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Kaum waren sie zum Hause hinaus, als Wladimir sich nach Sascha umdrehte und ihn anherrschte: »Daß du heute abend zu Marja gehst! Sie hat uns mit Gefahr ihrer Freiheit ihr Haus für unsere Zusammenkünfte gegeben, weil sie sich in dich vergafft hat. Untersteh dich nicht, sie zu vernachlässigen. Du kannst Marja Carlowna küssen und deswegen doch in Anna Pawlowna verliebt sein.«
»Was sind das für Dummheiten,« murmelte Sascha und schielte scheu zu Wera hinüber. Diese blickte vor sich hin und sah bei dem fahlen Morgenlicht erschreckend bleich aus. Er näherte sich ihr; doch sie wich zurück.
Wladimir wollte Natalia nach Hause begleiten; denn dieselbe schien mit ihren Kräften zu Ende und taumelte mehr als sie ging. Indessen da Wladimir sie ansprach, faßte sie heftig Saschas Arm und erwiderte mit abgewandtem Gesicht, sie habe bereits mit Sascha verabredet, daß dieser sie nach Hause bringe.
Was ist das nun wieder? dachte Sascha, der von keiner Verabredung mit Natalia Arkadiewna wußte. Doch sagte er nichts; denn ihm fiel ein, daß Natalia Arkadiewna bei Anna Pawlowna wohnte. So schlug er denn mit ihr die Straße nach dem Kraßnajaplatze ein, nachdem Wera Natalia Arkadiewna hatte versprechen müssen, sie noch diesen Vormittag zu besuchen.
Schweigend setzten die beiden anderen ihren Weg fort. Begierig atmete Wera die frische Morgenluft ein. Mehr und mehr nahm das Erlebte für sie die Gestalt eines Traumes an, aber es tat ihr leid, daß sie erwacht war. Sie mußte tief aufseufzen. Plötzlich fragte sie: »Sascha sagte mir, daß Boris Alexeiwitsch auch zu den »Unsern« gehöre. Ist das wahr?«
»Ja.«
»Warum war er nicht bei der Versammlung?«
»Sehnst du dich nach ihm?«
Er sah sie scharf an; mit einem bösen Lächeln um den Mund, der so rot und frisch war wie der eines Mädchens.
Wera verstand ihn nicht. In ihrer ernsten und herben Weise entgegnete sie ihm: »Was mich Boris Alexeiwitsch angeht? Ich fragte dich nach ihm, weil es mich freuen würde, wenn er nicht mehr so hochmütig wäre und sich der Sache des Volks von Herzen annähme.«
»Was schert Boris Alexeiwitsch die Sache des Volks?«
»Wie?«
»Aber freilich; die Sache des Volks kann unter Umständen selbst für einen Boris Alexeiwitsch ihre Reize haben. Wenigstens ist sie ihm neu. Und wem die Welt etwas so Altes ist, wie ihm trotz seiner achtundzwanzig Jahre, dem ist jedes Neue ein Leckerbissen. Wenn man sich die Delikatesse nur mit Gefahr seines Lebens gewinnen kann, so setzt man eben sein Leben an die neue Trüffelpastete. Übrigens hat er recht, du bist merkwürdig schön geworden. Er mußte das wissen.«
»Warum war er heute nicht bei der Versammlung?« fragte Wera zum zweitenmal mit großer Heftigkeit.
»Er glaubte dich noch nicht angekommen. Das nächste Mal ist er sicher dort.«
Mit zuckenden Lippen rief Wera: »Was hat Boris Alexeiwitsch mit mir zu tun?« Sie fühlte ihre Wange brennen; dort hatte seine Peitsche sie getroffen.
Wladimir ließ sich nicht aus seiner spöttischen Ruhe bringen.
»Du bist stolz, mein Täubchen. Desto besser! Du wirst ihm sein Spiel schwer machen. Das gefällt mir! Gewinnen wird er es doch. Das ist gut für die Sache! Laß ihn zappeln. Er soll dich teuer erkaufen, er soll dem Volk für dich zahlen; entweder so oder so; entweder mit seinem Gelde, seinem Namen, seiner Ehre oder mit seinem Blut. Wir wollen ihm den Preis hoch setzen.«
»Du bist betrunken,« sagte Wera kalt und ließ ihn vorausgehen.
