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Die Form, d. h. die erscheinende Einheit in der Vielheit und Vielheit in der Einheit (vgl. § 4) enthalt folgende Momente: Begrenzung in Raum und Zeit. Maß. Klare Teilung des Vielen. Regelmäßigkeit (in verschiedenem, nach Gebieten modifiziertem Sinn). Symmetrie (ebenso). Proportion. Lebendige, organische, Kontraste setzende und lösende Harmonie. Dies letztere Moment schließt die übrigen (vgl. § 11) in sich und gibt ihnen ihre wahre, tiefere Bedeutung. – Durch das Ganze seiner Eigenschaften erweckt das Schöne als die sinnenfällige, ausdrucksvolle harmonische Form eine Stimmung, welche die Vorstellung eines harmonischen Weltalls enthält. Die Lust in seiner Anschauung trägt den Charakter der Unendlichkeit. Das Schöne ist der Punkt, wo die Gegensätze des menschlichen Wesens in eins fallen. Dies ist der innerste Grund seiner Notwendigkeit.
Hiemit kommen wir also an die formellen Bestimmungen des Schönen. Das Schöne ist Form. Damit müssen wir es nun genauer nehmen. Es liegt schon lange allen unseren bisherigen Betrachtungen auf der Zunge, zu sagen: kommt eines Wesens Lebensgehalt ganz zur Erscheinung, so wird die innere Gesetzmäßigkeit in der Form als Harmonie, als Ordnung erscheinen. Vieles ist im Schönen zu messen, zu zählen, aber doch könnten wir den Formalisten nicht beistimmen. Die Bestimmungen unseres Paragraphen sehen mathematisch aus, wollen sich aber nicht recht fassen lassen.
Es ist uralt, daß man das Schöne als Formgesetzlichkeit bestimmt hat. Plato sagt: Das Schöne ist das Maß, das Symmetrische, das Begrenzte Philebus: μετριότης καὶ συμμετρί Wirkung des πέρας im ἄπειρον; ich bringe in ihm das Begrenzte hinein in das Unbegrenzte. So auch Aristoteles Τάξις καὶ συμμετρία καὶ τὸ ὡρίσμενον.. Ein Engländer des vorigen Jahrhunderts spricht sogar von einer Schönheit in mathematischen Figuren und Lehrsätzen Hutcheson: Enquiry in to the orgine of our ideas of beautie and vertue, 1720 (er sieht alles in der Regelmäßigkeit, Symmetrie, Proportion). Dagegen Burke: Enquiry of our ideas of the sublime and beautiful, 1757.. Ich will hier auch zitieren, wie Goethe im Gespräch mit Hemsterhuis das Schöne definiert hat. Er berichtet darüber: »Ich aber mußte sagen: das Schöne sei, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduktion gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Thätigkeit versetzt fühlen.« – Bemerken Sie es wohl! Das haben wir uns ja bereits auch gesagt. –
Wie verhält es sich nun aber mit der Gesetzmäßigkeit, Regelmäßigkeit?
Vorausgeschickt sei: Einige der Momente, die wir nun zu verfolgen haben, sind allerdings starr mathematisch und gelten auch in bestimmten Gebieten der Kunst. Aber es ist wohl zu beachten: diese Momente, die wir abstrakt nennen wollen, weil sie keine lebende Naturform ausdrücken, sie walten nicht durch die ganze Sphäre des Schönen, sondern werden in großen Gebieten durchbrochen, so daß sie nur noch ungefähr hereinstreifen Vgl. Fr. Vischer, Kritische Gänge, N. F. II, S. 64, 71, 72. A. d. H.. Und auch da, wo sie walten, steckt etwas anderes noch dahinter, als es scheint. Jedoch im allgemeinen ist zu sagen: es wird immer sein: Einheit in der Vielheit. Nichts Zusammenhangloses ist schön. Die Vielheit muß gebunden sein durch eine Einheit.
Verlangt wird vor allem: bestimmte äußere Begrenzung. Dies geht nun natürlich schon daraus hervor, daß wir gleich gesagt haben, das Schöne sei immer ein Individuum. Begrenzung in Raum und Zeit, das scheint sich so ungeheuer von selbst zu verstehen, daß man fragen könnte: warum bringt man das auch? Allein was sich noch so sehr von selbst versteht, kann doch der Aufmerksamkeit entgehen, und deshalb haben wir auch von diesen von selbst sich verstehenden Dingen zu reden.
Alles, was in der Welt ist, steht in einem fortlaufenden Zusammenhang. So alles, was wir mit dem Auge wahrnehmen. Eine Handlung z. B. steht im unendlichen Fluß der Begebenheiten, ist also an sich nicht herausgehoben, aber alles Schöne ist ein Herausschneiden des Gegenstandes aus der unendlichen Vielheit der Dinge. Also wir geben eine Grenze. Ein Gemälde ohne Rahmen gefällt nicht, man will einen Abschluß. Das folgt schon aus dem Begriff: Individuum Vgl. oben S. 30.. – Als unteilbare Einheit gefaßt, führt er eigentlich tiefer. Doch hier soll das noch nicht in Betracht kommen. – Wir haben gesehen: Das Schöne ist sinnenfällig individuell. Und daß es ein Individuum sein muß, gilt im weiteren wie im engeren Sinne. Wir können auch ein größeres Ganzes, das eine Mehrheit von Individuen in sich befaßt, als ein Individuum betrachten. Die innere Einheit verhält sich dann zu den Individuen wie die Seele, der Geist in einem Individuum zu seinen Gliedern. Aber ein Individuum will abgegrenzt sein, herausgehoben aus der Unendlichkeit der Zeit oder des Raumes. Also das Gesetz der Abgrenzung besteht.
