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Der Begriff »schön« schließt in sich einen Gegenstand und den Anschauenden oder Anhörenden. Beide berühren sich zunächst ganz sinnlich. Das Schöne ist sinnenfâllig, also zugleich ein individueller Gegenstand. Die Anschauung ist mit einer (zunächst) ebenfalls sinnlichen Lust verbunden. Dennoch kann die Anschauung und der Gegenstand, sowie die Lust nicht bloß sinnlich sein. Das bloß sinnliche Interesse ist ausgeschlossen. Das Schöne ist nicht bloß angenehm, daher sind unter den Sinnen im wesentlichen nur Gesicht und Gehör direkt beteiligt.
Wenn wir sagen »das Schöne«, so klingt es immer, als sei es eine Sache, die es gibt. So gibt es aber das Schöne nicht, wie es eine Sache gibt. In »schön« befasse ich den Gegenstand und den, der den Gegenstand anschaut, also Objekt und Subjekt. Das Schöne ist Kontakt zwischen diesen zweien. Man meint, das Schöne biete sich ja überall dar, es sei in der Natur schon für sich da. Aber nein, dazu gehören zwei, dazu braucht es das Auge. Wir sind auch so naiv, wenn wir etwas sauer, süß, bitter nennen, zu meinen, der Gegenstand sei bitter, süß, sauer. Fällt ihm nicht ein. Was wir so nennen, ist ja nur der Eindruck, den er durch chemische Stoffe auf den Geschmacksnerven unserer Zunge macht. Er ist ferner nicht blau, rot, gelb an sich, sondern nur für unser Auge. Und so ist etwas weder schön noch unschön, sofern es nicht einer sieht oder hört. Eine Landschaft, so oder so beleuchtet, nenne ich schön. Ziehe ich mein Auge, mein ganzes Nervenleben ab, was ist es dann noch? Eine Null von »schön«.
Ich muß meinen Standpunkt, Sehpunkt haben. Geh ich vor- oder rückwärts oder zur Seite, so seh ich es ganz anders. Also bin ich's, der es empfindet, daß es schön ist. Wir sind aktiv, nicht bloß Spiegel. Das Kunstwerk ist da, aber bei Nacht ist es an sich nicht als ein Schönes da, weil es niemand sieht. Ungesehen ist es nichts als Stoff. Was es ist, ist es dadurch, daß eine Künstlerseele diesem Stoff eine Form gegeben hat, die in kunstempfänglichen Augen das Gefühl des Schönen erweckt. Aber, werden Sie sagen: »ich denke mir einen Urwald mit herrlichen Pflanzen, Blumen, Bäumen, die noch kein menschliches Auge gesehen hat. Die sind doch schön!« Fällt ihnen nicht ein. So lange niemand dabei ist, sind sie nicht schön. Wenn ich sie schön nenne, so denke ich mich eben dazu. Die bloße Natur ohne den Menschen weiß nichts von Schönheit; sie baut nur zweckmäßig. Nimmt man also den Menschen weg, so gibt es kein »schön«. Wohl haben auch Tiere einen gewissen Sinn für (sinnliche) Wohlgefälligkeit, aber damit ist nichts anderes bewiesen, als daß zum Schönen zwei gehören.
Wenn wir sagen: das Schöne ist sinnenfällig, so scheint sich das ganz lächerlich schon von selbst zu verstehen. Aber wir müssen mit dem ABC anfangen, sonst könnte es nachher sehr schwierige Konfusionen geben. Wir legen ganz einfach Grundsteine.
Wir wollen nun darüber ein paar Einwendungen anhören. Es mag einer sagen: »Wie bringen wir dabei die Poesie unter? Die ist ja rein geistig!« Da muß ich nun freilich etwas vorausnehmen. Sie kennen ja das ganz unerforschliche Wunder, daß die Sinnesverrichtungen im Menschen oder Tiere zweimal vorkommen, einmal in ihrer eigentlichen Thätigkeit, wenn ein Gegenstand unmittelbar, im buchstäblichen Sinne aufgefaßt wird, sodann inwendig, in der Phantasie. Es gibt ein inneres Schauen, Hören, Schmecken, Tasten. Wie könnte man sonst träumen? Und so wendet sich der Dichter zunächst an diese nach innen geschlagene, im Geiste sich wiederholende Sinnlichkeit. Gibt er dem inneren Auge nichts zu sehen, so kann er nach Hause gehen, denn er ist kein Dichter. Wer uns nichts zu schauen gibt, der gibt uns für die ästhetische Auffassung nichts. Also auch die Poesie ist sinnlich.
