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Als Wera erwachte, mußte sie sich erst lange besinnen, wo sie sei. Mit erstaunten Augen betrachtete sie ihre Umgebung: die blanken Dielen, die Wände aus rötlichem Fichtenholz, die bunte Balkendecke, das schimmernde Heiligenbild. Durch die offenen Fenster quollen die weißen Blütendolden des Flieders, wehte der berauschende Duft des Frühlings herein, die köstliche Frische des Morgens.
Mit einem glücklichen Lächeln schloß Wera die Augen, lag eine Weile regungslos und lauschte auf das Piepsen der Sperlinge, auf das Zwitschern der Finken. Ein Hahn krähte und Tauben gurrten.
Mit einer Empfindung, so leicht und freudig, wie Wera seit ihrer Kindheit sie nicht mehr gekannt, sprang sie dann mit beiden Füßen zugleich aus dem Bette, trat an das Fenster, faßte den ganzen Arm voll der schneeigen, taufrischen Blüten und drückte tief ihr Gesicht hinein, begierig den feinen Fliederduft einatmend. Nun kleidete sie sich rasch an, warf noch einen Blick auf die fest schlummernde Natalia und schlich aus dem Zimmer.
Es war draußen noch viel, viel schöner, als sie bei ihrer Ankunft gestern abend geglaubt. Wera schien es, als ginge von jedem Gegenstand ein eigner Glanz aus; nicht die Sonne allein war es, die hier alles vergoldete.
Ohne einem Menschen zu begegnen, gelangte sie aus dem Hause und stand plötzlich mitten unter den Narzissen. Ihr Traum fiel ihr ein. Sie mußte lächeln. Dann pflückte sie einen großen Strauß Blumen, was sie nicht getan hatte, seitdem sie mit Sascha auf der Steppe gespielt. Wie lange das her war! War sie denn schon so alt? Aber nein. Gerade heute fühlte sie sich so jung. Und sie mußte wieder lächeln, daß sie so kindisch sein konnte, nachzuzählen, wie alt sie sei.
Den Strauß soll Grischas Mütterchen bekommen, dachte sie und wählte sorgsam unter den schönsten und frischesten Blumen. Da waren auch Hyazinthen, ganze Felder! Ein Blumenstengel immer prächtiger als der andere. Wie herrlich doch die Natur war! An die Natur hatte sie noch niemals gedacht. Auch war für einen Nihilisten die Natur ebensowenig vorhanden, wie für Wladimir Wassilitsch die Heiligenbilder. Die Schönheit der Natur brachte dem Volke ja keinen Nutzen. Also fort damit!
Solche Fliederbäume hatte sie niemals gesehen, ein wahrer Wald! Und der Goldregen mit seinen langen leuchtenden Trauben, der Rotdorn, der dazwischen glühte. Welche Pracht!
Wera schürzte ihr Kleid auf, um es mit Blüten zu füllen.
Wie schade, daß Sascha nicht da war; dem würde es auch in Dawidkowo gefallen. Sascha wäre ein Freund für Grischa gewesen! Das Mütterchen hätte ihn sicher verzogen und selbst Anuschka mit ihm nicht gebrummt. Was Sascha wohl zu dem Prachtmenschen sagen würde? Sie wollte ihrem Freunde viel von ihm erzählen.
Wahrscheinlich würden sie gleich nach dem Tee nach Moskau zurückfahren. So bald!
Sie kam in den Lindenwald, in dessen Mitte das kleine Haus mit seinen Blumenfeldern und Blütenbäumen wie ein Hügel aufgeschütteter Knospen lag. Sonnenschein füllte den Wald, an den Zweigen funkelten die betauten Frühlingstriebe gleich Goldtropfen. Der Boden war blau von Veilchen.
Ach, Veilchen! Und Wera stand da, unentschlossen, ob sie ihre Hyazinthen und Narzissen fortwerfen sollte, um sich den Schoß mit Veilchen zu füllen.
Da hörte sie hinter sich Schritte und wußte auch sogleich, wer kam. Sie mußte ihm natürlich sagen, daß sie die Blumen nicht für sich, sondern für sein Mütterchen gepflückt hatte. Dennoch war ihr die Begegnung höchst unangenehm.
»Guten Morgen, Wem Iwanowna! Sie sind schon auf?«
Gott sei Dank! Seine Stimme klang wieder ganz fröhlich und er gebrauchte sie so kräftig, daß ringsum die Vögel auf und davon flogen. Es waren doch recht dumme Tiere!
»Was ist das für ein prächtiger Morgen! Wie schön ist es bei Ihnen!« Und ihre Stimme klang so froh, als wäre sie das Echo der seinen.
Mit einem Schritt war er an ihrer Seite.
»Gefällt es Ihnen bei uns? Ist das möglich? Das würde mich so freuen!«
Er sprach das »so« mit solchem Nachdruck, daß auch der letzte Vogel, ein kecker Spatz mit aufgeblusterten Federchen, der sich die beiden mit klugen Äuglein beschaute, schleunigst die Flucht ergriff.
»Alle diese Blumen haben Sie gepflückt? Wie herrlich!« rief Grischa bewundernd, als hätte er zum erstenmal in seinem Leben Hyazinthen und Narzissen gesehen.
