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Eine einzige Stunde »unter dem Volk« verlebt, hatte Wera manche Erfahrung, manche Enttäuschung gebracht. Es war nicht zu leugnen, daß das Volk von seinen zukünftigen Beglückern wenig wußte, gar nichts von ihnen wissen wollte. Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt. Das Mißtrauen, dem die beiden jungen Propagandistinnen überall begegneten, die Verachtung, die man ganz unverhohlen für sie zur Schau trug, erfüllten ihre Seele mit tiefem Kummer. So war es denn in Moskau geradeso wie in Eskowo, die Tausende hier waren gewiß nicht weniger unglücklich und vielleicht ebenso unwissend, wie die Hunderte dort; aber diese sowohl wie jene schienen ihren unwürdigen Zustand nicht einmal zu fühlen, befanden sich augenscheinlich ganz wohl dabei, wünschten durchaus keine Besserung. Und doch war Besserung dringend notwendig. Diejenigen, welche die Leiden des Volkes kannten und ihm helfen wollten, hatten die Verantwortung übernommen, wehe ihnen, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllten! Das Verderben eines ganzen Volkes würde über sie kommen.
So durfte denn in den Bemühungen um das Volk nicht nachgelassen werden.
Und Wera betrat mit ihrer Freundin die Wohnstätten des Volkes, sie sah sein moralisches und physisches Elend, seine Roheit und seine Laster; und sie drängte dem Volke voll tiefsten Mitleids die Hilfe der »Auferstandenen« auf. Wenn sie beschimpft und verhöhnt wurde, bat sie, sie anzuhören; wenn man sie fortjagte, versprach sie, wiederzukommen.
Aber was bedeuteten ihre schwachen, matten Worte gegenüber der glühenden Begeisterung, mit der Natalia Arkadiewna beim Volke die Sache des Volkes führte. Mit tiefster Ergriffenheit sah Wera, wie die vom Tod Gezeichnete plötzlich wunderbar auflebte; mit Entzücken erlebte sie, wie das Wesen ihrer Freundin auf diesen und jenen – und gerade auf die Rohesten – eine gewisse Wirkung ausübte. Daraus schöpfte sie neue Hoffnung, für das Volk sowohl wie für sich selbst. Hätte sie nur besser zu dem Volke reden können, sie, die doch eine Tochter des Volkes war! Wie sprach dagegen Natalia Arkadiewna, die ihr ganzes Leben fern vom Volk, in Palästen zugebracht hatte! Mit ihrer schwachen Stimme predigte sie mächtig das Evangelium einer neuen Zeit: Gleichheit! Gleichheit! während Wera nur stammelte: Arbeit! Arbeit! nur flehte: Trinkt nicht den schändlichen Branntwein! Lernt etwas, tut etwas, seid nützlich! Einmal überfiel sie tödlicher Schrecken. Natalia Arkadiewna verkündete künftige Teilung allen Besitzes, und die Leute hörten auf sie – zum erstenmal!
Wera nahm sich vor, mit Natalia Arkadiewna darüber zu reden, sie zu bitten, nicht solche Dinge zu sagen. Sie könnten ja doch nicht in Erfüllung gehen. Denn am Tage nach der Verteilung schon würde der Besitz wieder ungleich sein; der eine mehr haben als der andere; es müßte also immer wieder von neuem geteilt werden.
Manche wollten ihre Flugblätter gar nicht nehmen, andere nahmen sie und zerrissen sie vor ihren Augen, oder drohten, die verbotenen Schriften der Polizei zu bringen. Schließlich hatten sie aber doch die letzten fortgegeben.