Ferner werden Sie anführen, daß man von »schöner Seele«, »schönen Gedanken« spricht, selbst von »schöner Abrundung« eines wissenschaftlichen Systems, und werden sagen: das ist alles nicht sichtbar, ist ja rein geistiger Art. Allein damit wird nichts bewiesen. In Norddeutschland sagt man auch: »das schmeckt schön«; und in allen diesen Fällen ist das Wort ungenau gebraucht. Für gewöhnlich geht solche Laxheit hin. Wir aber, in der Wissenschaft, müssen das Wort genau nehmen, müssen durchaus bestimmte Grenzen ziehen. So sagt man: »eine schöne That« und meint damit eine sittlich brave That, allein eine solche macht noch nicht schön. Der innere Adel einer »schönen« Seele oder Handlung muß in Erscheinung treten, wenn sie für uns schön sein soll. Es muß absolut etwas da sein für unser Auge oder Ohr.
Man pflegt bei »sinnlich« gleich an etwas Unerlaubtes zu denken, denn man ist ja stets moralisch. Aber das Sinnliche ist unschuldig, wo es nicht mit Pflichten in Konflikt kommt. Im Schönen sind wir ganz und mitten im Gebiete der Sinnlichkeit. Ohne volle, warme, ganze Sinnlichkeit kein Künstler und keiner, der etwas von Kunst versteht. Es gibt wohl eine gemeine Sinnlichkeit, aber auch eine edle, gute, die eben recht ist; und um die handelt sich's hier.
Das Schöne ist dabei immer ein individueller Gegenstand. Dieser Punkt führt uns auf die schwierigsten philosophischen Fragen. Es schadet nichts, wenn ich für jetzt nicht näher darauf eingehe und nur folgendes bemerke.
Unter Individuum verstehen wir eine unteilbare Einheit, einen organisch geschlossenen Körper, worin jeder Teil Mittel und Zweck ist. In diesem höchsten Sinn Individuum ist eigentlich nur der Mensch, und nur er das wahre Objekt aller Kunst. Aber wir nehmen das Wort weiter und bezeichnen damit alles, was in Zeit und Raum abgegrenzt ist. In der Natur verlaufen die Dinge ins Grenzenlose. Denken Sie z. B. an die Unendlichkeit des Himmels. Das Weltall als Ganzes ist kein ästhetischer Gegenstand. Wenn ich etwas schön nenne, so greife ich eine Summe von Erscheinungen heraus und grenze sie wie durch einen Rahmen ab; auch an sich Unbegrenztes; ich nehme mir einen Ausschnitt Luft, Wasser, Erde. So wird uns auch eine Mehrheit von Individuen, eine Gruppe oder Reihe von Gegenständen, eine Folge von Vorgängen, ein Drama, ein zusammengesetztes Bild zu einem Individuum. Eine musikalische Komposition ist individuell, insofern sie den Lebenslauf einer Gefühlsstimmung darstellt. Die innere Einheit eines solchen individuellen Ganzen verhält sich dann zu den in ihr enthaltenen Teilen oder Individuen wie die Seele, der Geist in einem Individuum, in einem Menschen oder Tier, zu seinen Gliedern.
Das Schöne ist ferner unseren Sinnen sympathisch. Es thut uns wohl. Was auf unser Auge oder Ohr unangenehm wirkt, ist immer etwas, was diese Organe auch schädigt. Das Schöne dagegen ist ihnen homogen und bekömmlich. Mutet es ihnen oft etwas zu, was zunächst Unlust erweckt, so bereitet es dann desto mehr Lust. Und diese Lust ist sinnlich. Sinnliche Lust ist im Gebiete des Schönen etwas Vortreffliches, Berechtigtes. Da dürfen wir uns ihr hingeben ohne Gefahr für unsere Seele.
Das Schöne ist also sinnlich und die Lust am Schönen ist auch sinnlich. Diese Lust kann aber nicht bloß sinnlich sein. Das scheint nun ein Widerspruch, aber wer in Sachen des Denkens nur Entweder-Oder kennt, der mag es nur aufgeben, sich damit zu beschäftigen, daß er das Schöne verstehe. Es ist der seichte Verstand, der nur die Alternative hat: sinnlich oder nicht sinnlich. Was tief ist, das ist verwickelt und führt dem seichten Verstand scheinbare Widersprüche entgegen. Wir bleiben also dabei: Das Schöne, die Lust am Schönen ist sinnlich und doch wieder nicht sinnlich.