Denken Sie auch an eine schöne Landschaft! In der Natur ist der Gegenstand kontinuierlich, er läuft fort und immer weiter. Die Landschaft eines Malers ist aber ein Ausschnitt aus der Natur, die ins Unendliche fortläuft. Da ist es nun nicht so leicht, sich zu sagen, bis wohin der Maler diesen Ausschnitt führen soll. Wo soll er denn sein Bild aufhören lassen? Dies führt freilich auf das Innere, denn da kann nur das Gefühl entscheiden: bis dahin genügt das Zusammengestellte, damit ein ausdrucksvolles Bild entstehe; wenn ich hinzufüge oder wegnehme, störe ich die Bildwirkung.
Ein Musiker wird ganz wissen, was ich sage. Ein Finale z. B. kann abschnappen, oder zu lang fortdauern. Man muß den überzeugenden Eindruck haben: hier ist das Stimmungsganze zu Ende geführt.
Ferner ein Drama. Es greift in die Geschichte hinein, und die läuft doch fort. Die Geschichte der Niederlande ist vor dem Zeitpunkt gewesen, wo Goethes Egmont anfängt, und ist nachher auch weiter gegangen. Da kann sich nur der feinste Sinn sagen: bis hierher und nicht weiter. Shakespeares Hamlet schließt damit ab, daß die gesellschaftliche Ordnung durch einen braven Mann wieder hergestellt ist. Und das ist gut. Weiter braucht man nicht zu fragen; das Weltbild ist doch da.
Denken Sie auch an die Einfassungen des Kunsthandwerks, z. B. an Bucheinbände, Vertäfelungen u. dergl. Unsere Aufmerksamkeit ist seit einiger Zeit wiederum besonders darauf gerichtet. Das Auge will einen Abschluß, eine Beruhigung, ein Punktum haben.
Die zweite Bestimmung unseres Paragraphen ist das Maß. Das bezieht sich auf Raum (Größe), Zeit (Länge und Kürze der Dauer) und Kraft (welche eigentlich auch schon weiterführt).
Ein Kunstwerk soll nicht zu groß und nicht zu klein sein Vgl. Aristoteles, Poetik VII, 101.. Ueberschreitet es durch Größe die Fassungskraft unserer Sinne und inneren Vorstellung, so schadet es sich selbst.
Die antike Kunst ging zuletzt sehr ins Kolossale. Einer der Kolosse von Rhodos, der nicht über dem, sondern am Hafen stand, ein Werk des Chares, maß 70 griechische Ellen. Das sind 105 Fuß. Von Nero gab es eine Bildsäule, die war 110 Fuß hoch und hieß der Koloß. Sie stand an der Nordseite des römischen Amphitheaters. Daher wurde dieses Colosseum genannt. Ein Gemälde Neros hatte gar 120 Fuß Höhe. Ein Gemälde von Horace Vernet in Versailles, die Wegnahme der Smalah, ist 60 Fuß lang. Bei dieser Kolossalität sehen wir fast nichts. Wollen wir das Ganze überschauen, so müssen wir in zu große Ferne treten, und dabei haben wir keine Klarheit vom einzelnen; die Teile verschwinden uns. In der Nähe aber muß man am Bilde fortlaufen, und dann vergißt man das Vorhergehende; das Gedächtnis versagt. Das ist ähnlich, wie wenn etwas in der Zeit zu lang ist.
Anderes entzieht sich durch Kleinheit unserem sinnlichen Auffassungsvermögen. So gibt es z. B. in Dresden einen Kirschkern, worauf fünfzig Gesichter eingeschnitten sind. Auch das schwindet ineinander. Das Auge muß eine Bahn haben.
Miniaturen sind etwas Nettes. Man sieht gern die emsige Liebe, die sich so ins Kleine vertieft. Der Kleinmaler Meissonier ist ein großer Künstler. Aber das hat seine Grenzen. Noch etwas kleiner, dann zerfließt es und schwimmt ineinander; man kann die Teile nicht mehr unterscheiden. Das Kleine, auch wenn es nicht zu klein erscheint für die Sinne, ist doch, bei einem gewissen Grad unter der Würde der Kunst.
Relative Größe oder Kleinheit haben sehr viel zu schaffen mit der inneren Bedeutung eines Kunstwerks. Was nur für das Genre taugt, darf ich nicht in Lebensgröße darstellen. Das macht sich fühlbar vor Adolf Menzels Begrüßung zwischen Friedrich dem Großen und Kaiser Joseph. Dagegen soll ein wichtiger, ein historischer Gegenstand nicht zu klein erscheinen, sonst wirkt er wie ein Genrebild. Antiken, wie die Venus von Milo, verlieren außerordentlich in der Reduktion auf kleinen Maßstab. Das ist auch Symbolik, die wir auf den Gegenstand übertragen.
