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§ 11.

Das Schöne entsteht im Kontakt eines Gegenstandes und eines Schauenden (vgl. § 2). Den Gegenstand bietet zunächst die Natur, das Menschenleben miteingerechnet. Es erzeugt sich der Schein, als ob das Schöne ohne Zuthun des Anschauenden einfach vorgefunden werde: die Welt des Naturschönen. Dieser Schein hebt sich auf; das Naturschöne bietet die Gegenstände mit ihren grundgesetzlichen Formen in nur erst scheinbar schönem Zustand. Ihre Erhebung zur reinen Form ist das Werk einer besonderen Thätigkeit des menschlichen Geistes: der Phantasie. Sie schafft das Idealbild.

 

Das Schöne schließt mit dem Gegenstand den Anschauenden in sich. Es scheint, das Schöne existiere draußen in der Welt, wir dürfen nur die Augen aufmachen, und es sei da; aber es scheint nur so. Zwei Künste finden keine Formen in der Natur vor: Architektur und Musik. Damit ist freilich nicht gesagt, daß bei ihnen gar keine Nachahmung der Natur sei. – Jedoch wir müssen das vorerst beiseite lassen. Denken wir an die Malerei, an die Skulptur und an die Poesie. Sie entnehmen ihre Stoffe der Welt und dem Leben. Wir haben ja keine anderen Grundformen als die von der Natur gegebenen, können nicht über sie hinaus. Darin können wir die Natur nie meistern, nie übermeistern. Die Phantasie kann wohl Traumhaftes, Phantastisches bringen, aber stets operiert sie mit Naturformen, die sie nur in anderen, neuen Verbindungen bringt Vgl. S. 18.. Sie malt Engel. Woher nimmt sie die Flügel? Sie hat sie am Vogel gesehen. So verbindet sie tierische und menschliche Formen im Kentauren. Auch an Teufeln und Drachen ist nur die tolle Kombination das Neue.

Diese Formen der Natur nun, auf welche die Kunst angewiesen ist, scheinen schon an und für sich schön zu sein. Für gewöhnlich, wenn wir die Sache nicht genauer nehmen, unterscheiden wir ein Schönes in der Natur und ein Schönes in der Kunst durch die Kunst. Wir sagen das eine Mal: dies oder das ist so schön, daß es kein Künstler so schön hätte bilden, kein Dichter so schön hätte dichten können. Ein andermal behaupten wir umgekehrt, die Kunst muß der Natur nachhelfen und sie ergänzen.

Was ist unter Natur zu verstehen, wenn wir sagen: das Naturschöne. Wir dürfen hier nicht, wie gewöhnlich, an den Gegensatz zum Geist denken. Naturschön heißt das Schöne, wie es da ist ohne Zuthun der Kunst; wir nehmen hier also die Natur im Gegensatz zur Kunst. Dazu gehört also nicht nur die Landschaft, Pflanzen und Tierwelt, sondern auch die ganze menschliche Welt, insofern sie Stoff für ästhetische Betrachtung ist, nicht nur die Gestalt der Geschlechter und Lebensalter, sondern auch der Ausdruck der Seele in den Zügen (Physiognomik), das Geberdenspiel (Mimik), das private, das familiäre und das öffentliche Leben, die Kulturform (Sitte, Kleidung, Geräte, Bewaffnung) die Geschichte; Alles unter dem Standpunkt der Frage, wieviel es für die ästhetische Betrachtung abwirft, aber also immer nur, wie es an und für sich selbst ist, ohne von der Kunst behandelt zu werden.

»An und für sich selbst,« so kann man freilich, streng genommen, nicht sagen. Eigentlich gibt es kein Naturschönes ohne den phantasievoll betrachtenden Menschen, in dem sich bereits der Künstler regt. Das Schöne überhaupt ist ja kein Objekt, es ist ein Akt Vgl. S. 28.. Wir sagen: Licht. Was wir damit bezeichnen, ist aber nicht Licht an sich, sondern nur insofern, als es ein Auge gibt. Gewisse Aetherschwingungen, mit dem Auge empfunden, heißen Licht. Wenn ein Sonnenstrahl bloß auf die Hand fällt und nicht zugleich ins Auge, so empfinden wir bloß Wärme und kein Licht. Die Glorie des Sonnenuntergangs ist an sich nichts anderes als Luftreflex und nur für den betrachtenden Menschen schön, wenn sie von ihm als schön, als eine Glorie empfunden wird. Das Schöne ist also ein subjektives Prädikat, das wir den Dingen geben mit Bezug auf gewisse Eigenschaften, womit sie unserem Geist entgegenkommen, ein Prädikat, das sich unsere Seele schafft. Es ist also ungenau und geschieht nur der Kürze wegen, wenn wir von dem »Naturschönen« sprechen, das ja als pures Objekt gar nicht vorhanden ist. –

Das Naturschöne hat nun in allen den genannten Gebieten ohne Zweifel seine Vorzüge vor dem Kunstschönen. Und zwar in erster Linie den der Gegenständlichkeit. Es hat die Bestimmtheit des Objektes. Die Natur stellt ihre Sachen hell an das Tageslicht hin. Vergleichen wir damit einen Menschen, der seinen Gedanken nicht recht zur Geburt verhelfen kann! Wie flott steht dem gegenüber die Natur da. – Ferner hat sie den unermeßlichen Vorzug der Frische und unmittelbaren Lebendigkeit. Alles ist in ihr volle Kraft und Bewegung. Keine Kunst kann z. B. die Intensität des Lichts erreichen, und unsere Mittel sind ganz arm, die Glut der natürlichen Farbe wiederzugeben. Wir können auf gewisse Weise Bewegungen nachahmen, aber was heißt das gegen die Natur! Sie hat für immer das pulsierende Leben voraus. Welches Kreuz ist für den Maler die menschliche Haut, und wie viele gehen zu Grab und haben nie vermocht, ihre atmende Blutwärme wiederzugeben!