»Komm,« sagte Natalia Arkadiewna, »jetzt fahren wir nach Dawidkowo zu Grischa Michailitsch Potechin.«
»Zu Grischa Michailitsch Potechin. Wer ist das?«
»Ein Prachtmensch, du wirst ihn kennen lernen.«
»Was sollen wir bei ihm?«
»Für die Sache Propaganda machen.«
»Aber es ist schon spät.«
»Wir übernachten dort.«
»Bei ihm?«
»Bei seiner Mutter.«
»Erwartet sie uns?«
»Ich bin sicher, daß sie uns einen Wagen geschickt hat, der gewiß längst am Dorogomilow-Schlag hält. Bis Dawidkowo sind es zehn Werst. Grischa Michailitsch ist nämlich Landwirt.«
»Wir fahren auf das Land hinaus?«
»Das freut dich?«
»Nun ja.«
»Und du bist noch nicht zwei Tage in Moskau.«
»Gewiß viel länger.«
»Rechne doch nach.«
»Wahrhaftig. Noch nicht volle zwei Tage. Wie ist das möglich?«
Eskowo schien ihr so in die Vergangenheit entrückt, daß ihr beinahe angst wurde. Wie konnte dem Menschen so gänzlich entschwinden, was ein halbes Leben hindurch seine Welt gewesen war? Also ließ sich nichts fest und dauernd besitzen. Nicht einmal die Erinnerung.
Es war so, wie Natalia gesagt hatte: am Dorogomilow-Schlag hielt der Wagen, eine zierliche Kibitka mit munteren Steppenpferden bespannt, von einem jungen, munteren Kutscher gelenkt. Er zog mit ungeschickter Höflichkeit seine Mütze, wobei er sich vor den beiden Mädchen wie vor einer Exzellenz bis zum Boden verneigte und seinen breiten Mund zu einem Lächeln verzog, so daß sein hübsches, frisches Gesicht wie aufgeschlitzt erschien.
»Da bist du ja, Mischka! Wie steht's in Dawidkowo?«
»Nu, so so.«
»Ist Mascha Minitschna wohl?«
»Wohl und emsig wie ein Bienchen.«
»Und Grischa Michailitsch?«
»O der!«
»Nun so rede doch.«
»Das ist ein Väterchen! Trinkt Kwas und ißt Gurken und läßt die Bauern tun und treiben, was sie wollen. Sein Mütterchen schüttelt ihr Köpfchen dazu. Aber was hilft's? Nun, Gott wird barmherzig sein!«
»Wir wollen fahren, Mischka.«
»Gleich, gleich, Mütterchen Natalia Arkadiewna.«
Die Mädchen stiegen ein, Mischka kletterte auf den Bock, schwang seine lange Peitsche, begann ein zärtliches Gespräch mit den Braunen und fort ging's.
Wie schön war es, nachdem die letzten Häuser hinter ihnen lagen und sie über dem freien Lande den weiten Horizont sahen, der auf den fernen, grünen Höhenzügen zu ruhen schien. Wie wunderschön, als sich rechts und links am Wege die Felder mit der jungen Saat hinzogen, daneben die dunkle Ackerkrume, welche schon Kartoffeln und Rüben in sich barg.
Der Wind hatte nachgelassen, der Himmel, vom Gewölk befreit, wurde lichter und lichter.
Und die laue würzige Frühlingsluft! Wera atmete in tiefen Zügen, als käme sie aus einem Krankenzimmer.
Als sie die ersten Weiden, den ersten Birkenwald sah, fühlte sie sich ganz glücklich. Wie grün war seit zwei Tagen alles geworden. Es war wirklich erstaunlich. Das Gras so hoch, daß es gewiß bald gemäht werden konnte.
Um Weras Freude voll zu machen, begann Mischka zu singen, ein übermütiges Lied, so voll unbändiger Lebenslust, daß der Gesang zuletzt eitel Jubel und Geschrei wurde, das weithin durch den stillen Abend drang. Wera hatte gar nicht gewußt, daß das unglückliche russische Volk solche jauchzende Lieder singen könnte.
Sie versuchte ihre Gedanken Natalia Arkadiewna auszudrücken, aber diese litt unter den gellenden Tönen, und Wera war froh, als der Bursche endlich seinen Gesang mit einem wilden Aufschrei schloß.
