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§ 6.

Der Gehalt im Schönen ist, wie sich aus § 5 ergibt, mittelbar oder unmittelbar stets der Mensch. Das Schöne ist wesentlich persönlich. Beseelung der ganzen Natur und Naturwerdung alles Geistes.

 

Dieser Satz in meiner Aesthetik hat vielfach befremdet und Bedenken erregt. Ich kann es nicht begreifen. Man hat mir gesagt: »Wie? Die Kunst stellt den Menschen dar? Das kannst du etwa sagen von der Skulptur oder von einem Teil der Malerei, aber nicht von der ganzen Kunst, vor allem nicht von der Architektur. Und die Poesie? Auch sie gibt uns Bilder von Erscheinungen, worin kein Mensch auftritt.« Wie flach sind diese Bemerkungen!

Die Architektur, die soll keinen Menschen darstellen? Was stellt sie denn dar? Schon bei unserem Einblick in die Formsymbolik haben wir gesehen, daß sie das innere Leben der menschlichen Seele zum Ausdruck bringt. Dabei spricht sich in einem künstlerisch gestalteten Gebäude der Zustand, der Verkehr, das Geschäftsleben aus, dem es dient, die Würde eines Menschenganzen und seiner Thätigkeit. Jedes monumentale Bauwerk, auch ein Privathaus solcher Art, zeigt uns, daß hier in diesen Räumen sich ein edleres Menschendasein niedergelassen hat.

Und der Tempel, die höchste Form der Architektur, ist, heidnisch zu sprechen, nichts anderes als das ideale Haus für den Gott; christlich zu sprechen, nichts anderes als ein Gebäude, das im Aeußeren wie im Inneren ausdrückt, daß hier die andächtige Gemeinde sich versammelt; und das ist ja der Mensch. Die Baukunst ist also in diesem Sinne vollständig eine Darstellungskunst.

Die Musik stellt Stimmungen dar, wie sie dem Menschen eigentümlich zugehören.

In den metrischen Formen der Poesie, haben wir uns schon gesagt, drücken sich die Gangarten der Gefühle aus.

Und was haben wir in der äußeren Natur, wenn wir absehen von den Menschen in ihr? Zunächst nur anorganische und vegetabilische Formen. Aber wir sind nun auch hier in dem Vorteil, uns an das zu erinnern, was ich mit dem Paragraphen fünf auseinandergesetzt habe, an jene dunkle, aber naturnotwendige Symbolik. Unser ästhetisches Gefühl für die Landschaft beruht darauf, daß wir in Licht und Dunkel, Wolken und Wasser, Erdformen und Pflanzen unwillkürlich Seelenstimmungen legen.

Ein Landschaftsgemälde ohne seelischen Gehalt ist kein Kunstwerk. Wir unterscheiden stilistische und Stimmungslandschaften. Die letzteren gehen tiefer in das rätselhafte Sein. Aber auch eine Stillandschaft ist Stimmungslandschaft, nur mit anderen Grundbewegungen, nur mehr vermöge der Zeichnung und Komposition. In der Natur ist Stimmung nichts anderes als ein menschlicher Seelenzustand, den wir ahnend hineinlegen.

Dafür hat aber der Dichter das Wort. Und schon der gemeine Sprachgebrauch drückt es aus in abgetretenen Redensarten, wie »der lächelnde Morgen, die brütende Nacht«.

Helles Dunkel, Zwielicht, erscheint uns wie ein Bild träumerischer, ahnungsvoller Seelenzustände. Nehmen Sie z. B. Goethes Lied an den Mond, unter den Tausenden von Mondliedern vielleicht das schönste; sehen Sie, wie hier diese Beleuchtung wirkt und die Stimmung erzeugt, zu empfinden:

Was von Menschen nicht gewußt,
Oder nicht bedacht.
Durch das Labyrinth Brust
Wandelt in der Nacht.

Sie fühlen in dem Gedicht auch das eigentümlich leise Wandelnde im Versmaß und in der Folge der Vokale und Konsonanten.

Wir sprechen vom »grollenden Gewitter«. Das wäre ja ein unsinniges Bild, wenn wir nicht überhaupt Stimmung in die Naturereignisse legen würden.