Anstatt die Richtung nach dem Prokowskykloster einzuschlagen, an dem vorbei ihr Weg in die Nowaja-Andronowska-Vorstadt führte, lenkte Wladimir seine Schritte der inneren Stadt zu. Bald befanden sich beide in demjenigen Teile Moskaus, wo die meisten Paläste liegen. Einige der hohen, prächtigen Gebäude waren noch strahlend erleuchtet. Vor den Portalen warteten die Equipagen in langer Reihe. An den beiden Fußgängern rollte eine Karosse vorüber, aus deren mit dunklem Samt ausgeschlagenen Kissen eine weiße Atlasrobe leuchtete.
Wladimir ballte die Hand und schüttelte sie gegen die glanzvolle Gestalt.
»Ihr seid schuld daran, ihr und euresgleichen! Von euch ist ausgegangen, was jetzt mit Schrecken und Entsetzen enden wird. Ihr verdarbt uns an Leib und Seele. Während ihr über uns die Knute schwingen und unseren Acker im Schweiße unseres Angesichts für euch bebauen ließet, während ihr schwelgtet und praßtet, kroch der Neid in unsere Seelen, der höllische Neid! Denn das ist der teuflische Ursprung von allem: Wir beneiden euch! Darum hassen wir euch, darum wollen wir euch aus der Welt schaffen; darum, darum! Wenn wir es auch nicht eingestehen, wenn wir auch einen prunkenden Lappen um das Ding hängen – es bleibt als erste und letzte Ursache der gemeine, schändliche, höllische Neid. Wir wollen uns an eure Stelle setzen; denn ihr habt, was wir nicht haben. Das ist es! Das ist Sozialismus, Nihilismus, Anarchismus. Es sind nur verschiedene Namen für denselben Gegenstand: für unseren grimmigen Neid! Und darum, darum: weil ihr uns den Neid gegeben, hasse ich euch, wie ich das Böse selbst hasse, das ich doch mit Wonne begehe, um euch zu vernichten. Warum prunkt ihr vor unseren Augen mit Schätzen, während wir darben? Warum vergeudet ihr, während wir Mangel leiden? Warum verpraßt ihr, während wir umkommen?! Da schwatzt ihr von einer himmlischen Vergeltung, von einer göttlichen Gerechtigkeit – schwatzt nur! Indessen übt das Volk in seiner göttlichen Gerechtigkeit irdische Vergeltung an euch. Seht euch vor! Das Richtbeil schwebt über euch.«
»Aber nicht über allen,« stammelte Wera. »Sie werden nicht alle schuldig sein.«
»Alle, alle sind sie schuldig! Denn sie gleichen sich alle; einer ist wie der andere! Wenn dieser oder jener sich das Ansehen gibt, als wäre er anders, so spielt er Komödie, weil er das Schwert über sich fühlt, weil es in der Welt nach Blut riecht. Und wir tun, als glaubten wir ihnen. Denn es ist die höchste Lust der Strafe, dieses entartete Geschlecht sich durch sich selbst richten zu sehen. Wir müssen sie festhalten, wir müssen sie teilnehmen lassen an unseren Taten, und wäre es auch nur, um den Triumph zu erleben, Ihnen sagen zu können: Seht! Eure Laster sind so angewachsen, daß sich aus eurer Mitte die Empörung gegen euch erhoben hat, daß ihr euch selbst zerstört! Wer kann uns der Ungerechtigkeit anklagen, wenn die Zeugen wider euch in euren Reihen stehen?! Wer kann das Volk beschuldigen, wenn die Gesellschaft selbst – –«
Er brach mitten im Satze ab und blieb stehen. Sie befanden sich einem Palast gegenüber, daraus sich soeben die letzten Gäste entfernten. Wladimir machte Wera auf einen Mann aufmerksam, der einige Schritte von ihnen unter dem Portal einer Kirche stand und, ohne die beiden zu bemerken, unverwandt nach dem prächtigen Hause hinübersah.
»Was tut er hier?« flüsterte Wera.