Maß in der Zeit. Ein paar Worte können kein Gedicht machen, ein paar Töne keine Musik. Zu lang ist wieder nichts. Da erlischt das Feuer; das Behalten kann mit dem Auffassen neuer Teile nicht mehr Schritt halten; man verliert im Rücken, wenn man vorn zu viel bekommt. Also kein zu langes Gedicht oder Musikstück!
Maß bezieht sich aber auch auf die Kraft. Es soll auch das Kraftmaß – ich meine jetzt nicht das Umspannungsmaß, sondern das Intensitätsmaß – unserer Sinne, unserer Aufmerksamkeit und Sensibilität nicht überschritten werden. Das geschieht in Schaudertragödien, worin sich starke, wilde, grasse Effekte häufen. Auch Richard Wagner verletzt und ermüdet das Kraftmaß der Nerven, die Auffassungsfähigkeit des Gefühls. Die Stimmen der Sänger werden bei ihm hin. Das wirkt schließlich, daß man Arbeit hat statt Genuß.
Als ein Moment der Form bestimmt der Paragraph drittens: klare Teilung des Vielen.
Alles Schöne ist mannigfach. Eine einzelne Farbe nennen wir wohl auch schön, namentlich wenn sie rein ist; ebenso einen einzelnen Ton. Dies ist aber ein ungenauer Gebrauch des Worts. Da nimmt man es nicht voll genug. Wie früher klare Umgrenzung des Ganzen verlangt wurde, so verlangen wir nun auch klare Sonderteilung innerhalb des Gegenstands. Ist Form zur Einheit zusammengefaßte Vielheit, so haben wir an etwas ganz Einfachem, woran nichts zu unterscheiden ist, auch nichts Schönes. Nun gibt es auf der Welt ohnedies nichts ganz Einfaches; und alles Schöne ist ein Verhältnis von Formen, Farben, Tönen; alles Schöne enthält eine Vielheit, die indem sie irgendwie geordnet und geschlossen ist, sich als solche doch wesentlich bekundet. Statt Vielheit jedoch sagen Sie besser Mannigfaltigkeit, denn die Teile, woraus sie besteht, sollen unter sich nicht gleich, sondern mannigfaltig sein. Wesentlich ist aber, daß die Teile sich deutlich, klar, bestimmt voneinander abheben. Auch nach dieser Seite darf das Kunstwerk nicht verschwimmen.
»Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?«
Die Architektur z. B. will nichts, was ohne bestimmte Markierung und Einfassung in anderes übergeht. Zu den widerwärtigsten Dingen gehört es, wenn an einem Gebäude das Kranzgesims keine energische Ausladung und Gliederung hat. Das ist wie ein Gesicht ohne Augbrauen. – So wollen wir Einfassung an den Tapeten, an den Möbeln. Die Füllungen an einem Schranke müssen voneinander abgehoben sein durch Leisten; sonst sind sie wie ein Satz ohne Interpunktion. – Die Säule ist tragende Stütze. Denken wir uns nun die Decke darüber, so fühlen wir sofort: das Gesetz der klaren inneren Scheidung, welche die Teile voneinander abhebt, hat notwendig das Kapital mit Wulst und Platte geschaffen. Ohne das mögen wir die Säule nicht sehen.
Der Bildhauer sondert die Teile des Körpers mit mehr Nachdruck als die Natur; sie sollen nicht breiig und schwammig ineinander verfließen. Die Skulptur hat von alters her die Augenränder, die Kanten der Nase, die Lippen schärfer gezogen, die Locken bestimmter geordnet und in einzelne Gruppen gesondert, das Kinn stärker gewölbt, die Brustblätter mächtiger abgehoben, die Trennung des Unterleibs vom Oberleib an den Leisten fester markiert als die Natur. Das fordert die Bestimmtheit der inneren Scheidung.
Die Malerei verfällt in Verschwommenheit, wenn die Zeichnung zurückbleibt. Ohne die Logik der Zeichnung wird das Kolorit phantastisch. Es fehlt das Knochengerüst, der Begriff zur Sache. Auch in einem Mondscheinbild, worin alles verschwommen ist, muß der Maler die Massen klarer als in der Natur auseinander halten. Namentlich Goethe hatte dafür Sinn und spricht in Hermann und Dorothea, wo vom nahenden Gewitter die Rede ist, mit Malerwohlgefallen davon, wie die Massen deutlich sich heben.
Die Musik will Scheidung, Abhebung der Teile, Intervalle. Ebenso die Poesie, sie verlangt in einem Epos oder in einem Drama Bestimmtheit der Charaktere und der einzelnen Momente der Handlung, der Maße im Vers.
Also Kerben, Einschnitte sind im Kunstwerk nötig.