Zum Beispiel nach der geschmackvollen Anordnung einer Tafel, nach der hübschen Figur einer Speise, Torte, wird nicht viel fragen, wer nichts spürt als Appetit. Kann er sie doch beurteilen und würdigen, so vermag er so lang den Appetit zurückzuhalten. Einer, der nur Hunger hat und ihn nicht vergessen kann, interessiert sich nicht für die Form, sondern für den Stoff, für die Materie der Speisen.
Der Verliebte urteilt nicht am klarsten über die Erscheinung der Geliebten, denn es beseelt ihn der heftige Wunsch, sie zu besitzen.
Ein roher, nicht ästhetisch gebildeter Mensch wird die Anmut der kapitolinischen Venus nicht rein genießen.
Wo sinnlicher Reiz stattfindet, möchte man sich eines Gegenstandes bemächtigen, oder man möchte ihn meiden. Wer einen Meersturm mit erlebt und hat Furcht, der sieht seine erhabene Schönheit nicht.
Im Gebiet des bloß sinnlich Angenehmen gibt es deshalb kein rein objektives, allgemein gültiges, sondern nur ein subjektives Urteil Vgl. oben S. 13, 14.. Hiefür hat ein Wort Kants Geltung: Man soll nicht sagen: »dieser Wein schmeckt gut«, sondern: »er schmeckt für mich gut«. Da liegt eben alles in der Zufälligkeit persönlicher Neigung, im Privatinteresse.
Die Empfindung des Schönen ist dagegen objektiv; sie geht ausschließlich auf das Bild eines Gegenstandes. Und so erweist sich die Wahrheit des Satzes: die ästhetische Lust ist nicht nur eine sinnliche.
Mit dem Worte angenehm verbinden wir wohl auch den Begriff eines gemischten Wohlgefallens, wo neben den sinnlichen Faktoren geistige mitspielen. Angenehm in diesem zweifachen Sinn nennen wir z. B. eine Unterhaltung, welche mit Menschen, die uns sympathisch sind, in bequemer Situation, behaglichem Raum, bei guter Bewirtung stattfindet. Im allgemeinen bezeichnet man aber damit zunächst eine Eigenschaft sinnlichen Wohlgefallens, einen äußeren Eindruck, den die Sinne gern annehmen.
Kant sagt: sinnliches Interesse findet statt, wenn mir nicht bloß der Gegenstand, sondern seine Existenz gefällt, d. h. wenn ich wünsche, daß er für mich da sei. Ein solches Interesse nennen wir pathologisch. Pathologisch heißt: was sich auf einen leidenden Zustand bezieht, krankhaft, in weiterer Bedeutung: sinnlich befangen. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch versteht man unter Pathos: feierlich gehobene Stimmung. Pathos heißt aber ursprünglich Leiden. Pathologie nennen wir die Krankheitslehre, die Wissenschaft, welche sich mit leidenden, krankhaften Zuständen beschäftigt.
Dagegen ist nun also der ästhetisch Betrachtende frei von sinnlicher Befangenheit, frei von Leidenschaft. Alles Pathologische, alles wirkliche Begehren oder Verabscheuen, jeder Wunsch thatsächlicher Aneignung oder Verwerfung bleibt vom Standpunkt reiner Kontemplation ausgeschlossen.
Nun müssen wir es aber genauer nehmen mit der Frage, welche Sinne am Schönen beteiligt sind.
Da haben wir zu unterscheiden unser Verhalten gegenüber der Kunst und gegenüber dem Naturschönen. Bei diesem spielen auch Sinne herein, die bei jener nicht in eigentliche Wirkung treten: die Sinne, die wir die dumpfen, pathologischen, nicht kontemplativen nennen, weil sie leicht Begierde oder Widerwillen erregen, nämlich Tastsinn, Geschmack, Geruch.
Der Tastsinn muß anfassen und setzt die unmittelbare Nähe eines Körpers voraus. Die Kinder greifen nach allem. Sie lernen erst durch Tasten die Dinge und den Raum verstehen. Das Tasten hilft dem Auge und ist in unserem Sehen als Reminiscenz enthalten. Aber an und für sich gibt es uns den Begriff der raumausfüllenden Form nie so, daß wir durch ihn das Ganze derselben umfassen, sie wäre denn so klein, daß sie als ästhetisches Objekt gar nicht genommen werden kann. Tastend berühre ich nur Teile, kann ich nur nach und nach ein Ganzes umfassen; und wenn ich darauf beschränkt bleibe, so erhalte ich doch keinen deutlichen Eindruck. Gewinne ich dabei dennoch eine bestimmte Vorstellung von Form und Zusammenhang, so ist vorher schon das Auge thätig gewesen.
Zum Tastsinn rechnet man auch den Hautsinn, der namentlich die Temperatur anzeigt. Wir spüren kalt, warm, glatt; wir spüren rauh, feucht, trocken, lauter Eindrücke, die leicht pathologische Reize entbinden.