Schiller sagt im Spaziergang vom Gießbach: »Durch die Rinne des Felsen, Unter den Wurzeln des Baums bricht er entrüstet sich Bahn.« Wie wahr! Wer im Gebirg einem wilden Wassersturz zusieht und nicht so sehr sich hineinversetzen kann, daß er wähnt, die Wasser wüten über ihre Hindernisse hinweg, wer dieses Phantasievermögen nicht mitbringt zu den bloßen Naturerscheinungen, der kann zu Hause bleiben.

Im Vorspiel zu Goethes Faust heißt es vom Dichter:

»Wodurch bewegt er alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt
Und in sein Herz die Welt zurückeschlingt?«

Wir legen die Natur an unsere Brust und legen uns an ihre Brust. Indem wir sie in unsere Seele hereinnehmen, durchtränken wir sie mit Seele.

»Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüten?« Wer beseelt die Natur? Jeder Mensch beseelt die Natur, aber ganz und voll nur der Dichter. Der begleitet das Bild der Leidenschaft so mit dem Sturm, daß man meint, dieser habe auch Leidenschaft. Namentlich auf Shakespeare möchte ich Sie aufmerksam machen. Es ist bei diesem Dichter, als ob Nervenfäden vom Menschen unsichtbar in die Natur liefern, so daß seine Seele und sein Nervenleben draußen in der Natur zu vibrieren scheint. Dafür ist ein Beispiel, wie Othello, ganz vom Verdacht vergiftet und überzeugt, daß sein Weib schamlos gewesen, in der furchtbaren Scene, wo er sie verhören will, sie statt dessen mit den entsetzlichen Worten niederschmettert:

Der Buhler Wind, der küßt, was ihm begegnet,
Verkriecht sich in die Höhlungen der Erde
Und will nichts davon hören.

Der Sturm im König Lear ist kein Sturm, der bloß aufgeboten ist, um einen Effektschlag hervorzubringen. Hier meint man, die Natur selber wolle in das Chaos zurücksinken. Da in der Menschheit die Barbarei so gewachsen ist, daß dieser Greis in das Gewitter hinausgesperrt wird, meint man, die Natur wolle selbst wahnsinnig werden.

Macbeth, zum Morde schreitend, spricht die Worte:

»Du festgegründet sichrer Bau der Erde,
Hör meine Schritte nicht, wo sie auch wandeln,
Damit nicht deine Steine selbst verschwatzen
Mein Wohinaus!«

Im Lied von der Glocke sagt Schiller von der Feuersbrunst: »Denn die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand.« Dies ist schön und ist gründlich unwahr. Die Elemente hassen nicht, und sie lieben nicht. Aber das ist Poesie; da ist Seele, Stimmung, Leidenschaft hinübergetragen in die Natur.

Diesem Hinübertragen und Unterlegen verdanken wir ja die ganze Götterwelt. Die Götter sind ursprünglich rein gar nichts als Naturpotenzen. Wenn die Alten in der Natur das Heilsame oder das Schädliche, unheimlich Verlockende, in die Tiefe Hinabziehende sahen, so hielten sie es nicht anders für möglich als mit der Vorstellung: dahinter muß ein Wesen sein, das, wie wir Menschen, liebt und haßt. Jupiter ist ursprünglich gar nichts als das Himmelsgewölbe. Erst später und nachträglich wird er der die Weltordnung gründende Gott. Der Unterschied zwischen uns und jenen Naturvölkern ist nur der, daß wir, wenn wir auf diese Weise die Natur beseelen, es thun mit dem unbewußten Vorbehalt: es ist nicht eigentlicher Ernst (sonst würde notwendig Vergötterung eintreten). Die Alten aber glaubten mit Ernst an diese Vorstellungen.

Der Quell, der Bach, der Fluß, der See, das Meer wird lebend, und so hatten ja die Wasser in Hellas alle ihre Götter und Dämonen; so hatte jede Landschaft ihren Genius. Aus dieser Beseelung der Natur ist jener reiche Olymp hervorgegangen, welchen Schillers »Götter Griechenlands« gewidmet sind. Die Dichterphantasie sehnt sich nach der ungemeinen Schönheit, welche darin liegt, daß ein ganzes Volk so phantasievoll war, die gesamte Natur zu beseelen und mit Göttern zu bevölkern. Es ist ganz geistlos und pedantisch. Schiller deshalb anzugreifen; wie es ja geschehen ist. Hier spricht eine Dichterstimmung; und derselbe Dichter kann auch ein andermal etwas aus der christlichen Mythologie besingen, denn auch wir haben noch genug. Doch dies ist hier nicht zu verfolgen.