Das Naturschöne hat sodann drittens den Vorzug, daß in ihm die verschiedenen Arten ästhetischer Erscheinung verbunden sind. Form, Farbe, wirkliche Bewegung und zugleich akustischer Ton. Auch in der Landschaft ist immer ein Klingen, Flüstern, Wehen, Rauschen da; wir hören entfernte Stimmen. Einer der Hauptreize im Gebirge ist, daß die ganze Natur immer spricht. Wir hören ihre Wasserläufe, hören ihre verborgenen, wie ihre freien Regungen; und wie wird dadurch eine solche Hochlandschaft belebt! Dazu kommt noch etwas anderes. Das Naturschöne spricht auch zu Sinnen, an die sich der Künstler eigentlich gar nicht wenden kann. Seinen Duft kann die Kunst nicht nachahmen. Den Blütenhauch von Limonen und Orangen, wie er auf italienischen Seen uns umweht, kann keine Kunst wiedergeben. Dann die Wirkungen der Natur auf unser Haut- und Atmungsleben. Furchtbare Schwüle oder Kälte tragen wesentlich bei zu düsteren oder graß einschnürenden Affekten. Die Kunst kann sie zu ihren Mitteln nicht wirklich herbeiziehen. Sie isoliert.

Die Skulptur gibt die Form ohne Farbe – oder wollen Sie Wachsfiguren? Die Griechen haben ihre Statuen zwar bemalt, aber in der Hauptsache nicht eigentlich koloriert, sondern nur getönt. Und die Skulptur kann wirkliche Bewegung nicht geben – oder wollen Sie Automaten? – Die Musik isoliert den Ton und entwickelt ihn zu einem ästhetischen System, aber sie verzichtet dafür auf sichtbare Erscheinung und wörtlichen Begriff. Sie werden auf die Oper und auf das Lied verweisen, allein Sie müssen mir zugeben: vollkommen rein in ihrer Wirkung ist die Musik nur, wenn sie sich ganz einfach an das Ohr wendet, ganz rein nur als Instrumentalmusik, also ohne Text und ohne Schauspiel. – Die Poesie freilich kann alles bieten, aber nur darum, weil sie auf alle wirkliche Darstellung verzichtet und bloß unserem inneren Schauen dient, nur mit Einbuße der unmittelbaren Gegenständlichkeit. Die Bilder, die sie unserer Vorstellung gibt, bewegen sich und leben; wir hören sie. Aber wie verwischt und verblaßt sind sie im Vergleich zu den Naturerscheinungen und Kunstwerken, die wirklich vor unserem Auge stehen! – Das Schauspiel bewirkt wohl die Illusion der Wirklichkeit, doch Sie werden sich überzeugen, daß auch in dieser Kunstform die Wahrheit des Lebens keineswegs erreicht wird. In der Oper kommt noch die Musik hinzu, jedoch dieser Gewinn wird mit einem wesentlichen Verlust erkauft, wie zum Teil schon aus dem bereits Gesagten erhellt. Man spricht jetzt wohl viel von Verbindung sämtlicher Künste und versucht sich auch praktisch darin, aber dies ist ein Unding. Es lassen sich unter gewissen Bedingungen höchstens zwei Künste vereinigen, und dann muß eine vorherrschen. Doch alles das wird uns erst im ferneren Verlauf beschäftigen.

Sehen wir nun aber auch die andere Seite an! Eben durch seine unmittelbare Lebendigkeit sind auch die Mängel des Naturschönen begründet. Es hat keine Hüter, denn die Natur arbeitet nicht auf Schönheit, ihr Zweck ist Erzeugen. Sie will eben ihre Wesen hervorbringen und nach Möglichkeit erhalten, nach Möglichkeit wieder herstellen, wenn sie gelitten haben, aber sie sorgt nicht, ihre Schönheit zu bewahren; niemand wacht darüber. Daher ist das sogenannte Naturschöne zufällig, unverbürgt und äußerst flüchtig. Ein Augenblick, und es ist vorbei. Sie sehen eine Landschaft an, aber diese Dinge, woraus sie besteht, Erde, Luft, Licht, Fluß und Wald, wissen nicht, daß da jemand sie in eine Schönheit zusammenfaßt. Eine verfinsternde Wolke kommt, ein Regen, und das Bild ist weg. Ein herrlicher Frühling erblüht, da schmettert ihn ein Hagelwetter zusammen. Ade!

Oder die Menschenwelt. Ein liebliches Angesicht entstellen plötzlich die Pocken. Ade! – Das gilt auch vom Thun und Gebaren. Der Mensch soll freilich als bewußtes Wesen dafür sorgen, daß er in seiner Erscheinung die Menschenwürde vorstelle. Er soll z. B. nicht gehen, wie es ihn das Kindsmädchen gelehrt hat. Aber wenn Menschen etwas Bedeutendes thun, was für den Zuschauer ein ästhetisches Bild gibt, so sorgen sie doch nicht dafür, wie sie im Augenblick aussehen; das wäre ja affektiert. Und weil sie nicht daran denken, wie sie aussehen, können sie diese ästhetisch wirksame Stellung auch im nächsten Augenblick verlassen. Zum Beispiel Soldaten in einer Schlacht: sie wollen kämpfen, siegen, nicht ein Bild darstellen.