Aus dem Gesagten ist zur Genüge ersichtlich, daß die Beziehung des Haut- und Tastsinnes zum Gegenstand sehr sinnlich und mit praktischen Gedanken verbunden ist. Da ist alles zu nahe, zu direkt körperlich, um rein ästhetisch zu wirken.
Noch mehr ist dies der Fall beim Geschmack. Stoffteile werden durch den Mundsaft chemisch aufgelöst. So empfindet der Geschmack ihre Qualität als bitter, süß, sauer. Er fungiert mit als ein Werkzeug zum unmittelbar körperlichen Existieren mittelst Ernährung. Im höchsten Grade sinnlich dumpf, wie er ist, erregt er Lust im Sinne der Begierde, oder Unlust im Sinn des Abscheus. Die Kunst steht ihm also fern. – Doch wird der Begriff Geschmack bildlich auf das Gebiet des Schönen übertragen. Wir sprechen in höherem Sinne von gutem Geschmack und vergleichen dabei die Feinheit des ästhetischen Urteils mit dem zarten Abwägen der kostenden Zungennerven.
Der Geruch steht schon höher. Er verlangt nicht solche Nähe, nicht eigentliche Berührung mit den Gegenständen selbst. Wohl tritt auch er mit ihnen in eine chemische Beziehung, er empfindet ihre in Gasform aufgelösten Atome. Und zum Teil dient er gleichfalls der Ernährung, indem er untersucht, ob etwas genießbar, schmackhaft, wohlbekömmlich ist. Die Nase dient so dem Mund als Vorposten. Der Geruch ist ein Bote des Geschmacks. – Aber er hat auch feinere Wahrnehmungen. Blumendüfte affizieren nicht bloß sinnlich, es schweben mit ihnen geistige Stimmungen herbei, und das hebt schon etwas ins Ideale hinüber. Jedoch in der Kunst darf uns dergleichen nicht unmittelbar vorgeführt werden. In ihrem Gebiet soll dieser dumpfe Sinn nicht in wirkliche Funktion treten; denn Gerüche kann man nicht bloß scheinbar darstellen, sie werden kein Schein wie Geschautes und Gehörtes. Bei der Aufführung von Gounods Faust in Paris hat man im Augenblick der Himmelfahrt Gretchens eine Unmasse von Wohlgerüchen über das Proscenium verbreitet. Das ist grob sinnlich. Mephisto würde dazu nur sagen: gut, was wollt ihr dann thun, wenn ich auftrete?
Uebler Geruch erregt Ekel und wirkt dadurch furchtbar entfremdend gegen alles Schöne; er ist sein größtmöglicher Feind. In einem Raum, wo es übel riecht, kann die anmutigste Erscheinung nicht gefallen; und nicht einmal das Wort »stinken« mögen wir gern aussprechen.
So zart und scheu, so empfindlich und leicht zurückschreckend ist der Geruch. Wir bezeichnen diese Gefühlsart der Kürze halber mit dem Fremdwort »apprehensiv«, weil es ihre verschiedenen Eigenschaften zusammenfaßt.
Ganz anders beschaffen, als die wahren Organe des Schönen berufen sind dagegen die beiden kontemplativen Sinne: Gesicht und Gehör.
Wir sehen auf Distanz, ohne daß sich deshalb etwas vom gesehenen Körper ablösen müßte. Nur auf den Lichtwellen herankommend, wird sein Schein in Form, Farbe, Bewegung von uns wahrgenommen. Um ihn als Ganzes zu fassen und die Totalwirkung seiner Oberfläche aufzunehmen, müssen wir immer mehr oder weniger zurücktreten. Damit ist schon die ästhetische Ueberlegenheit des Auges ausgesprochen. In der Distanz bleibe ich mit dem Geschauten ruhig. Es drängt sich nicht auf, und ich verhalte mich zu ihm ganz frei. So findet ein klarer Gegenschlag zwischen Objekt und Subjekt statt. Die Seele kann dabei gelassen mitthun. Das Gesicht ist also ein rein betrachtender, kontemplativer, d. h. objektiv auffassender Sinn und deshalb im Schönen der wichtigste, der am nachdrücklichsten beteiligte.