Die Beseelung wird also zur Personifikation, d. h. zur Götterbildung. Die in die Natur hinübergelegten Seelen sind nun Götter. Das Heidentum nimmt sie für wirklich. Für uns aber sind sie bloßes Spiel der Phantasie und haben dadurch ihren ästhetischen Wert. Ich erinnere Sie an Goethes Gedicht: »Der Junggesell und der Mühlbach«, worin das Bächlein ein Leben erhält, als könne es auch nicht lange genug verweilen, wo die schöne Müllerin ist.

Wir wollen einmal lesen Mörikes Gedicht: »Mein Fluß«. Was ist der Gegenstand? Ein Flußbad in der Morgenfrühe. Sagen Sie das einem phantasielosen Menschen, so wird er nicht begreifen, was denn daraus zu machen ist. Wir haben aber jetzt hierin nicht einen Genuß zu suchen, sondern wir müssen uns Rechenschaft geben von seinen Gründen, wir müssen auch auf die Form achten und uns fragen, warum sie so und nicht anders wirkt. Bemerken Sie einmal: es sind Jamben, die gehen bewegt vorwärts, und die Reimfolge wechselt.

O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl!
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange!
– Er fühlt mir schon herauf die Brust,
Er kühlt mit Liebesschauerlust
Und jauchzendem Gesange.

Der erste Reim männlich, der zweite weiblich, eine fließende, durchaus wohlgefällige Art der Abwechselung. Die fünfte und sechste Verszeile reimen sich unmittelbar, sind männlich und bringen mehr Bewegung hinein. Dann aber die siebente greift zurück und faßt so den Schluß zusammen mit dem ersten Teil der Strophe. Dieses formale Gesetz gehört wesentlich zum Ausdruck.

Es schlüpft der goldne Sonnenschein
In Tropfen an mir nieder,
Die Woge wieget aus und ein
Die hingegebnen Glieder;
Die Arme hab ich ausgespannt,
Sie kommt auf mich herzu gerannt,
Sie faßt und läßt mich wieder.

»Die Woge wiegt.« Eine Allitteration und geradezu das Zeitwort gebildet aus derselben Wurzel. Das bringt das eigentümliche Gefühl des rhythmischen Auf- und Niedergleitens. Dann fühlen Sie auf einmal das Eilende im Vers. Das Element wird tiefer und tiefer mit Geist durchdrungen und schließlich kommt der prächtige Vers:

Du weisest schmeichelnd mich zurück
Zu deiner Blumenschwelle.
So trage denn allein dein Glück
Und wieg' auf deiner Welle
Der Sonne Pracht, des Mondes Ruh:
Nach tausend Irren kehrest du
Zur ew'gen Mutterquelle!

Das heißt die Natur beseelen! Das ist Phantasie, – trocken wissenschaftlich gesprochen: Symbolisierung, intim ahnendes Einfühlen.

Weiter! Man muß sich auch des Menschenähnlichen und Menschenverwandten im Tiere erinnern. Die Fabeln, welche von redenden Tieren erzählen, sind uralt. In ihrem idealen Kinderzustand glaubte die menschliche Phantasie ganz leicht, Tiere könnten sprechen und empfinden wie Menschen. Der tote Achilles wird von seinen Rossen betrauert. Denken Sie auch an das Roß, das die Haimonskinder trägt. Dies und anderes ist nicht in der Studierstube gemacht, sondern dem uralten Kinderglauben der Völker entsprungen. Das Kind belebt und beseelt ja alles. Dies ist Phantasie und ästhetisch sehr zu schätzen.

Die Tiere, unsere niedrigen, armen, zurückgebliebenen Brüder, die leider das Examen zum Menschen nicht haben bestehen können, sind uns ja so tief verwandt. Deshalb können sie uns komisch erscheinen und rührend. Wenn Koller eine Kuh malt, die sich in eine Felsvertiefung zurückgezogen hat wie in ein Stübchen und nun da zärtlich ihr Kalb leckt, wem ist das nicht eine Analogie zur menschlichen Mutterliebe? Wilde Tiere haben von jeher gedient, menschliche Kraft und Gewalt darzustellen. In allen alten Heldengedichten werden die Helden mit Tieren verglichen.