Sobald Natalia, die keine Gelegenheit versäumte, mit dem Volk zu verkehren, sich etwas erholt hatte, begann sie: »He, Mischka!«
Mischka wandte sogleich sein rotes, lustiges Gesicht nach ihr um.
»Mütterchen Natalia Arkadiewna?«
Die schwache, kranke Natalia flößte dem von Gesundheit und Leben strotzenden Burschen solchen Respekt ein und kam ihm so alt vor, daß er sie niemals anders anredete.
»Ich will dir eine Geschichte erzählen. Hörst du gern Geschichten?«
Mischkas vergnügte Äuglein sagten ihr, daß er für sein Leben gern Geschichten hörte.
»Dann paß auf.«
Er paßte auf, mit Ohren und Augen. Seine Rößlein ließ er traben, wie sie traben wollten; die lieben Seelchen wußten ebensogut wie er, wo es nach Dawidkowo ging.
Natalia Arkadiewna erzählte.
»Es waren einmal zwei Brüder, die hießen Stepan und Iwan. Stepan war der ältere von beiden. Sie kamen mit ihren Weibern aus Asien herüber und waren die ersten Menschen in Rußland. Iwan, der jüngere, wollte, daß sie alles Land gleichmäßig unter sich teilten; aber das Weib des Stepan veranlaßte ihren Mann, als den Erstgeborenen, einen größeren Teil zu beanspruchen. Darüber gerieten die beiden Brüder in Streit. Endlich einigten sie sich dahin, daß derjenige, der am Abend zuerst einen großen Acker umgepflügt hätte, der Herr des anderen sein sollte.
Doch des Stepan Weib ging in den Wald, sammelte kräftige Kräuter und kochte davon eine Suppe. Davon aßen Iwan und sein Weib und sie verfielen alsbald in einen tiefen Schlaf. Nun pflügte Stepan den Acker um und ward dadurch, durch Trug und Täuschung, der Herr seines Bruders und aller seiner Nachkommen.
So ist es geschehen, durch Trug und Täuschung, daß in Rußland die Herren und die Knechte – die Gutsbesitzer und die Bauern entstanden sind. Deshalb soll der Bauer sein Land, das ihm betrügerisch genommen worden ist, sich wieder nehmen.«
So erzählte Natalia dem Knecht, der sich über die hübsche Geschichte totlachen wollte. Dann ging über der Steppe der Vollmond auf. Bald darauf langten sie an.
Lichter tauchten auf, Hunde bellten, Wera sah hohe Lindenbäume, an denen die jungen Blätter gleich zahllosen kleinen lichten, an den Zweigen hängenden Schmetterlingen und Käfern funkelten. Sie fuhren mitten in den Glanz hinein und hielten vor einem kleinen, zierlichen Hause, das wie verzaubert unter mächtigen Büschen von weißem Flieder und Goldregen dalag. Längs der efeuumsponnenen Mauern zogen sich breite Rabatten voller Narzissen hin. Dunkelrote Vorhänge glänzten hinter den erleuchteten Fenstern, an deren einem sich jetzt die Gestalt eines großen, stattlichen Mannes zeigte. Er riß das Fenster auf, beugte sich heraus und rief mit einer Stimme, die von Kraft und Lebenslust dröhnte: »Bringst du sie mit, Mischka? Wer ist die andere?«
»Das ist meine Freundin, Wera Iwanowna Martjanow,« antwortete Natalia. »Ich mache Ihnen und Ihrer Mutter ein Geschenk mit ihr. Sie ist glücklich über Ihre Lindenbäume, Ihren Flieder und Ihre Narzissen. Sehen Sie sie nur an.«
Wera wußte nicht, wie es zugegangen war, daß Grischa Michailitsch plötzlich dicht vor ihr am Wagen stand. Genug, er stand da, half Natalia aussteigen und sah dabei, wie ihm geboten worden, Wera so aufmerksam und eindringlich an, daß diese fühlte, wie sie errötete.