Nun werden Sie sagen: die Werke der Kunst sind ja auch vergänglich, und am allermeisten die, welche in einem räumlichen Gebilde gegeben sind. Aber da ist doch ein Unterschied. Bedenken Sie nur z. B., wie kurz die Blütezeit der menschlichen Gestalt ist. Wenn sie die Zeit der Reife erreicht hat, dauert sie noch einige Jahre, und dann basta. Was meinen Sie zur Venus von Melos? Die Frau, die Modell dafür war, ist mehr als zweitausend Jahre tot, aber die Schönheit dieses Bildwerks blüht noch heute und kann uns noch mehrere tausend Jahre entzücken. Und die Gestalten Homers: Achilles, Agamemnon und Helena! Wenn sie existierten, so war es doch nur auf die Spanne von wenigen Jahrzehnten, aber sie werden in der Phantasie der Menschheit leben, so lang unser Planet rollt.

Das Naturschöne ist auch, prekär gesprochen, viel seltener als man meint. Es sind Ausnahmen, wo wir – einer Naturerscheinung gegenüber – wirklich sagen können: das ist schön; und nur ganz selten kommt es vor, daß ein Wesen sich normal entwickelt, rein den Bedingungen gemäß, die sein Grundbild mit sich bringt. Selbst die italienischen Meister und selbst die Griechen klagten über die Seltenheit der Schönheit. Als Raphael seine Galathea gemalt hatte, schrieb ihm der Graf Baldassare Castiglione, woher er das doch nur auch habe, ein so schönes Weib zu malen, und er antwortete: »da eine Teuerung an schönen Frauen ist, bediene ich mich einer gewissen Idee, die mir in den Kopf kommt.« Diese certa idea hat er zwar nicht entwickelt, ohne schöne Frauen gesehen zu haben, aber an solchen war eben damals wie heute Mangel. In keinem Lande, auch nicht in Italien, wimmelt es von schönen Frauen. – Als Apelles seine berühmte Venus malte, stellte man ihm sieben Jungfrauen als Modell. Warum mehrere? Sollte es unter einem so schönen Volke nicht eine ganz schöne gegeben haben, die ihm genügte? Nein, streng geprüft gibt es kein vollkommen Schönes in der Natur. Ihre Gebilde sind zu sehr dem störenden Zufall unterworfen, sie werden von allen Seiten gestoßen, gerieben, belastet, verdeckt, beschmutzt.

Nichts, was wir naturschön nennen, hält daher die genaue Betrachtung aus. Sehen wir es mit mikroskopischer Schärfe an, so hört es sofort auf, schön zu sein. So z. B. die menschliche Hand. Das Allerschönste finden wir bedeckt mit Erdenstaub und Erdenschweiß, den stattlichsten Baum bedeckt mit Ungeziefer. Wir dürfen nicht zu nah hinsehen, weil wir sonst den Stempel der Naturgebrechen entdecken. Nur ein Bild steht frei über dem Qualm der Not, herausgehoben aus dem Komplex des Zufälligen; es bekommt keinen Schnupfen.

In der Schweiz hört man oft sagen: »der ist noch wüest lebig.« Diese Wüstigkeiten am Leben hören nur mit dem Tode auf – und nur in der Kunst.

Rumohr erzählt von einem römischen Modell, Vittoria aus Albano. Eine gebildete, kunstsinnige Dame hatte dieses ausgezeichnet schöne Mädchen aufgefunden und ihre Eltern bestimmt, sie nach Rom zu schicken und Modell stehen zu lassen. Das war zu Ende des vorigen Jahrhunderts. Kestner, der Sohn von Werthers Lotte, hat mir auch noch von ihr erzählt. Sie soll alle Schönheiten in sich vereint haben, war wie gemacht, um als Aphrodite oder Maria dargestellt zu werden. Aber sie war klein, und so konnte man nur ihren Kopf und nicht eben so gut ihren Körper brauchen, um einem der größeren Idealwesen die Form zu geben. Dazu kommt ferner noch Alles, was wir vorhin gesagt haben. Wenn Vittoria nicht auch den Stempel alles Irdischen an sich getragen hätte, so wäre sie nicht gestorben; und das sieht man jedem Menschen schon lange vorher an; es ist der Staub des erdenschweren Lebens.

Ein Nürnberger Galeriedirektor nahm einen ganzen Abguß nach dem Körper eines schönen Mannes und stellte diesen Abguß neben eine Antinousstatue, und Sie können nicht glauben, wie gemein er daneben aussah.

Die Not des Künstlers mit dem Modell mußte hier angeführt werden. Denn mit einem kann er sich nicht begnügen. Da ist eine Form eingesunken, da fehlt etwas, da ist eine unpassende Linie. Er muß das Ganze seines Werks zusammenlesen – und wohl ihm, wenn es kein Zusammenflicken wird, wenn es in Guß kommt durch etwas, das er mitbringt. –

Alles Lebendige hat also zu viel Feinde. Was uns umgibt, befehdet uns. Niemand ist absolut gesund und vollkommen wohlbestellt. Diese allgemeine Gebrechlichkeit spüren wir Lebendigen. Deshalb thut uns die Ferne so wohl. Deshalb wirken die Gegenstände nur in Distanz. Einen Abstand müssen wir nehmen. Des Menschen ärgster Feind ist der Tod, aber im Tod findet er auch seine Verklärung. Um monumental schön zu werden, da gibt es für den Menschen nur dies einzige Mittel, das ist etwas teuer und geht etwas schwer ein. Um den Preis des Todes werden wir in der Erinnerung der Menschen zu einem relativen Idealbild; wenn wir nämlich etwas Rechtes geleistet haben. Da wollen wir an Schillers Wort gedenken:

»Der Tod hat eine reinigende Kraft,
In seinem unvergänglichen Palaste
Zu echter Tugend reinem Diamant
Das Sterbliche zu läutern und die Flecken
Der mangelhaften Menschheit zu verzehren.« Braut von Messina, IV, 9.