»Er wartet.«
»Weshalb?«
»Um den Schatten Anna Pawlownas an der Gardine vorbeischweben zu sehen.«
»Wohnt sie da drüben?«
»Ja. Es ist der Palast Petrowsky.«
»Der Prinz Petrowsky ist in Petersburg?«
»Er geht zu Hof.«
»So gehört er nicht zu den Unseren?«
»Gewiß nicht.«
»Aber seine Frau, Anna Pawlowna – –«
»O die!«
»Was sagst du?«
»Sie liebt ihren Mann nicht. Ich glaube, sie haßt ihn.«
»Behandelt er sie schlecht?«
»Nein. Aber sie ist ihm verkauft worden, und da sie sehr stolz ist – – übrigens ist er sechzig Jahre alt, und sie noch nicht dreißig.«
»Was tut das?«
Wladimir lachte.
»Meinst du? Du kennst sie nicht.«
»Wen kenne ich nicht?«
»Die vornehmen Damen.«
»Hintergehen sie ihre Männer? Das kann doch nicht möglich sein!«
»Du meinst, weil sie verheiratet sind, in der Kirche, durch den Popen? Vielleicht sind sie gerade deswegen so geworden. Der Mensch läßt sich nicht zwingen; am allerwenigsten darin.«
»Worin läßt der Mensch sich nicht zwingen?«
»In seinen Leidenschaften und Begierden. Doch das verstehst du nicht.«
»Nein. Hintergeht Anna Pawlowna ihren Mann?«
»Bis jetzt noch nicht. Es ist merkwürdig genug. Man wird nicht klug aus diesem Weibe. Nun, wir werden ja sehen.«
Er blickte zu Sascha hinüber. Weras Augen folgten den seinen.
Er steht noch immer da, dachte sie mit tiefem Kummer. Was für ein Zauber liegt auf ihm? Eine Prinzessin und eine verheiratete Frau! Wie kann eine solche Sünde für ihn möglich sein? Ich möchte ihn auffordern, mitzugehen; es ist seiner nicht würdig, so dazustehen.
Aber Wladimir hielt sie zurück.
»Laß ihn! Es paßt in meinen Plan, daß er dort steht. Er ist doch nicht zu anderem zu verwenden, mit seinem dicken Blut und schwerfälligen Denken. Seine Seele muß erst erweckt werden – durch die Leidenschaft. Erst dann wird er ein Auferstandener sein, an dem wir noch Freude erleben werden.«
Eine Pause entstand. Auch Wladimir und Wera beobachteten das gegenüberliegende Haus.
Wera war zu sehr geängstigt; sie wollte mehr hören, sie mußte sich Gewißheit verschaffen.
»Sie liebt das Volk.«
»Wer soll das Volk lieben?«
»Anna Pawlowna.«
»Hm!«
»Was sagst du?«
»Frage Sascha.«
»Er sagte es mir.«
»Nun, er muß es wissen.«
»Ich meine,« sagte Wladimir, jedes Wort scharf betonend, »daß Anna Pawlowna das Volk liebt, genau so wie Boris Alexeiwitsch es liebt, und daß beide ihre Liebe büßen werden.«
»Warum büßen? Was tut Boris Alexeiwitsch, daß er zu büßen hätte?«
»Du wirst es erfahren. In diesem Augenblick tut er, was er immer getan hat und immer tun wird, er genießt sein Leben.«
Er deutete auf das Vestibül des Palastes. Die mit persischen Teppichen belegte Marmortreppe stieg eine vom Kopf bis zu den Füßen in einen golddurchwirkten Burnus gehüllte Dame herab. Man hörte ihre schwere Robe rauschen. Wie eine Blutwelle floß hinter der goldenen Gestalt der rote Atlas die Stufen herab. An ihrer Seite befand sich ein Herr, den Wera sofort erkannte – Boris Alexeiwitsch! Der Portier trat vor den beiden auf die Gasse heraus und rief den Wagen auf: »Fürstin Danilowsky!«
Der Wagen der Fürstin fuhr vor, ein in Pelze gehüllter Diener öffnete den Schlag; die Dame und der Herr stiegen ein.
»Das hat Boris Alexeiwitsch zu tun,« wiederholte Wladimir.
Er deutete auf ihn, wie er neben der Fürstin in die Kissen des Wagens sank. Jetzt sah Boris die beiden. Er schnellte auf, beugte sich vor, da zogen die Pferde an.
»Morgen wird er sicher in die Versammlung kommen,« meinte Wladimir gelassen. »Laß uns nach Hause gehn.«
»Der mag stehenbleiben!«
»Nein.«
Und sie ging zu ihm.