Unterdessen war auch Mascha Minitschna, das Mütterchen, aus dem Hause getreten. Sie trug ein altmodisches schwarzes Seidenkleid und eine hohe Haube aus schneeweißem Tüll, mit gelben Seidenbändeln garniert. Ihr mildes altes Gesicht strahlte von Wohlwollen und Güte.
»Seid Ihr denn nicht erfroren, meine Täubchen?« rief sie mit sanfter, etwas klagender Stimme. »Nicht ganz und gar verhungert auf der weiten Reise? Also kommt doch ins Haus.«
Sie umarmte Natalia Arkadiewna, wobei sie in aller Heimlichkeit das Zeichen des Kreuzes über sie machte. Grischa Michailitsch wollte unterdessen auch Wera vom Wagen helfen, doch diese schwang sich ohne die Hilfe der beiden ausgestreckten kräftigen Arme von dem hohen Sitz herab. Der junge Gutsherr betrachtete sie voller Bewunderung.
»Aber Grischa! He, Grischa!« rief das Mütterchen, das mit Natalia bereits in das Haus getreten war.
Da besann er sich, daß er den Gast, der gänzlich fremd in Dawidkowo war, ins Haus führen müßte. Wie unhöflich er war!
»Verzeihen Sie,« stammelte er. »Verzeihen Sie! Wie nannte Sie Natalia Arkadiewna?«
»Ich heiße Wera Iwanowna.«
»Verzeihen Sie, Wera Iwanowna. Darf ich Sie ins Haus führen? Ich freue mich sehr, daß Sie die Güte hatten, Natalia Arkadiewna zu uns zu begleiten. Und mein Mütterchen freut sich ebenfalls sehr – sehr – sehr.«
Er bemühte sich, seine Stimme zu dämpfen, was indessen bei seinem mächtigen Organ nicht leicht möglich war; und als er Wera die dreifache Versicherung der Freude seines Mütterchens gab, sprach er so laut und feierlich, als rede er zu einer Volksversammlung.
Natalia Arkadiewna hat recht, dachte Wera, es ist wirklich ein Prachtmensch.
Da kam das Mütterchen herausgelaufen, in heller Verzweiflung.
»Aber die Narzissen könnt ihr euch ja morgen am Tage ansehen. So kommt doch nur herein! Das Wasser im Samowar ist ganz böse, daß es so lange kochen muß und zischt und sprudelt. Anuschka hat uns Schnepfen gebraten und Spiegeleier und Barsche, Und Tschi und Grütze gibt's auch.«
Sie trippelte voraus, ins Speisezimmer, wo der Tisch gedeckt war und Anuschka, Grischas Amme, in eigener Person die Speisen auftrug und segnete, was Grischa höchst mißfällig zu bemerken schien. Auch setzte er sich, ohne sonderlich auf das Gebet zu achten, welches sein Mütterchen leise vor sich hinmurmelte.
Plötzlich rief Mascha Manitschna: »Du bist ja ein wunderhübsches Täubchen! Aber Grischa, so sieh doch!«
Sie war zu Wera getreten und wiederholte, während sie, um besser sehen zu können, die kleine weiße, fette Hand über die Augen legte: »Ein wunderhübsches Täubchen!«
»Aber Mütterchen!« sagte Grischa vorwurfsvoll. Er war noch tiefer errötet als Wera.
»Schon gut, schon gut! Ich schweige schon. Zank' nur nicht wieder mit deinem Mütterchen,« rief sie weinerlich und setzte sich an ihren Platz, der Amme gegenüber, die Wera böse und feindselig anstarrte.
»Aber nun wollen wir essen,« rief Natalia Arkadiewna heiter. »Ich sterbe vor Hunger. Anuschka, bitte, reichen Sie mir die Grütze. Nein, danke. Ich nehme keinen Rahm dazu.«
»Das weiß man,« murrte Anuschka. »Sie halten es für eine Sünde, Rahm zur Grütze zu nehmen, weil die Bauern sie ohne Rahm essen. Wer hat so was erlebt?! Von meinen Spiegeleiern können Sie nehmen – Spiegeleier essen die Bauern. Aber von den Schnepfen dürfen Sie keinen Bissen anrühren – gebratene Schnepfen sind giftig. Und Grischa darf auch keine Schnepfen essen, das wäre eine Sünde. Vielleicht erlauben Sie ihm Spiegeleier und Grütze: Grütze ohne Rahm. Grischa, he, Grischa! Nimm die Grütze, mein Söhnchen, Grütze ohne Rahm, ohne Rahm – –«
Und Anuschka begann heftig zu schluchzen.