Auf dieses läuternde Feuer streben wir hin. Es ist der Tod – es ist aber noch mehr die Phantasie.

Man kann sagen: so schön und groß wie der Tag von Sedan war, kann kein Dichter ihn dichten. Ein Schicksalstag nach Jahrhunderten und für Jahrhunderte. Dann sehen wir aber ab von allem Ordinären, Nebensächlichen, ästhetisch hier nicht Wirksamen oder Störenden, was tausendfältig daranhing. Bis die Schlacht geschlagen werden konnte, mußte unermüdlich exerziert, studiert und geplant werden, in den Schreibstuben unendlich geschrieben, in den Werkstätten der Schmiede, Büchsenmacher, Geschützgießer, Wagner, Sattler, Schuster und Schneider massenhaft gearbeitet, mußte ungeheuer marschiert und unzählbarer Proviant herbeigeschleppt werden. Auf diese Vorstellungen dürfen wir uns nicht, oder wenigstens nicht zu sehr einlassen, wenn wir die Größe dieses Tages erfassen wollen. Wir dürfen uns nicht verlieren unter den einzelnen Eindrücken des Schreckens, nicht verweilen an Verbandplätzen und Blutlachen; wir müssen Distanz nehmen. Und wir denken nicht daran, was alles nebenher geschehen sein mag, was auch hier die kleinen Bedürfnisse des Menschen mit sich brachten.

So verhält sich nun unser Auge von selber; es ist ja doch glücklicherweise kein Mikroskop. Unwillkürlich nimmt unsere Betrachtung Abstand, um den reinen Schein abzuziehen. Und dieser Schein ist schon in sich selbst ein Abzug. Das vorliegende Material dieses von der Phantasie abzuziehenden Scheines wird von ihr gesichtet. Wenn wir etwas in der Außenwelt schön finden, so trennen wir es vom Uebrigen; wir schneiden heraus, was uns nicht gefällt, schaffen unbewußt einen Rahmen. Das ist auch ein Stück Idealisierung. Unsere ästhetische Auffassung ist ein Münzstempel mit scharfem Rand; was sie nicht brauchen kann, läßt sie bei Seite Vgl. oben S. 202..

Es kommt hier wiederum in Betracht, daß das Schöne nur im Kontakt zwischen einem Gegenstand und unserer Anschauung lebt. Das Auge, die Seele des ästhetisch begabten Menschen – und ästhetisch begabt sind ja fast alle – ist kein Spiegel, in den das Schöne nur so hineinfiele als bloßer Reflex, sondern ein Spiegel, der verschönert. Eine Kraft wirkt darin; sie läßt das Schöne in sich herein, aber sie verklärt es auch, bildet es um im idealen Sinn. Und dieses innere Umbilden ist nicht nur ein Reinigen und Sichten, sondern auch ein Ergänzen. Wir legen in den Gegenstand mehr hinein, als er hat; wir kommen ihm mit unserer Seele zu Hilfe. Unter den Gegenständen der Außenwelt fühlen wir einen Unterschied. Nichts erscheint uns ganz harmonisch wohlgebildet, das eine schöner, formgefälliger, vollkommener als das andere. Aus diesem Schöneren machen wir, indem wir noch etwas hinzuthun, ein wirklich ganz unbedingt Schönes, das uns vorkommt, als sähen wir es wirklich. Es ist das Erzeugnis des im Reflex verschönernden Spiegels in uns.

Die Kraft nun, vermöge welcher jeder Künstler und jeder zum Schönen fähige Mensch diesen Verklärungsakt vollzieht, nennen wir Phantasie. Sie ist nicht eigentliche Schöpferin des Schönen, sie braucht einen Gegenstand, der ihr Eigenschaften entgegenbringt, aber sie selbst thut doch das Beste, sie erst macht, daß diese Eigenschaften schön erscheinen. Sie ist das Vermögen des Schauens, das Vermögen, das Schöne in die Dinge hineinzuschauen. Sie ist das ästhetische Gewissen. Sie suppliert unbewußt, wo Naturschönes, und richtet, wo gewollt Schönes vorliegt. Wir verstehen darunter das Ganze der Kräfte, wodurch Schönes entsteht. Alles inbegriffen, was der Künstler und jeder Mensch von Schönheitssinn besitzen muß. Schauen heißt Phantasie haben. Wir nehmen das Wort sehr intensiv. Ein griechischer Schriftsteller sagt: »In der Iphigenie hat Euripides die Erinnyen geschaut.« Wer uns nicht schauen macht, der ist kein Künstler.

Wir stoßen hier aber auf ein unlösbares Rätsel. Die von der Phantasie geschaffenen Formen können nur aus der Erfahrung stammen und stehen doch über aller Erfahrung. Das ist das Wunderbare. Sie sieht, was sie nie gesehen hat. Und sie spürt sofort, wo es in der Natur fehlt; sie scheidet aus, ergänzt und erfindet Neues hinzu. Aber woher hat sie das? Wie erklärt sich ihr hellsichtiges Schauen? Woher bringt sie dieses Etwas, das zugleich Maßstab, Supplement und Korrektiv ist? Da liegt das Dunkel. Wie kommen wir zu dem Urteil: das ist schön, wenn es doch in der Natur keinen vollkommen schönen Gegenstand gibt? Wir sind in der Natur (von der Kunst reden wir ja noch nicht) dem eigentlich Schönen nie begegnet und wissen doch, wie es ist, sonst würden wir nicht urteilen. Die abstrakten Begriffe nehmen wir aus uns; und das ist natürlich, die können wir in der Wirklichkeit nie vorfinden, aber das Ideal im ästhetischen Gebiet ist ja sinnenfällig. Also sehen wir in unserem Inneren etwas, was wir in der Außenwelt nie gesehen haben, und doch ist es nicht da, wenn es nicht ein Gegenstand weckt.

