren Ovationen verfolgte ...