Um sie zu besänftigen, nahm Grischa Rahm zur Grütze. Als er Wera bat, ihm die Schüssel zu reichen, vermied er es, sie anzusehen, denn er schämte sich. Es war aber auch zu dumm, über Grütze ohne Rahm ein solches Geschrei zu erheben. Was sie denken mußte! Und sein Mütterchen hatte sie vorhin auch so schwer beleidigt. Grischa war mit seinem Mütterchen, mit Anuschka und mit sich selbst recht unzufrieden. Dabei war er doch so glücklich, daß er am liebsten vom Tische aufgestanden wäre um sogleich zu tun, was Natalia Arkadiewna seit einem halben Jahr unaufhörlich von ihm verlangte, sein halbes Gut an die Bauern zu verschenken. Sein Mütterchen hatte recht, Wera war wunderhübsch! In seiner Angst vor Anuschka aß er inzwischen, was ihm unter die Hände kam: Grütze und Spiegeleier, Barsche und Schnepfen, ein Vorgehen, welches Anuschka mit der Menschheit – Natalia Arkadiewna und die »Neue« ausgenommen – wieder versöhnte. Das Mütterchen war zu aufgeregt, um etwas genießen zu können; alle Augenblicke legte sie die Hand über die Augen und sah zu Wera hinüber.
Zum zweitenmal seit zehn Minuten dachte diese: Er ist wirklich ein Prachtmensch! Seiner Amme zuliebe ißt er Grütze mit Rahm. Das täte kein anderer.
Natalia Arkadiewna rührte von all den Leckerbissen, die auf dem Tische standen, wirklich nur die Grütze und das grobe Brot an. Sie konnte es gar nicht vertragen, wollte aber dennoch von dem feinen Weizenbrote, das eigens für sie gebacken worden war, nichts nehmen.
Dann begann das Mütterchen ihr altes Thema, wobei Anuschka tapfer sekundierte: »Nun, wie steht's in dem Sündenpfuhl?« – Damit meinte sie Moskau. – »Hat es dort noch immer nicht Pech und Schwefel geregnet? Ich begreif's nicht! Wie man mir sagt, soll man jetzt dort ein Licht brennen, so hell wie die Sonne. Welche Sünde!«
Sie meinte das Gas, welches Beleuchtungsmaterial ihr so sündhaft vorkam, daß sie sich bei jeder Erwähnung desselben bekreuzigte und segnete. In ihrem Hause wurde nur Öl gebrannt, von ihr selbst aus Mohn destilliert.
Überhaupt begriff das Mütterchen die neue Zeit nicht. Ihr Sohn hatte seine Bauern freigegeben. Was sollte das heißen? Ihren Bauern ging es gut, so gut, daß sie ihre Grütze recht gut ebenfalls mit Rahm essen konnten. Aber sie sollten es noch besser haben! Nun, sie war es zufrieden. Grischa würde es ja wissen; wenn nur Grischa zufrieden war. Das konnte er aber nicht eher sein, als bis er sich eine Frau genommen. Aber woher die Frau nehmen? Aus Moskau eine holen, aus dem Sündenpfuhl, das hätte sie niemals zugegeben. Mit den Nachbarn unterhielten sie keinen Verkehr; die Nachbarn brannten Petroleum, spielten Klavier, ließen sich ihre Kleider in Moskau arbeiten, tranken Wein und aßen Eierpiroggen, die sie »Omelettes« nannten. Einige sollten sogar Französisch sprechen, statt Russisch! Nein! Aus der Nachbarschaft durfte ihr Grischa sich auch keine Frau nehmen. Und da das Mütterchen nicht wollte, so wollte auch Grischa nicht.