Schiller hat die Schweiz nicht gesehen und nur, was er hörte und las, zu seinem Tell benutzt. Wie viel mußte er aus der bloßen Vorstellung mitbringen, um so bildmäßig zu gestalten! Vom Rheinfall schreibt Goethe, über diesen Strudeln, über dieser furchtbar donnernden Welt sei ihm Schillers Taucher eingefallen, und er habe sich fragen müssen, wo Schiller das her habe, wie er das so zu schildern vermochte. Schiller hatte aber dafür gar nichts, als daß er manchmal da und dort an einem Wehr, an einer Mühle den Sturz oder in einem Bergthal einen kleinen Gießbach gesehen; und das reichte hin, ihn zu wecken.

Shakespeare dichtet gerade, als ob er aus lauter Erfahrung all die verschiedenen Charaktere kännte und daher auch wüßte, wie es aussieht in einem Bösewicht. Aber so hat er es doch nie erlebt. Denken Sie an Jago, Richard III., Macbeth. Shakespeare besitzt das Erfahrungsmäßige ohne Erfahrung. Das ist das Schauen der Phantasie. Sie wissen, was Goethe von ihm sagt: »Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist.« Und weiter können wir hier nicht. Das Genie scheint der Vertraute des Weltgeistes, der ihn inspiriert, wie die Dinge aussehen, ehe irgend ein Mensch das mit Augen erfaßt hat. Woher wir dieses Wissen um die Urdinge bringen, fragen Sie das, so habe ich keine Antwort als: weil wir aus demselben Lebenszentrum stammen.

Der menschliche Geist muß seine Heimat in dem geheimen Schoß aller Wesen haben und daraus sein Schaffen holen. Es ist ihm, als ob er es noch von daher wisse, wie ihre Gestalt ursprünglich hätte werden sollen. Das ist traumhaft gesprochen, aber man kann es nicht besser. Wir kommen aus derselben Natur, woraus Baum, Luft und Stein hervorwächst. Wir gehören derselben Menschheit an, welcher alle Charaktere angehören; und weil also alles, was existiert, uns blutsverwandt ist, so stehen bedeutende Geister in einem innigen Verhältnis zum Weltsysteme, sie sehen ins Zentrum. Dies führt nun zurück zur bekannten Fiktion Platos. Es kann gewiß nicht so sein, wie er es sagt – und es ist ihm ja auch nicht buchstäblich ernst damit – dennoch ist so etwas eigentümlich Schlagendes darin. Er sagt im Phädros ungefähr folgendes: Unsere Seelen sind vor ihrem Eintritt in diese Welt an einem seligen Ort gewesen. Dort in unserer Präexistenz haben sie die Urbilder des Schönen in ihrer leuchtenden Herrlichkeit angeschaut. Dann sind sie zur Erdenwelt herabgefallen in die Kerkerwände unserer Körper. Wenn uns nun hier etwas auch nur relativ Schönes begegnet, so fällt uns zu unserem Schrecken und seligen Staunen ein, was wir dort oben einst geschaut haben. Es ist als ob in uns etwas wäre wie eine Erinnerung aus einer unbekannten Welt der Schönheit.

Die Griechen müssen das schönste Volk von der Welt gewesen sein, aber so schön wie ihre Statuen waren sie doch nicht. Also auch ihre Künstler mußten durch Genialität ergänzen, was sie um sich sahen. Und diese Gabe besaßen sie in vollem Maße; wir bewundern sie in ihrem Finden der Urbilder.

Betrachten wir dagegen Völker und Menschen, die nach dieser Seite verstümmelt sind, deren Wesen eine unerwartete Lücke hat! Da müssen wir wieder bei uns selbst einkehren. Vielleicht ist es gut, daß unsere altdeutschen Künstler, Schongauer, Zeitblom, Albrecht Dürer, Lukas Kranach u. a. die Antike nicht kannten. Wer weiß, ob sie dann ihre kernige Kraft nicht eingebüßt hätten? Aber ist es deshalb falsch, wenn man ihren Mangel nennt? Von Dürer sprach ich schon Vgl. oben S. 13.. Wie unschuldig hat er seine Modelle gewählt! Er ist ein wunderbares Genie nach den verschiedensten Seiten, ein Zeichner, wie die Welt keinen zweiten aufzuweisen hat. Wie dem sein Griffel läuft! Lernen Sie ihn ganz kennen! Sie finden bei ihm eine ungeheure Charakteristik, einen Ausdruck allertiefster Empfindung! Betrachten Sie in seiner Passion den Ecce-homo, wie er dasitzt! Man sieht: auf ihm liegt der ganze Schmerz der Sünden aller Welt. Was ist das eine Gestalt, und zu welchem Tiefen reißt sie uns hin! Dann in seiner Apokalypse die dreinhauenden Engel! Und seine herrlichen Bildnisse, seine unendliche Erfindung in Figurengruppen und – was gar nicht zu unterschätzen ist – in Arabesken! Und dieser Künstlergenius hat gegenüber der menschlichen Gestalt jenes Ideal nicht in sich gehabt, oder doch nicht geweckt. Darin zeigt er nicht selten vollständigen Mangel an Geschmack; er bringt uns oft Häßlichkeiten, die er für schön hält, daß man's nicht glauben sollte. Ebenso verhalten sich L. Kranach u. a., sie haben das Rektifizierende nicht im Kopf, sie haben kein Kriterium, um das rechte Modell zu wählen und das Urbild der menschlichen Gestalt zu finden. Da sieht man z. B. einen nackten Adam, der hat Säbelbeine (es ist nicht anzusehen) oder Apostel mit Philistergesichtern. – Anders ist es teilweise mit Holbein: ihm steigt oft etwas auf. Er muß von den Italienern geweckt sein; es ist, als ob Leonardo da Vinci auf ihn gewirkt hätte. Außerdem ist unter den Bildnern einer, der dies von den Italienern hat: Peter Vischer. Und auch Dürer wird ja berührt davon, in Venedig zwar nur wenig, aber auf seiner niederländischen Reise hat er italienische Arbeiten des hoch entwickelten cinquecentistischen Stils gesehen, und er nimmt von da an wiederholte Anläufe zum Großen, äußert sich auch einmal in diesem Sinn.