Aber auch ganz leblosen Gegenständen, z. B. Werkzeugen, Waffen legen wir Seele unter. Es ist als ob in das Schwert ein Geist führe. Das Richtschwert ahnt es, wenn einer, dessen Ende Henkerstod sein wird, in die Kammer des Scharfrichters kommt; es zuckt an der Wand und erklirrt. Homer läßt die Lanze lechzend nach Blut daherstürmen. Wer das nicht mitfühlt, muß schon grunderdentrocken sein. Waffen werden getauft. Schwerter, Kanonen erhalten wie Schiffe und Glocken ihre Namen (Hurlebaus, Weckauf). Dieses Taufen und Benennen ist der Ausdruck einer Beseelung des toten Objekts.

Was sagt doch Faust, da er in Gretchens Zimmer tritt, vom alten Lehnstuhl?

»O nimm mich auf, der du die Vorwelt schon
Zu Freud und Schmerz im offnen Arm empfangen!«

Möbel, denen man das Gebrauchte ansieht, erinnern an das Familienleben. So ist es, als wohnte eine Seele in diesen Dingen; und das sagt der Dichter, das gibt der Maler im Bilde zu fühlen.

Denken Sie auch an Stilllebenbilder worin Geschirr, Speisen, Getränke, Blumensträuße, Früchte, getötete Tiere zusammengestellt sind. Schnaase hat in seinen niederländischen Briefen geschrieben: das Stillleben ist ein Bild, das die Nähe des Menschen andeutet, des wohllebenden Menschen, der kommen wird, den Genuß zu nehmen. Doch das darf nicht zu wörtlich aufgefaßt, nicht zu stark betont werden. Denn der Maler will zunächst darstellen, wie diese Gegenstände aussehen. Aber es ist ein mit hinschwebender Gedanke, der nicht ferne zu halten ist. – Blumengruppen wird man immer gern anschauen. Zunächst handelt es sich darum, daß das wirkliche Leben, die Art und Qualität dieser Blumen wahrhaft gegeben sei. Doch die Betrachtung wird dabei von der Vorstellung begleitet: dies ist zur Begrüßung.

Das Gesagte wird hinreichen, zu zeigen, wie wir auch in diesen Gebieten, wo kein Mensch dargestellt wird, doch den Menschen finden, wie wir die Natur beseelen, das bloß Sinnliche vergeistigen.

Nun aber wollen wir uns umkehren und sehen, wie die Phantasie das Geistige versinnlicht. Sie führt die geistigen Funktionen, Begriffe, Thätigkeiten in die Natur hinaus und umkleidet sie mit Natur. Dem Abstrakten gibt sie einen Leib. Also jetzt wird die Seele zur Natur; und dieser Prozeß ist dem Schönen ebenso wesentlich wie jener andere, vermöge dessen die Natur zur Seele wird.

Exeter, der in Shakespeares Heinrich V. berichtet, wie die Herzoge York und Suffolk zu Tode verwundet nebeneinander auf dem Schlachtfelde lagen und wie die verblutenden Helden sich zärtlich umfaßten, schließt mit den Worten:

»Ich hatte nicht so viel vom Mann in mir,
Daß meine ganze Mutter nicht ins Auge
Mir kam und mich den Thränen übergab.«

Das heißt eine Stimmung personifizieren. So sagt der Dichter anstatt: die Weichheit, die mir als Erbteil von der Mutter angeboren, u. s. w. Was spricht Shakespeares Macbeth in dem furchtbaren Moment, da er hinaufsteigt, Duncan zu morden?

Jetzt auf der halben Welt
Scheint die Natur gestorben, böse Träume
Beschleichen den verhangnen Schlaf, der Zauber
Begeht den Dienst der bleichen Hekate,
Und dürrer Mord, geweckt von seiner Schildwacht,
Dem Wolf, der das Signal ihm heult, fährt auf,
Schleicht vorwärts mit weit ausgeholten Schritten
Wie einst Tarquin in seiner Brunst, und rückt
Nach seinem Ziel hin, wie ein Geist.

Der Mord ist also zu einem persönlichen Wesen geworden.