»Wenn Sie erlauben, bringe ich sie Ihrem Mütterchen.«
»Für mein Mütterchen haben Sie Blumen gepflückt? Wirklich? Wie sie sich freuen wird. Aber warum sagen Sie: Wenn Sie erlauben. Was würde Natalia Arkadiewna dazu sagen! Alles, was ich besitze, gehört doch Ihnen.«
Sie gingen weiter, schweigend und langsam. Frühlingsfluten umwogten die beiden hohen kräftigen Gestalten, ihre Seelen standen, ihnen unbewußt, unter dem holden Zauber des Lenzes.
Wera hatte etwas auf dem Herzen. Sie wollte von der Legende reden, die gestern abend Natalia Arkadiewna erzählt, und die auf Grischa einen starken Eindruck gemacht hatte. Sie wollte ihm sagen, daß sie die Legende nicht verstanden, und daß dieselbe sie mit großem Kummer erfüllt habe. Aber der Mund war ihr wie zugeschlossen.
Grischa führte sie in den Gemüsegarten, der hinter dem Wäldchen lag und dessen Beete bereits bestellt waren.
Wera konnte nicht aufhören zu bewundern. Noch niemals hatte sie ein solches Gedeihen gesehen! Der Kohl und die Rüben standen prächtig, die Erbsen hatten sich schon hoch aus dem Boden hervorgewagt, und die Bohnen waren in Dawidkowo mindestens um zwei Zoll höher als in Eskowo. Und wie gleichmäßig war der Abstand der Pflanzen voneinander, wie zierlich die Einfassung der Beete von Brunnenkresse und Erdbeerstauden, wie herrlich dufteten Thymian und Salbei!
Der junge Gutsherr geriet bei Weras Lob in höchsten Eifer. Voller Stolz führte er sie zu den Frühbeeten, wo Gurken, Melonen und Salat ausgesät waren, und wo sich sogar eine Champignonbrut befand. Sodann ging es zu den Himbeer-, den Stachel- und Johannisbeersträuchern, die aufmerksam geprüft und gleichfalls hoch belobt wurden. Geradezu wundervoll war der Obstgarten mit seinen Spalieren, seinen kräftig gewachsenen Stämmen und den kleinen allerliebsten Zwergbäumchen. Pfirsiche und Aprikosen hatten bereits abgeblüht, aber Pflaumen und Kirschen standen noch in voller Pracht, und das übrige vornehmere Obst konnte sichtlich die Zeit kaum erwarten, bis es seine rosigen Knospen aufschließen durfte. Grischa wußte von einer jeden Sorte den lateinischen und russischen Namen, gab von jeder eine ausführliche Beschreibung und freute sich schon jetzt auf den Herbst, wo Wera von allem kosten würde. Dann kam es heraus: alles, was sie bewunderte, Blumen, Gemüse und Obstbäume, gehörte in das Wirtschaftsgebiet des Mütterchens, welches so herrschsüchtig war, daß in ihr Reich niemand, selbst nicht Anuschka, hineinzureden wagte. Es zeigte sich da wieder einmal glänzend, was für ein Gottessegen ein monarchisches Regiment sein konnte.
»Das Schlimme ist nur,« meinte Grischa, »daß uns so viel gestohlen wird.«
»Von wem?«
»Von unseren Bauern.«
»Die stehlen? Ich denke, Sie haben ihnen ein Dritteil Ihrer Felder gegeben?«
Grischa geriet in Verlegenheit.
»Nicht wahr, Sie meinen auch, daß es zu wenig ist? Denn wenn es genug wäre, würden sie ja nicht mehr stehlen. Aber was soll man machen? Ich habe sie gebeten, es nicht zu tun, und ihnen mit Erlaubnis meiner Mutter den dritten Teil von allen Früchten und Gemüsen versprochen. Es muß aber immer noch nicht genug sein; denn sie stehlen immer noch. Es ist ein großer Kummer. Lange Zeit wollten wir keine Hüter hinstellen, dann mußten wir es doch. Aber die Hüter stahlen mit den anderen, und es ist nur noch schlimmer geworden. Ich weiß nicht, was daraus werden soll. Die armen Menschen!«
»Wie können Sie sie bedauern!« rief Wera heftig, »Sie sind so gütig gegen die Leute und zum Dank werden Sie von ihnen bestohlen. Haben diese Menschen denn gar kein Gewissen?«
»Wir haben ihnen zu viel zuleide getan,« murmelte Grischa bekümmert. »Fragen Sie nur Natalia Arkadiewna. Und die Bauern wissen das! Natalia Arkadiewna und die anderen haben es ihnen gesagt. Nun üben sie Vergeltung an uns und wir können es ihnen nicht einmal verdenken.«
»Was werden Sie tun?«
»Das weiß ich noch nicht. Nun, Gott wird gnädig sein. Ich werde mein Mütterchen bitten, den Garten eingehen zu lassen und statt der Blumen Kohl zu pflanzen, damit die Leute mehr Gemüse bekommen. Blumen sind ja eigentlich auch ganz überflüssig. Daß sie Obst stehlen, können wir nicht ändern, das mögen sie sich in Gottes Namen schmecken lassen.«
»Stahlen Ihre Bauern früher auch so viel?«
»Wann früher?«
»Als Sie ihnen noch nicht den dritten Teil Ihres Besitzes gegeben.«
»O damals! Damals stahlen sie freilich auch. Allerdings, wie mir einfällt, etwas weniger, viel weniger.«
Und er sah so unglücklich aus, daß er Wera leid tat.