Nehmen wir alles in allem, so ist jedenfalls zu sagen: wir Deutsche waren darin Barbaren und mußten erst durch die Griechen und Italiener geweckt werden.

Die Urbild erzeugende Kraft ist in der Menschheit überhaupt sehr ungleich vertreten. Diejenigen Meister, in denen sie mit ihrem ganzen Maße spezifisch wirkt, die werden sich bewußter als andere, daß in der Natur draußen eigentlich das ganz Schöne nicht ist; sie treten deshalb zurück und erzeugen ein Neues aus Erinnerungsbildern, die wohl aus der natürlichen Außenwelt stammen, die sie aber umgewandelt, umgeläutert haben zu reiner, harmonischer Formenschönheit. Die in ihnen lebendige Idealkraft läßt in vollem Glanze aufleuchten, was da und dort nur ungewiß dämmert; sie schaut in das Urbild der Dinge hinein, und sie bewirkt, daß es erscheint.

Das Wort Phantasie kommt vom griechischen φαντάζειν, d. h. ans Licht bringen, zeigen; und dieses ist abgeleitet von φαίνεσθαι, d. h. erscheinen. Es ist also die Eigenschaft, vermöge der mir etwas erscheint. Wir wissen sehr wohl, daß zur Phantasie noch tiefes Gemüt, nüchtern verständige, wie hochideale Kombinationen gehören, aber die Wissenschaft braucht ein solches einfaches, Alles zusammenfassendes Wort. So hat die Rechtswissenschaft das Wort: Recht Vgl. oben S. 26.. So haben wir für den ästhetischen Gegenstand das Wort schön (und das heißt ja eigentlich soviel wie anschaulich, wohlbeträchtlich) und so für die ästhetische Geisteskraft das Wort Phantasie. Wenn sich die Seele auf das Schöne wirft, so münden ihre sämtlichen Kräfte in die Phantasie hinein. Die alte Psychologie behandelt die verschiedenen Vermögen der Seele, Fühlen, Wollen, Denken, so, als ob jedes für sich existierte. Neuerdings ist diese Theorie umgestoßen, denn die Seele ist kein Sack, in dem diese Vermögen wie Pakete stecken. Sie bewegt sich mit ihren sämtlichen Fähigkeiten in dieser oder in jener Modifikation, aber es ist immer die ganze Seele. So gibt Schiller in einem Brief an Goethe jene bereits citierte schöne Deduktion von Goethes Dichtergeist: »alle Ihre denkenden und fühlenden Kräfte haben auf die Einbildungskraft kompromittiert.« Vgl. oben S. 150, 151. Das heißt, wie gesagt: alle Ihre übrigen Seelenkräfte haben einen Vertrag abgeschlossen, sich in der Phantasie zu vereinen und als Phantasie zu wirken. Und so soll auch von uns »Phantasie« genommen werden: als Inbegriff aller Kräfte, die beim Schaffen eines Bildes mitwirken.

Was hätte nun eine Lehre von der Phantasie alles zu enthalten?

Ihr Wesen müßte genauer darauf hin betrachtet werden, wie es sich aufbaut auf der Grundlage der Anschauung.

Anschauen ist etwas anderes als Wahrnehmen. Ein Gegenstand bewirkt in uns einen sinnlichen Eindruck, dessen sich die Seele bewußt wird. Das heißt Wahrnehmen. Anschauen ist ein intensiveres Verhalten, ein verweilendes Betrachten der ausdrücklichen Form des wahrgenommenen Gegenstands. Wir versetzen uns in ihn hinüber. Es ist ein scharfes Erfassen mit den Sinnen und zugleich ein tiefes, liebendes Sichversenken der Empfindung. Das Objekt wird angeeignet, erlebt, innig in uns hereingenommen. Wer sich z. B. nicht in das Seelenleben der Tiere hineinlegt, hat keine Phantasie.

Die so vollzogene Anschauung läßt ein Bild in der Seele zurück. Es ist, wie wenn von dem innigen Zusammendrängen des Objekts mit dem Subjekt ein Abdruck zurückbliebe. So wiederholt sich die eigentliche Sinnlichkeit in unserem Innern als uneigentliche Sinnlichkeit, als Einbildungskraft. Nun ist der Geist dies innere Theater, das die ganze Außenwelt in sich hereingeworfen hat. Die Bilder verschwinden zunächst, aber sie sind unverloren; sie bleiben aufgehoben wie in einem Depot, wo sie dem Zufall eines weckenden Moments oder dem Willensakt der Besinnung bereit liegen. Durch das geheimnisvolle Erinnern der menschlichen Seele werden sie aus ihrem dunklen Schacht an das Licht des Bewußtseins hervorgezogen. Die Einbildungskraft ist also ihrem Wesen nach reproduktiv und nur in fraglicher Weise produktiv. Sie bringt ungeordnete Reihen gaukelnder Bilder rein spielend und ohne Idealität hervor. Und sie wirkt auch leicht stoffartig und entzündend auf die Leidenschaft.