Wir haben uns bereits erinnert, daß im Sehen etwas vom Tasten nachwirkt. Der Mensch und das Tier lernt nicht sehen, ohne sich sehr oft gestoßen zu haben. Denn wir sehen die Dinge eigentlich nur als Flachbilder; und daß sie räumlich sind, würde uns das Auge allein nicht sagen; das lernen wir erst durch das Begreifen (im ursprünglichen Sinne des Worts). Kaspar Hauser, jener geheimnisvolle, von unbekannten Menschen in dunklem Raum herangezogene Findling, hielt eine Landschaft, vom offenen Fenster aus gesehen, für ein Bild und griff nach dem Mond. Indem wir die Formen sehen, ist unser Tastsinn noch nachwirkend. Er ist sozusagen implicite oder latent im Auge vorhanden, verborgen in ihm eingehüllt, heimlich in ihm thätig.
Gesichtseindrücke können nun wohl auch stoffartig wirken, Begierde oder Abscheu unmittelbar hervorrufen, aber das kommt nicht so leicht vor wie bei den Wahrnehmungen der zuvor genannten Sinne. Jeder kann parteilos dabei sein. Und es tritt, wie sich später zeigen wird, eine ganz andere, höhere Wirkung hinzu. Bloß Formen, Farben gewinnen für die ästhetische Betrachtung den Anschein geistigen Lebens. Wir legen ihnen unbewußt etwas Seelisches bei.
Das Gehör nimmt die Schallwellen auf, welche durch Vibrieren eines Körpers hervorgebracht werden. Dieser verrät ihm in seiner Klangfarbe das Ganze seiner inneren Textur. Und in der Stimme des Menschen gibt sich dem Gehör seine Seele und Stimmung kund, in der Sprache sein Denken. So steigt das Gehör zhttps://www.gaga.net/pgdp/tools/proofers/gfx/bt3.pngu gleicher Höhe wie das Gesicht. Es offenbart uns nicht nur, was uns dieser oder jener Mensch sagen will (das kann sich ja der Taube ersetzen), sondern auch die Temperatur des Tones, in welchem gesprochen wird, die verinnerlichte Natur. Das macht den Tauben so unglücklich, er kann den Herzenston nicht hören. Er weiß nicht, wie es klingt, ob freundlich, barsch, mild, streng, falsch, heuchlerisch gesprochen wird; und das macht ihn mißtrauisch.
Das Gehör ist ein eigentümlich intimer Sinn. Die durch Erschütterung der Luft erregte Vibration des hörenden Nervs trifft uns mitten in unserem Existenzgefühl. Das Gehör scheint sich so fast wieder den dumpferen Sinnen zu nähern. Denn es ist außerordentlich empfindlich und reizbar. Laute Töne können bis zum Aeußersten pathologisch erregen, schmerzen, erschüttern, erschrecken. Doch das Gehör hat auch eine ungleich geistigere Seite. Wie das Gesicht in bloßen Formen, Farben, Bewegungen, vernimmt es in den Tönen der Instrumentalmusik, selbst im Rauschen des Windes etwas Seelisches. Dies gibt ihm eine ungeheure Wichtigkeit.
Gesicht und Gehör sind also die berufenen Sinne der Kunst.
Nun müssen wir uns aber daran erinnern, daß wir eine zweite, eine innere Sinnlichkeit in unserer Phantasie besitzen; und in diesem Elemente, das, wie wir gesehen haben, der Dichtkunst angehört, gewinnen die dumpferen Sinne doch ein gewisses Recht, eine relative Geltung. Sie werden nur indirekt beschäftigt, wenn wir bildliche Ausdrücke gebrauchen wie: bitterer Kelch, bitteres Leiden, harte Erfahrung, süßer Schreck, und ein Dichter darf ganz wohl auch Geschmacksvorstellungen hervorrufen. Ebenso können Eindrücke des inneren Tastsinns, das Glatte, Rauhe, Warme, Kalte, in einem poetischen Ganzen ungemein wirken. Lady Macbeth prahlt mit ihrem Mut, das Kind mit dem weichen, zahnlosen Mund an die Wand zu schleudern. Die Poesie versäumt auch keineswegs, unsere Phantasie durch Erinnerung an Wohlgerüche anzuregen, das Bild, welches sie uns von der Natur macht, durch die Vorstellung ihres Duftes zu beleben. Sie kann uns unter Umständen sogar Mißgerüche vorführen. So reden die Alten, Homer und Virgil, von dem pestilenzialischen Gestank des Kozytus, des Stroms der Unterwelt, wobei sie denken mochten an den alten Schwefelbrodem der Krater, der Solfatara, des Lacus Avernus und des sogenannten Thors der Hölle bei Neapel.
So sind die drei dumpfen Sinne in der Kunst wenigstens mittelbar beteiligt. – Ihre direkten Reize bleiben dagegen auf das Reich des Naturschönen beschränkt, weil sie nicht rein kontemplativ sind.