Vierter Punkt: Regelmäßigkeit. Das ist ein unbestimmter Ausdruck, der sich nicht leicht einfangen läßt. Regelmäßig heißt ein Ding, wenn an ihm die Regel, die es einzuhalten sich anschickt, der es sich fügen soll, auch wirklich befolgt ist. Eine gerade Linie soll nicht in Zickzack ausweichen, eine Kreislinie überall gleich weit entfernt vom Zentrum sein. Das wird aber nicht immer eingehalten; von der Natur schon gar nicht. Es gibt abnorme Geburten, Einäugige, Schielende, Menschen mit einem Bein. – Was gilt aber die Regel in der Kunst? Es gibt Dichter, die vernachlässigen das Metrum, und ein solcher kann nie klassisch werden. Also nicht aus dem Schritt fallen! Von dem Versmaß, das ich ergreife, erwartet der Leser, daß ich's einhalte. Springe ich ab, so muß ich auch dies mit Einsicht und Berechnung thun; und auch die Absprünge selbst muß ich wieder ordnen. Die Sachen müssen eben recht sein. Ein höchst liebenswürdiger Dichter, Justinus Kerner, hat es mit den Formen zu nachlässig genommen; er ist ein echter Dichter, aber er kann nicht klassisch werden. Er ist vielleicht reicher als Uhland. Aber Uhland hat die Formen in der ganzen Strenge des Bildhauers eingehalten; da klappt es, die Worte sind bei ihm mund- und ohrgerecht. Kein klassischer Dichter, der nicht korrekt die Einheit im Versmaß durchführt. – Ausnahmen kommen natürlich vor. Ein großer Dichter kann sich Lizenzen erlauben, und wir werden sie ihm nachsehen; er kann sogar in bestimmteren Punkten mit Absicht das Versmaß verletzen. Das ist aber schon etwas ganz anderes, als wenn er es aus Nachlässigkeit verletzt. Wir haben in Schillers Braut von Messina einen Fall von Verletzung des Jambus. Die ist jedoch absichtlich. Wie Cäsar bei seiner Geliebten seinen Bruder Manuel trifft, nennt er ihn falsche Schlange und ersticht ihn mit den Worten: »Fahre zur Hölle« u. s. w. (Akt III, Sc. IV). Wenn Sie also den Vers streng jambisch sprechen wollten, so müßten Sie sagen: Fahre zur Hölle. – Ein anderes Beispiel steht in Schillers Wilhelm Tell. Geßler, vom Pfeil getroffen, stirbt mit den Worten: »Das ist Tells Geschoß«, und Tell ruft ihm zu: »Du kennst den Schützen, suche keinen andern; frei sind die Hütten, sicher ist die Unschuld vor dir.« Nach dem jambischen Versmaß müßten wir lesen: »Frei sind die Hütten.« Schiller setzt hier einen Trochäus ( — ◡) für den Jambus, weil er jetzt recht eigens auf das Wort frei weisen will. Die Unregelmäßigkeit bewirkt, daß eine besondere Wichtigkeit auf das Wort fällt. Allein dies ist also etwas anderes, als wenn einer aus Nachlässigkeit einen falschen Reim macht. Da sind wir beim großen Dichter, der im übrigen dieses Formale gewissenhaft nimmt. Bei anderen sind es aber Schnitzer, und diese stören uns. Es gibt ein Gesetz. Auch ein Gedicht muß in Ordnung sein.
Also Regelmäßigkeit. Wir können nun den Begriff genauer nehmen und zunächst folgende Gesichtspunkte unterscheiden. Einmal Gleichförmigkeit der Richtung einer Linie oder Fläche. Dann Wiederholung. Die Säulenreihe mit gleichen Abständen thut dem Auge auf einen Schlag wohl. Das bewirkt die Ordnung nach gleichem Gesetz. Auch in der Natur kommt solches taktmäßig Rhythmische vor. Wie kann man doch stundenlang dem Wellenspiel am Meere zusehen! Selbst im Sturme geht das ganz im Tempo. Bei Künsten, die sich nicht im Raume bewegen, sondern in der Zeit, wie in der Musik, da ist Takt und Tempo. In der Poesie haben wir die gesetzliche Wiederkehr der Verse. Die tiefere geistige Wirkung hievon ist in der speziellen Lehre von ihr klar zu machen.
Lassen Sie sich nicht beirren durch die Bemerkung, daß das Regelmäßige uns da, wo wir landschaftliche Schönheit suchen oder lebendig bewegte Menschenscenen, nicht wohl thut. Der Maler kann nichts anfangen mit den gleichgestellten Linien der Soldaten. Dafür hat die Malerei aus andere Art ihre Regelmäßigkeit. Sie werden finden, daß oft in höchst dramatischen Kompositionen großer Meister auch einmal etwas wie eine gleichmäßige Wiederholung vorkommt. So ist im Tempelraub von Raphael eine Reihe von Frauenköpfen fast in einer Flucht hingemalt.