In anderem hatte er seinen eigenen Kopf; zum Beispiel, seinen Bauern gegenüber. Auch fand er allerlei an der heiligen Religion auszusetzen, ging nur einmal des Jahres, zu Ostern, in die Kirche und wollte den Popen nicht mehr an seinem Tisch haben.
Die Gottlosigkeit ihres Grischa war seines Mütterchens größter Kummer auf Erden. Sie hatte über diesen Punkt mit Anuschka endlose Unterredungen, wobei Ströme von Tränen vergossen wurden und mit Seufzern eine wahre Verschwendung getrieben ward. Die beiden Alten beteten manche halbe Nacht durch für ihren Grischa, taten für ihren Grischa die heiligsten Gelübde, ja, sie hatten sogar eine weite und beschwerliche Wallfahrt gelobt für ihren Grischa.
Auch die Bekanntschaft Grischas mit Natalia Arkadiewna verursachte in Dawidkowo viel Herzeleid. Eines Tages war sie daselbst erschienen, mit Schmutz bedeckt, vollständig ermattet, halbtot. Sie ruhte sich bei dem Mütterchen aus, aß eine warme Suppe, und wollte weiter. Doch ihre Kräfte versagten. So blieb sie denn. Einen Tag, zwei Tage und länger. Grischa konnte sie zuerst nicht leiden, der Brille und des kurzen Haares wegen. Auch hatte sie schmutzige Manschetten und Kragen. Er ging ihr aus dem Weg und pfiff, wenn er sie sah. Aber einmal redete sie ihn an und er mußte zuhören. Und er hörte ihr zu, eine ganze Stunde lang, erwiderte aber kein Wort. Dann verließ Natalia Arkadiewna Dawidkowo, und das Mütterchen und Anuschka mußten immerfort die Köpfe schütteln und seufzen, was das nur mit ihrem Grischa war? Er machte sich förmlich Gedanken! Sogar Anuschkas weit und breit berühmte Speckkuchen schmeckten ihm nicht mehr. Es war ein rechtes Elend! Da, eines Samstags, war Natalia Arkadiewna wieder da und Grischa lief ihr entgegen und fragte in großer Aufregung, ob sie das Bewußte mitgebracht habe?
Sie hatte es natürlich mitgebracht. Deshalb war sie ja nur gekommen, von Moskau! Sie verabschiedete sich gleich wieder, weil sie heute noch nach Pokrowskoje müßte, einem Dorf, welches von Dawidkowo acht Werst entfernt lag. Grischa wollte sie hinfahren lassen, aber sie wollte zu Fuß gehen. Und sie ging.
Während der ganzen nächsten Woche beschäftigten sich das Mütterchen und Anuschka hauptsächlich damit, daß sie die Hände über dem Kopf zusammenschlugen: ihr Grischa las! Und wie las er! Hochrot im Gesicht. Wenn man ihn anredete, wurde er zornig, Grischa zornig auf sein Mütterchen! Er las Tag und Nacht. Die beiden Frauen wollten schon zum Arzt schicken, als zum Glück Natalia Arkadiewna wieder auf den Hof kam – Zum Glück! Denn Grischa empfing sie mit heller Freude. Sie führten lange Gespräche miteinander, die Grischas Stimmittel vollständig erschöpften. Natalia Arkadiewna blieb eine ganze Woche, während welcher das Mütterchen sie herzlich liebgewann. Als sie dann wieder in die Telega stieg, um sich von Mischka nach Moskau fahren zu lassen, mußte sie Grischa und dem Mütterchen das feierliche Versprechen geben, sie jeden Samstag zu besuchen; jeden Samstagabend sollte der hübsche, muntere Mischka mit seinen hübschen, munteren Braunen in Moskau an dem Dorogomilow-Schlag auf sie warten.
Und so war alles gekommen.
Das Mütterchen Mascha Minitschna verstand nichts davon; aber – so war eben alles gekommen.