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Boris Alexeiwitsch schickte sein Coupé fort und ging zu Fuß.
Also die Sache wird ernst, dachte er. Ich hoffe, nun wird mich die Sache interessieren. Solange es eine Phrase war, wußte ich nichts damit anzufangen; solange war es eben nur eine Redensart mehr. Und das Beste ist, daß diese Menschen recht haben, es ist etwas faul im Staate Rußland. Wir kranken an schlechten Säften, das Volk aber strotzt von Gesundheit, das Volk kann uns Arznei sein. Trotz unseres Barbarentums fangen wir an, uns alt zu fühlen. Das kommt daher, daß unsere Institutionen sich überlebt haben. Also gebt uns neue Institutionen und neues Leben. Auf friedlichem Wege ist das nicht zu erreichen. Also Gewalt! Ich muß dabei an den Affen denken, der uns die Kastanien aus dem Feuer holen soll; ich sehe indessen nicht ein, warum sie uns weniger schmecken werden. Wenn wir die Revolution beschützen, tun wir genug. Ist sie erst da, dann – carte blanche. Es ist wahr, der politische Kopf Europas trägt eine moderne Frisur, und Rußland noch den abscheulichen Zopf, der uns wie eine Knute den Rücken herab hängt. Rußland muß sich frisieren lassen und das Volk kann den Friseur spielen. Es kann uns unseren Zopf abschneiden; den übrigen Teil der Toilette wollen wir dann schon selbst besorgen.
Er dachte an das Leben, das er führte, und es kam ihm plötzlich unsäglich leer und öde vor, Boris Alexeiwitsch gehörte zu den Männern, deren Existenz sich um einen einzigen Punkt dreht: die Frau. Nicht die chiffrierte Frau, bei der es nur auf die Höhe der Summe ankommt, sondern die Frau aus der Gesellschaft, die sogenannte anständige Frau, welche allein durch Leidenschaft – wenigstens durch eine mehr oder minder glückliche Nachahmung derselben – zu erwerben ist. Wurde dieser Punkt aus dem Leben von Boris Alexeiwitsch gestrichen, so fiel dieses in sich zusammen. Und es drohte so zu kommen. Keine Leidenschaft hatte Stich gehalten. Es war, als ruhte auf dem Besitz des Verbotenen ein Fluch, der den Genuß an dem Besitz und die Leidenschaft unausbleiblich zerstörte. Es war unerträglich! Es entnervte, stumpfte ab, erstickte jeden Wunsch bereits im Keim. Die ewige Frage: wozu? wozu alle diese Anstrengungen und Aufregungen? begann ihm Ekel einzuflößen. Denn jemand, der im Leben nichts Hohes sieht, hat es in seinen Tiefen gar bald erschöpft. An eine Ehe mochte Boris Alexeiwitsch nicht denken; er fühlte nicht die geringste Veranlassung, durch Gründung einer Familie für den Staat zu sorgen.
Höchlich erstaunte er, als er in der letzten Zeit die Entdeckung zu machen glaubte, daß er besser sei, als er selber angenommen. Er sehnte sich – wonach? Er wußte es selbst nicht. Sollte wiederum eine Frau im Spiele sein? Die alte Empfindung in einer neuen, verbesserten Auflage? Mit einer Art von Neugier wartete Boris Alexeiwitsch ab, wie er sich zu der Sache verhalten würde.
Vielleicht sind es die Ideen dieser jungen Schwärmer, die mir zu schaffen machen, reflektierte er. Sie sind ganz unsinnig, aber mir gerade ihres offenbaren Wahnwitzes wegen sympathisch; ganz abgesehen davon, daß ihre Verwirklichung doch einigen Nutzen bringen kann.
Er beeilte sich, auf ein anderes Thema überzuspringen.
Was fange ich mit dem Abend an? Für die Oper ist es zu spät. Ich könnte in der Eremitage soupieren, aber der Sekt war gestern schlecht frappiert. Bleibt der Klub! Also in Gottes Namen in den Klub! Ich werde spielen und ich werde verlieren.
Er schlug den Weg nach dem Klub ein, änderte jedoch plötzlich die Richtung.
Ich sollte mich wieder einmal bei Wladimir Wassilitsch zeigen. Der schöne Bursche hegt Mißtrauen. Gerade jetzt, wo ich anfange, die Sache ernst zu nehmen, wäre mir das unbequem. Ich will ihn fragen, ob er mich gebrauchen kann und wozu. Ja, wozu wohl?! Spionage treiben. Pfui. Geld geben, da müßte ich erst spielen und gewinnen. Leitartikel für den »Volkswillen« schreiben. Dazu ist meine Feder nicht blutdürstig genug. Also bleibt das Vermitteln von Korrespondenzen, das Verbergen von der Polizei verdächtigen Persönlichkeiten. Das ist wenig. Ich sehe es ein. Aber es ist genug, um mir für zeitlebens die Bergwerke zuzuziehen. Das müssen sie einsehen. Auch muß ich mich um Wera Iwanowna bekümmern.