Nun Regelmäßigkeit mit gedachtem Mittelpunkt: Quadrat, Dreieck, Vieleck, Sternform, Kreis, Kugel. Mehrseitige und allseitige Gleichförmigkeit. Die Teile verlassen einen Mittelpunkt, bewegen sich aber nach demselben Gesetz und kehren zu ihm zurück. Die Linien gehen in verschiedener Richtung auseinander, aber sie treffen wieder zusammen. So schließt sich ein Würfel. Was würden Sie zu einem Gemälderahmen sagen, der nicht gleichmäßig ist? – Wenn man behauene Bausteine sieht, die zufällig unter Schutt oder im Gras und Moos herumliegen, da kann man sich vorführen, was Kunst ist. Wie wohl thun die klaren Flächen, wie wohl thut das Geordnete!
Es ist immer etwas gleich Merkwürdiges und Staunenswertes, daß die unorganische Natur, die ihre Gebilde im übrigen ungeordnet umherstreut und nur sehr vereinzelte Anklänge an gerade, halbrunde Formen und Kugeln zeigt, daß sie etwas schafft, ein Vorbild höheren Gestaltens um einen Mittelpunkt: den Krystall. Der Krystall ist die erste dunkle Vorahnung von dem, was in höherem Gebiete der Mensch thut in der Architektur.
Die Baukunst verlangt am strengsten Regelmäßigkeit, denn sie ordnet unorganisches Material nach mathematischen Formen. Sie setzt das Ornament an, und auch dieses erscheint regelmäßig. Blumenformen werden stilisiert, d. h., der Natur zum Trotz, auf geometrische Regeln reduziert.
Nun hat aber das Rokoko das Ornament unregelmäßig ausgefasert und ausgeschweift, mit den Pflanzenmotiven Muscheln verbunden und so Formen geschaffen, vor denen man rein nicht mehr weiß, was das ist. Es erscheint ganz willkürlich, ganz unbestimmt und verworren. »Gewurl« nennt man dergleichen in Oesterreich. Die Barock- und Rokokokunst läßt den Stein musizieren, läßt ihn tanzen. Alles wird ins Wilde, ins Verrückte ausgezaust und verrenkt. Aber es ist Genialität in dieser Raserei. Denken Sie nur an den Zwinger in Dresden! Der Rokokostil ist aufgekommen bei der Schnellbauerei in der Zeit des Luxus im vorigen Jahrhundert, dessen Despoten ihre weit ausgedehnten Schloßbauten und die große Menge von Prachtsälen darin in höchster Eile ausgeführt wissen wollten. Die Stimmung unserer heutigen Zeit ist mit dem Rokoko verwandt, weil sie heftig sinnlich ist. Deshalb wollen unsere Bemühungen, die edlen Formen der Renaissance wieder herzustellen, nicht vorhalten.
Die Regelmäßigkeit führt nun aber hinüber zur Symmetrie.
Wenn Sie einen Cylinder nehmen und ihn in der Richtung seines Mittelpunktes teilen, so sind die Hälften einander gleich. Wenn aber der Mittelpunkt nicht bloß gedacht, sondern in einer eigenen Form dargestellt ist und zu seinen beiden Seiten sich das Gleiche in selbständigen Teilen gegenübersteht, so haben Sie die eigentliche Symmetrie. Das Mittelstück ist klar ausgesprochen im menschlichen Knochengerüst, in der Wirbelsäule, im Brustbein, in der Nase. Links und rechts zwei Arme, zwei Beine, zwei Augen, zwei Ohren. Dies ist ganz einfache Symmetrie.
Wie stark sie in der Architektur, als der an die Mathematik gebundenen Kunst, herrscht, bedarf kaum der Nachweise. Das Hauptschiff ist flankiert von zwei Seitenschiffen, das Hauptportal von zwei gleichen Seitenpforten oder Fenstern. In romanischen Kirchen des alten Sachsenlandes stehen je zwei Säulen neben einem Pfeiler.
Symmetrie bedingt Vollständigkeit der Teile. In einem Ganzen, das ein Ganzes für sich sein und aus integrierenden, von seiner Einheit beherrschten Teilen bestehen soll, müssen diese Teile alle vorhanden sein. Ein menschliches Angesicht mit bloß einem Auge ist kein ganzes Angesicht.
Diese formalen Elemente darf man überhaupt nicht verachten, sie sind wesentlich. Die Grenzen ihrer eigentlichen, buchstäblichen Geltung dürfen zwar nicht verkannt werden, aber man muß beim »ABC« verweilen, ehe man zum Worte geht. Das ABC bleibt doch die Grundlage, und die Symmetrie gehört zum ABC des Schönen.
Die Symmetrie wird reicher, je mehr Teile vorhanden sind, die dem Mittelpunkt gegenüberstehen, und sie kann sich unerschöpflich variieren. Zum Beispiel in einem Kaleidoskop werden die zufällig zusammengewürfelten Stücke durch jede Drehung zu einem neuen symmetrischen Ganzen gruppiert.
Inwiefern hat aber auch das Gesetz der Symmetrie seine Grenzen? Von ihrer Bedeutung in der Baukunst war bereits die Rede. Wir verlangen sie von einem Gebäude. Ein Architekt nun kann unter Umständen an der Fassade die Symmetrie verleugnen, um eine malerische Wirkung zu erreichen. Allein das ist ein gefährlicher Grundsatz und nur mit Vorsicht anzuwenden. An sich gilt es, daß man von der Fassade Symmetrie fordert, nicht aber von den Seiten. Der menschliche Körper ist von vorn gesehen symmetrisch, aber nicht von der Seite. – Bei lebendigen Körpern wird jedoch die Symmetrie aufgehoben durch Bewegungen. Darin treten neue Formgebote ein, die Kontrastgesetze, wovon später die Rede sein wird.