Völlig unbewacht, unfrei und bis zur Täuschung objektiv waltet sie im Traum, dessen Wesen für die Lehre von der Phantasie besonders wichtig erscheint. Im Traume sinkt der Geist in sich zurück, da die Pforten nach außen zu sind. Er baut sich unterdessen eine Bühne. Erinnerungsgestalten tauchen auf, ganz willkürlich und ohne alle Aufsicht der Besinnung. Die Hauptkraft des Traumes ist gänzliche Illusion. Er ist ein wirrer, aber sehr dramatischer Dichter. Er läßt Personen auftreten, die handeln und sprechen, und ich wundere mich dabei über ihre Worte. Ich träume, es gebe mir einer ein Rätsel auf, und ich löse es. Die Traumbilder scheinen mir zu soufflieren, und ich souffliere ja ihnen. Nehmen Sie zu diesem Traumleben die Helle des Bewußtseins, so haben Sie den Dichter. Ja, wie ein Traum, so sollen ihm die Gestalten aufsteigen, ungemacht, lebendig wie zum Greifen. Was da nicht Traumcharakter hat, ist nicht schön, nicht vollendet, nicht poetisch, nicht wahrhaft künstlerisch. Mit dem prächtigsten Palastgebäude hat der Architekt doch nichts Rechtes zu stande gebracht, wenn es nicht derart wirkt, daß ich mir sage: so etwas ist mir einmal im Traume erschienen. Er selber muß sein Werk zuvor wie im Traum gesehen haben. Ein unsagbarer Zauberhauch umwittert die Schläfen der Poesie. Allein sie bleibt deshalb doch auf die strengsten Naturstudien angewiesen und schließt die hellste Naturwahrheit keineswegs aus. Was sie beginnt, ist wie ein Schlafwandeln mit offenen Sinnen Vgl. oben S. 6 u. 8.. Die Bilder des eigentlichen Traums sind oft dünn und schießen zusammen ohne alles Gesetz, weil die Kontrolle des Bewußtseins fehlt. Wir müssen also, wo es sich um das Schöne handelt, aus der bloßen Einbildungskraft heraus.

Wie entsteht ein schönes Bild der Phantasie? Man hat dafür immer nur Gleichnisse. Man nennt es ein Hervorwachsen aus einem Kern, ein Abthun der Schlacken, ein Herausschmelzen, ein Läutern des reinen Goldes, eine verhüllte, unbewußt-bewußte Division. Daß dieser Prozeß ein unbewußter und doch von Bewußtsein überwachter ist, darin liegt das Wunder wahrer Genialität, das Rätsel des Schaffens künstlerischer Phantasie. Es ist ein waches Träumen, ein Auftauchen von Bildern vor dem klar schauenden Geist. Dabei gibt es kein Verstandeskombinieren; machen läßt sich dabei nichts. Lessing sagt von sich einmal: »bei mir schießt nicht alles in so vollem, reinem Strahle auf.« Und Schiller braucht daher den Ausdruck: »einen Stoff aufquellen machen.« Vieles muß aufschießen, aufquellen, vieles muß weg wie Spreu. Ich habe zum Belege hierfür schon etwas von Schiller erwähnt. Er erfährt durch Goethe die Sage von Tell, wird auf die Chronik hingeführt, liest Natur- und Reisebeschreibungen aus der Schweiz, hört die Schilderungen Goethes. Das ist nun zunächst sein Stoff. Darin muß er aber vieles umändern, hinein- und herausthun Vgl. oben S. 53, 202, 207, 209.. Was muß hinein? Vor allem sein Inneres. Er muß in diese Bilder die ganze Wärme seines für die Menschenrechte glühenden Geistes hineingießen. Dazu werden Erinnerungen aus dem Leben von Individuen, von politischen Kämpfen kommen. Von dem Chronikalischen und von seinem eigenen Innern muß wegbleiben alles, was nicht hineinpaßt. Also ein Zulegen und ein Ausscheiden. Dadurch entsteht endlich ein reines Bild, das alles hat, was es haben soll, das Idealbild, ein Bild, von dem Schopenhauer sagt: »was die Natur bloß stammelt, spricht der Dichter und Künstler in voller Reinheit aus.« Er läßt keine Späne und Grillen darin. Er liest zwischen den Linien der Natur. Ich muß immer wieder den Vergleich mit einem Brennglas gebrauchen, es gibt keinen besseren. Der Künstler hat in sich das Organ, wodurch die Strahlen des in der Welt zerstreuten Vollkommenen nach einem Punkt in Raum und Zeit, nach einem Bild geworfen werden, so daß es ideal erscheint. Denken Sie dabei nicht sogleich an Dinge höchster Art, nicht sogleich an edle und erhabene Vorstellungen. Ideal nennen wir ein Bild, das allen den Eigenschaften entspricht, die wir vom Schönen ausgesagt haben, also einen individuellen Gegenstand, der sinnenfällig, ausdrucksvoll und in der Form durch und durch harmonisch ist, auch eine erhabene und komische Erscheinung, deren Harmonie durch Disharmonie hindurchgeht. Kant sagt: »Ideal ist Vorstellung eines Dings, als wäre es vollkommen.« Es entsteht der Schein, als ob seine sinnliche Form seiner Idee angemessen wäre, als ob es alle Eigenschaften seiner Gattung in sich schlösse. So wirken zum Beispiel die herrlichen Rosse im Giebelfeld des Parthenon, dargestellt, wie Helios sie hinausführt und wie er wieder mit ihnen niedertaucht. Das sind atmende, schnaubende Tiere höherer Art, Götterrosse, Geisterrosse. Diese Pferdeköpfe des Parthenon gehören zum Idealsten, was es in der Kunst nur gibt.