»Eifersucht, das grünäugige Scheusal,« sagt Shakespeare. Seine Phantasie strotzt von solchen Belebungen. Von der Zeit sagt er einmal: »der hagere Küster, der kahle Glöckner: Zeit.«

Schiller läßt in Kabale und Liebe Ferdinand sagen: »Ich weiß eine Zeit, wo man den Tag in seine Sekunden zerstückte, wo Sehnsucht nach mir sich an die Gewichte der zögernden Wanduhr hieng.«

In seinem Lied von der Glocke heißt es: »In den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen.« So ist unser Grauen zu einem Wesen für sich gemacht.

Das ist der magische Akt, den der Dichter vollzieht.

Direkt oder indirekt haben wir also immer den Menschen. Kein Gehalt ist ästhetisch wirksam, der nicht menschlich anspricht; auch der ärmste Gehalt wird durch die Phantasie so beseelt, daß er in Beziehungen zum Menschlichen kommt.

Was ist doch im Schönen für ein eigentümliches Rätsel gelöst! In der gewöhnlichen, prosaischen Betrachtung der Dinge fällt uns die Welt in zwei Stücke: Natur draußen – Seele, Geist, das Innere in uns. Und wir laufen herum und meinen, wir wissen etwas mit diesem an unseren Schuhsohlen abgelaufenen Gegensatz, den keine Philosophie gut heißen kann! Man meint, man müsse immer beide trennen, wie etwa durch eine Bretterwand, die höchstens ein paar Löcher hat, daß man vom einen ins andere sehen kann. Aber nein! Die Natur steigt Stufe um Stufe empor, ein Wesen bildend, das Nerven, also Empfindungen hat, höher und höher zu dem, was wir Geist nennen, Selbstbewußtsein, allgemeines Denken; und wenn nun der Geist, nachdem er aus dem Ei der Natur ausgeschlüpft ist, in Widerspruch mit diesem seinem mütterlichen Ursprung kommt und ihn bekämpfen muß, so verändert das doch rein gar nichts an dem philosophischen Satz, daß Natur und Geist eine Wurzel haben müssen; und diese Einheit erleben wir im Schönen. Das Schöne, die Kunst, die Poesie einigt das vom gemeinen Verstand in zwei Hälften zerrissene Weltall wieder, faßt Geist und Natur wieder in eines zusammen, hebt uns weg über die unschöne Prosa, welche die Welt in zwei Teile zersägen will. Es kann im Universum alles ursprünglich nur eines sein, Ausstrahlung von einem und demselben Grundwesen; und diese Einheit wird im Schönen wieder hergestellt. – Wenn man sich die Wunder der Natur erklärt aus einem menschenähnlich gedachten Wesen, das erschafft und leitet, so wird die Natur immer verwaist. Wir müssen auf den Begriff Lenkung ganz verzichten. Die Natur ist der Boden, woraus der Geist aufsteigt.

Wenn ich sage, die ästhetische Auffassung der Kunst stellt so aus den getrennten Stücken des Universums eine lebendige Einheit dar, so vergesse ich dabei nicht, daß das zunächst so, wie es mit Worten der Dichter thut, nicht zutrifft. Das ist ja nicht sachlich wahr, daß dieser Fluß von einem Geheimnis rauscht. Unmittelbar ist es nicht wahr. Aber hinter dieser schönen und herrlichen Lüge sitzt doch die tiefe allgemeine Wahrheit, daß die Natur der Schoß des Geistes ist. Es ist nur Schein, daß die Lüfte flüstern, daß der Pfeil blutlechzend dahinjagt, aber in dem Schein erscheint ein Kern, offenbart sich die Einheit des Universums.

Fichte sagt: »Die Kunst macht den transcendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen.« Er hat damit nichts anderes sagen wollen, als was ich vorhin ausgesprochen habe. Der »transcendentale« Gesichtspunkt ist der höhere, dem Hausverstand fremde, ihn weit übersteigende Gesichtspunkt, womit wir innewerden, daß das Universum im Grund eine Einheit sein muß, und dieser Gesichtspunkt macht das Schöne zum gemeinen, d. h. zum populären, so daß wir ihn besitzen, ohne ihn philosophisch errungen zu haben.

Also verborgene Philosophie ist im Schönen. Ich glaube, Sie werden jetzt dies Wort nicht mehr übertrieben finden.


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