Es wäre nun zu zeigen, wie sich die Symmetrie auch in jene Künste hineinzieht, die nicht geometrisch gebunden sind, sondern das Leben nachahmen. Doch ich will hier nur ein paar Winke geben. Erinnern Sie sich an die Laokoongruppe. Der Vater in der Mitte, links und rechts je ein Sohn. Auch in Musik und Poesie zeigt sich Symmetrie, in den Sätzen und Gruppen einer Sonate, in den Strophen eines Gedichts, in der Gliederung eines Bühnenstücks. Die Drei- und Fünfzahl spielt da eine große Rolle.
Und nun die Proportion. Sie ist ein Wohlverhältnis unter Teilen, die unter sich verschieden in Größe, Stärke, Wert und Bedeutung sind.
Läßt sich das nun auf eine feste Formel bringen? Mehrere Forscher haben geglaubt, einen »Proportionsschlüssel« nachweisen zu können, so Carus, Wolff u. a.; auch Vitruv nicht zu vergessen. Ich bekenne Ihnen, daß ich nicht davon überzeugt bin und mein Urteil darüber nicht abschließen kann. Hier wäre namentlich auch zu sprechen von dem Gesetz, das Adolf Zeising glaubt entdeckt zu haben. Zwei Werke von ihm erörtern es: »Die Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers« und »Aesthetische Forschungen«. Es ist der sogenannte » goldene Schnitt«. Wo er herrscht, da verhält sich der kleinere Teil ( minor) eines Ganzen zum größeren ( maior) wie dieser zum Ganzen; oder umgekehrt: das Ganze muß sich zum größeren Teil verhalten wie dieser zum kleineren. Zeising ist zwar kein reiner Formalist, er erkennt auch »Leben« an; nur soll dieses formale Gesetz als Grundlage gültig sein. Er hat seinen Maßstab gehalten an antike Statuen, an Gebäude, Pflanzen, Tiere, Menschen; auch Werke der Musik und Poesie hat er mit ihm geprüft. Ich habe mich dazu immer skeptisch verhalten. Man sieht nicht recht ein, warum gerade dieses Gesetz herrschen soll. Es treffen gewiß auch andere Verhältnisse zu. Zeising mißt z. B. an der Menschengestalt von der Fußsohle bis zum Nabel (das ist der maior), dann vom Nabel bis zum Scheitel (das ist der minor). Er mißt den Kopf von der Mitte des Halses bis zu den Augbrauen ( maior), von den Augbrauen bis zum Scheitel ( minor). Aber wer erlaubt mir, den Kopf von der Mitte des Halses an zu messen? Das scheint mir willkürlich. Ich kann das geforderte Verhältnis am Haupte nicht finden, wenn ich es für sich nehme.
Zeising hat auch schöne Gebirgslinien aus Zahlen und Maße gebracht und seinen maior und minor, seinen goldenen Schnitt aus ihnen herausgerechnet. Daß man Gebirgslinien auch so auffassen kann, dagegen habe ich an sich nichts. – Ich habe einen gekannt, der spielte Gebirgslinien mit der Geige auf, wie Tieck in einer Novelle einen Narren die Masern am Holz aufgeigen und dabei die schönste Phantasie entstehen läßt. Doch dies nur zum Spaß. –
Zeising mißt auch die Zahlteile von größeren Poesien, aber da fängt die Sache an, bedenklich zu werden.
Ich kann mich in dieser Frage überhaupt nicht entscheiden. Der goldene Schnitt ist ein Erfahrungssatz, der erprobt sein will. Es ist mir aber ein Ding der Unmöglichkeit, selber alles nachzumessen. Wenn jemand absolut beweisen könnte, daß er bei Messungen stets das Gesetz des goldenen Schnittes bewährt gefunden habe, so möchte ich sagen: gut, dann ist es so, aber ich weiß nicht recht, warum. Ich glaube nicht, daß man da einen Schlüssel findet, der in alle Löcher paßt.
Fechner in Leipzig sagt in seiner »Vorschule der Aesthetik«, er finde, daß der goldene Schnitt eines der wohlgefälligeren Verhältnisse sei, aber es gebe auch andere wohlgefällige Verhältnisse, die keineswegs von ihm übertroffen werden. Er bewähre sich an den Dingen perpendikulär, aber nicht horizontal. Bei der Horizontale sei Gleichteilung das gefälligere Verhältnis.
Fechner hatte in seinem Zimmer allerlei mathematische Formen aufliegen, Quadrate, Oblonge, Ovale, Kreuze, und ließ die Leute ihr Urteil abgeben, wie diese Formen auf sie wirken. Eine Dame sagte beim Anblick eines Quadrates: dies stimmt mich hausbacken, eine andere: dieses hat einen noblen Ausdruck u. s. w.