Und er wandte sich der Preobraschenskaja-Vorstadt zu.
Sie ist schöner geworden als ich dachte; aber sie hat noch denselben stolzen, frechen Blick. Das ist eine geborene Anarchistin! Schade, daß sie einem dieser plebejischen Kerle gehören wird. Vielleicht mehreren. Denn sie teilen ja wohl auch ihre Weiber untereinander – tout comme chez nous! Vielleicht ist sie wirklich tugendhaft. Wie lange noch? Glücklich der Mann, welcher der erste ist. Vielleicht wird es dieser schöne, blutgierige Terrorist sein; er soll ein wahnsinniges Glück bei den Frauen haben. Oder dieser junge Kraftmensch Sascha. Wer es auch sei, ich beneide ihn.
Als er das Gärtnerhäuschen erreichte, fand er daselbst nur Colja anwesend. Die Männer waren noch in der Druckerei beschäftigt und hatten sich Tania zur Hilfe geholt.
Daß Wera Iwanowna und Natalia Arkadiewna noch den Abend von Dawidkowo zurückerwartet wurden, hatte er durch Anna Pawlowna erfahren; so blieb er denn, ließ sich von Colja in das Arbeitszimmer führen, setzte sich und zündete eine Zigarette an. Das öde Zimmer mit den abscheulichen, rot angestrichenen Fichtenmöbeln verletzte sein ästhetisches Gefühl dermaßen, daß er das Licht löschte, einen Laden öffnete und an dem offenen Fenster Platz nahm.
Er verlor sich in Betrachtungen.
Da wundert man sich, daß es Anarchisten gibt. Wenn ich zwischen diesen vier kahlen Wänden leben, auf solchem Stuhle sitzen, von solchen Tischen essen müßte, ranzige Butter und hartes Brot, durch sauere Arbeit, mit Schweiß und Mühe verdient, so würde ich auch ein wütender Terrorist sein. Warum schreien wir also so? Sobald sie die Macht haben werden, mir diesen warmen, schönen Pelz auszuziehen, ist es ganz natürlich, daß sie es tun. – – Ich glaube, da kommt sie.
Ein Wagen kam langsam herangefahren, hielt und rollte dann wieder fort. Boris Alexeiwitsch hörte auf der Landstraße sprechen.
»Ich gehe von hier zu Fuß nach Hause,« sagte Natalia Arkadiewna. »Nein, es soll mich niemand begleiten. Wann sehe ich dich?«
»Wladimir Wassilitsch wünscht, daß ich bei Anna Pawlowna wohnen soll. Sie hat es mir angeboten.«
»So wohnst du bei mir.«
»Wie gern würde ich das, aber ich darf nicht, Wladimir Wassilitsch will es nicht.«
»Dann hilft es nichts. Das nächste Mal mußt du allein nach Dawidkowo. Ich habe es Grischa schon gesagt, er war ganz glücklich darüber. Weißt du, daß er in dich verliebt ist?«
Boris Alexeiwitsch horchte auf. Der Teufel hole den Kerl, der solchen guten Geschmack hatte. Aber was ging es ihn an?
Trotzdem wartete er begierig auf Weras Antwort.
»Ich hoffe sehr, daß du dir das nur einbildest; wie sollte er dazu kommen? übrigens tut er mir leid.«
»Warum?«
»Weil er unglücklich ist.«
»Er wird glücklich sein, sobald er ganz zu den Unseren gehört. Es liegt in deiner Hand, ihn so glücklich zu machen.«
»In meiner Hand?«
»Es ist so, wie ich dir gesagt habe. Ich rede noch mit dir darüber.«
»Aber schicke mich nicht wieder nach Dawidkowo. Ich bitte dich darum.«
»Warum willst du nicht wieder hin?«
»Weil es dort so schön ist, weil dort Frieden ist, weil wir den Frieden vernichten müssen. Denn wohin wir kommen, bringen wir die Zerstörung mit.«
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«
»Das weiß ich. Ich hoffe es auch zu können; nur schicke mich nicht wieder nach Dawidkowo.«
»Befürchtest du, dich in Grischa zu verlieben?«
»Ach nein.«
»Du scheinst es zu bedauern. Aber es wäre vielleicht recht gut für dich; denn ihr beide paßt zusammen. Diese Liebe würde dich schützen.«
»Vor wem?«
»Vor der Versuchung. Du kennst die Männer nicht und ihre Leidenschaften. Gedenke deines Eides, dir selbst getreu zu bleiben und hüte dich! Vera Iwanowna, hüte dich vor – –«
Boris Alexeiwitsch beugte sich vor, um besser zu hören.