Es ist bereits zur Sprache gekommen, daß das ästhetische Ideal nicht identisch ist mit dem moralischen oder irgend einem anderen Ideal und daß es auch ein Idealbild des Bösen gibt. Richard III. ist eines, weil alles, was zu einem Bösewicht gehört, in ihm dargestellt ist, weil er als ganzer Teufel erscheint. Und so kann ich Falstaff ideal komisch nennen, weil er vollendet ist im Sinne des Komischen, ein Staatskerl, ein kompletes Prachtexemplar komischer Persönlichkeit.

Wenn die Phantasie fähig ist, ein Bild zu schaffen, das sich mit dem, was es darstellen soll, ganz deckt, so wird von diesem Bild alles gelten, was wir vom Schönen ausgesagt haben. Ihre Leistung besteht darin, daß auf irgend ein Individuelles der Schein fällt, als ob da alles vollkommen adäquat sei, und – wir haben gesehen – das erzeugt in uns ein Entzücken, daß wir, weiter blickend, glauben, das ganze Weltall sei vollkommen Vgl. S. 4, 19, 99, 100 ff., 144, 146 ff., 167..

Es gibt verschiedene Auffassungsarten der Phantasie. Die Natur zerteilt diese Gabe in verschiedene Modalitäten. So enthält das menschliche Wesen an sich die vier Temperamente. In Wirklichkeit werden sie aber auseinander gelegt. Die einzelnen Kraftformen der Phantasie zu beleuchten, ist jedoch mehr Sache der Lehre von den Künsten, deren Unterschied aus einer Gruppe dieser Modalitäten hervorgeht. Daher hier nur so viel:

Die Phantasie des einen ist auf das Auge, also auf Bildkunst, die des anderen auf das Gehör, also auf Musik, die des dritten auf innere Vorstellung, also auf Poesie, angelegt. – Dann bedenken Sie die Auffassung gegenüber den verschiedenen Stoffgebieten, das Talent zum Landschaftsmalen, zum Historien-, zum Sittenbild, die lyrische, die epische, die dramatische Begabung. – Dieser neigt zum Ernsten, jener zum Komischen. – Ein vierter Unterschied wäre der zwischen direkt und indirekt idealisierendem Verhalten. Eine Phantasie ist so zart organisiert, daß sie ihre Idealbilder in keuscher Entfernung von allem Empirischen hält und ihnen nicht viel zuwägt von der groben Realität, eine andere greift kecker in das Leben ein. Dies gibt den Unterschied des Ideal- und des Realstils, wie man es gewöhnlich nennt Vgl. S. 27..

Unorganische Arten oder Formen der Phantasie entstehen, wo sie sich aus zweifelhafter Begabung mit fremden Bestandteilen mischt, und in ihrem Schaffen entweder zu stark das Gedankenhafte oder zu stark das Stoffliche vorwiegt. Unter diesem Gesichtspunkte wäre die allegorische, rhetorische, tendenziöse, satirische, didaktische, die sentimentale und die grob sinnliche, naturalistische Richtung zu betrachten.

Dann die Grade der Phantasiegabe, das Maß der Ausstattung. Da müßte nun untersucht werden der Unterschied von Talent und Genie. Wenn man im täglichen Verkehr sagt: das ist ein Talent, so kann das wohl so viel heißen: ein Genie. Aber sonst verbindet man mit dem Begriff Talent etwas Schwächeres als mit dem Begriff Genie; man denkt dabei mehr nur an eine gewisse Leichtigkeit, an die Gabe des Anempfindens, Nachahmens. Jeder hat ja in seinem Leben ein paarmal Verse gemacht, aber ohne starken Drang und Erfolg. Das Genie dagegen ist eine geistige Naturkraft von einer schöpferischen Urgewalt, die alle Herzen bezwingt. In wuchernder Fruchtbarkeit und wildem Beginnen schafft es eine neue Formenwelt mit dem Stempel der Ewigkeit, der ewigen Wahrheit. Es sieht mit dem Blitz der Ahnung in das Herz der Dinge. Sein Wesen ist central.

Endlich die Geschichte der Phantasie! Auch die Phantasie ist ja historisch bestimmt. Es wäre zu erkennen, wie diese Gabe gefärbt wird durch die Kulturzustände eines Zeitalters, eines Volkes, durch die Verhältnisse der Gesellschaft, des Staates und durch den Charakter der Religion. Die Phantasie des Einzelnen ist ja die Phantasie eines Menschen, der in dieser Zeitperiode, inmitten dieses Volkes, unter diesen historischen Bedingungen lebt. Sie saugt ihren eigentlichen Gehalt, ihr Pigment, das Spezifische ihres Aromas aus dem Boden, worauf ihr Träger, der Mensch, mit seinem Volke steht. Anders gefärbt erscheint die Phantasie der Orientalen, anders die der Griechen, der Römer, anders die der Völker im Mittelalter und anders die moderne Phantasie. Das ist ein sehr wichtiger Teil der Lehre von dieser Gabe, weil er vorbereitend ist. Wir müssen den Standpunkt nehmen auf der Höhe, wo wir den Gesichtskreis weit genug halten können, um gleich gerecht zu sein gegen Schönes der verschiedensten Auffassungen. Die Kunstgeschichte nimmt nicht Partei im Kampf der großen Richtungsunterschiede, wodurch die Zeitalter getrennt werden, und der einzelnen Künstlerindividualitäten. Wer die Schönheit des klassischen Stils der alten Griechen und Römer fühlt und die Reize der Renaissance in ihren verschiedenen Formen, hat deshalb kein Recht, die der Gotik zu mißachten oder den relativen Wert des Barocco und Rokoko zu leugnen Vgl. oben S. 13 und 124..


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