Nun aber handelt es sich auch darum, welchen Wertausdruck die Teile haben, wie dieser Wert sich darlegt in Umfang, Größe. Zum Beispiel die Nase hat ihre bestimmte Bedeutung unter den Sinnesorganen des Hauptes. Bleibt sie unter ihrer Bedeutung, oder emanzipiert sie sich, indem sie aus dem Verhältnis herauswächst, so daß am Ende die 100 Epigramme Haugs auf sie passen, dann hat man keine Proportion. Aber an den Wertausdruck der Teile können wir mit dem goldenen Schnitt nicht reichen. Messe ich nach ihm die menschliche Gestalt, so fällt der minor in den Kopf! Das ist widersinnig. Wo Leben und Geist in der Form ist, da tritt ein Messen nach Wertstufen, nach Graden des Seelenausdrucks ein. Der Kopf des Menschen, der kleinste unter den größeren Teilen seiner Gestalt, ist unendlich mehr wert als das ganze Uebrige. Sie sehen also: da wird das Messen vollständig durcheinander geworfen.
Jetzt steuern wir los auf den Hauptbegriff: lebendige, Kontraste setzende und lösende Harmonie. Er schließt die übrigen Begriffe in sich und gibt ihnen erst ihre wahre, ihre tiefere Bedeutung. Einheit im Mannigfaltigen und Mannigfaltigkeit im Einen, bestimmte Begrenzung, Maß, innere Scheidung, Regelmäßigkeit, Symmetrie, Proportion: das sind alles Seiten der Harmonie. So scheint es, als ob wir damit nichts Neues hätten. Aber schon das Wort Harmonie gibt Ihnen ein Gefühl, daß Sie aus dem Mathematischen herauskommen in ein Gebiet, das nicht mehr mathematisch wird bestimmbar sein, ein Gefühl, daß damit nicht bloß die Gesamtheit der schon aufgeführten formalen Momente gemeint ist, sondern auch anderes, was geistiger Art ist und nicht mehr gemessen werden kann. Bei dem Wort Harmonie denken Sie an Lebendiges, fließend Bewegtes, an Musik und Metrik, an das innige Zusammenstimmen zweier Seelen.
Die Töne der Musik werden gezählt. Wir haben es also vorerst noch mit dem Meßbaren zu thun. Da ist Helmholtz zu nennen, sein Werk über die Tonempfindungen, seine Entdeckung, daß bei jedem Ton eines Instrumentes ein zweiter anklingt, dessen wir uns gewöhnlich gar nicht bewußt sind: der Oberton. Wenn der fortschreitende Grundton mit dem Oberton zusammentrifft, so entsteht die Konsonanz, das wohlgefällige Zusammenstimmen von zwei Tönen. Einer Konsonanz liegt eine einfache Rechnung, dissonierenden Tönen eine schwierigere, verworrene Bruchrechnung unbewußt zu Grunde. Leibniz ist es, der gesagt hat, die Musik sei eine Kunst der rechnenden Seele, die aber nicht wisse, daß sie rechnet.
Und nun die Farben. Nach der von Helmholtz aufgestellten Undulationstheorie, deren Richtigkeit unwiderlegbar erscheint, beruhen die Farben auf Lichtwellen von verschiedener Geschwindigkeit; die lichtärmeren, wie Blau, Grün, Violett, auf schnelleren, die lichtvolleren auf langsameren Schwingungen. Die Lichtwellen lassen sich auch in Linien darstellen und so die auf ihnen beruhenden Farben vollständig nach den Graden ihrer Schnelligkeit messen. Mit der Konsonanz der Farben wird es wohl ähnlich sein wie mit der der Töne. Wenn man stark und lang auf eine grüne Fläche sieht, so kündigt sich unbewußt im Auge schon Rot an. Sieht man von der grünen Fläche dann schnell nach einer weißen Wand, so erscheint diese rot. So fordert Blau: Orange, so Gelb: Violett. Konsonierende Farben, auf Zahlen gebracht, geben eine einfachere Rechnung, dissonierende eine mehr entwickelte.
Wir scheinen also vollkommen ins Rechnen hineinzukommen, und da fragt es sich abermals: sollte das Schöne nicht am Ende ganz und gar auf Zahlen gebracht werden können? Aber ich erinnere an unseren fünften Paragraphen. Allerdings: Harmonie in Tönen und Farben läßt sich noch auf Zahlen bringen. Aber damit ist die Sache noch nicht erschöpft. Das ist nur ihre physikalisch-physiologische Seite, nicht die ganze Sache. Jetzt tritt wiederum Symbolik ein. Ich habe gesagt: der erste Hirte, der auf seiner schlichten Flöte einen Accord fand, hörte dabei etwas sinnlich Allgenehmes, indem er, ohne es zu wissen, eine innere Rechnung leichter Art vollzog, aber zugleich fühlte sich seine Seele in dieses Zusammenstimmen hinein Vgl. oben S. 72.. Und damit kommen wir ins Nicht-mehr-meßbare. Die Seele kann sich in einen Kreis, in ein Quadrat einfühlen und so selbst im Gebiete der kahlsten Geometrie Eindrücke der Wohlgefälligkeit erfahren. Man legt Menschenähnliches in die abstrakteste Figur. Bloße Formen sind ästhetisch wirksam, sofern sie Niederschläge verborgenen inneren Lebens sind oder als solche aufgefaßt werden. Dies innere Leben überflutet und durchbricht aber seine meßbaren Grenzen und geht so ganz ins Unmeßbare hinaus.
Der menschliche Körper ist symmetrisch, aber in nicht meßbarer Weise von der Seele bewegt. Ich habe an die Laokoongruppe erinnert, sie ist jedoch nur ungefähr symmetrisch, und man kann sich ihr freies Abweichen von regelmäßiger Symmetrie scherzhaft beweisen, wenn man einen großen Pfahl in der Mitte von zwei kleinen Pfählen zeichnet; zum Kunstwerk wird sie eben dadurch, daß die Symmetrie überwachsen ist von lauter Leben, das nicht mehr meßbar ist.
Diese mathematischen Formen sind am Schönen das Knochengerüste, das sich zum ganzen Schönen wirklich so verhält, wie das Knochengerüste des Menschen zu den dasselbe umhüllenden Weichteilen, zu seinem Nerven- und Blutleben und endlich zu seiner Seele und ihrem Ausdruck im Antlitz. Aber sie sind eben doch das Knochengerüste, sie sind Vorbedingungen und darum nicht zu verachten. Wir wollen nicht zu den Menschen gehören, die meinen: jetzt sind wir im Schönen, da heißt es: vergnügt sein! was soll ich mich plagen mit Maßen? Das Mathematische ist abstrakt und dennoch die Grundlage des Schönen.
Wer es jedoch überschätzt, dem ist zu sagen: Man kann das Schöne nicht mit dem Zollstab und mit der Uhr bestimmen. Wohl gibt es allerlei zu messen und zu rechnen, aber Regelmäßigkeit ist nur ein starrer Teil im Schönen, und die Lust, die man am Schönen empfindet, ist eine andere als die, welche durch die glückliche Lösung eines Rechenexempels erzeugt wird. Die Harmonie ist etwas Qualitatives und schließt das mathematisch Abstrakte in sich, enthält aber unendlich mehr. Und in diesem »Unendlich-mehr« sind wir.
Wir haben gesehen: Bei Harmonie denken wir an etwas lebendig Bewegtes, Pulsierendes. Dadurch unterscheidet sich dieser umfassende Begriff von den anderen Formbegriffen (wie Regelmäßigkeit, Symmetrie etc.); und diese bekommen dadurch eine Korrektur, es zeigt sich, daß dahinter etwas Tiefes liegen muß. An einem nur regelmäßigen Gegenstand bleiben die Teile, für die wir irgend eine Ordnung forderten, sich ganz gleichgültig gegenüber. Die Säulen verstehen voneinander nichts. Wird dennoch eine lebendige Einheit, also Harmonie, in solchen bloß formalen Gebilden erblickt und ausgedrückt, so geschieht das durch eine Uebertragung menschlichen Wesens. Im Schönen kommt stets der Mensch zur Darstellung und indirekt auch, wo er direkt nicht vorhanden ist. Das Schöne ist immer persönlich. Der Mensch, ein persönliches Wesen, aus Seele und Leib gebildet, begeistet und leiblich Geist ausdrückend, er dient mir nun zur Beleuchtung dessen, was ich meine.
Ich verwies darauf, wie sich am menschlichen Körper zwei Arme gleichseitig gegenüberstehen. Was geht nun da Arm Arm an? Aber derselbe Blutstrom fließt durch den einen wie den andren; er fließt durch alle Teile und kehrt zurück zum Herzen. Die Haut, an allen Teilen von den Netzen derselben Nervenkraft durchzogen, ist an jedem Punkte fähig, Lebensreize aufzunehmen; und man sieht es ihr auch unmittelbar an. Die menschliche Gestalt ist jederzeit fähig, Wirkung zu empfangen und Gegenwirkung zu leisten, nach allen Punkten ihrer Erscheinung vom Gehirn aus durch die Nerven zu telegraphieren und so die gewollten Bewegungen auszuführen. Und dieses selbe Wesen führt auch ein tief konzentriertes Innenleben. Das liegt schon im Auge, schwebt über der Stirne; das spielt um die Lippen, auch wenn sie schweigen. Es ist das Selbstbewußtsein, der eine Lichtpunkt mitten im ganzen, das Ich, das sich selber erfaßt. Dieser eine Geist geht in Funktionen auseinander und bleibt doch bei sich, durchläuft widerstrebende Gedanken und sucht immer wieder seine Einheit in sich selbst, setzt sich Kontraste und kehrt zu sich zurück, wie der Kreis, ein rundes, ganzes, in sich endendes, frei in sich bewegtes Wesen. Und die Teile dieses Ganzen nennen wir nicht mehr Teile, sondern Glieder. Glied ist ein Ausdruck für Organisches. Ein Teil kann dagegen auch bloß mechanischer Art sein. Ein organisches Glied ist ein wesentlicher, immanenter Teil eines Ganzen; er kann nicht weggenommen werden, ohne daß das Ganze leidet. Nur niedrige Wesen ertragen es leicht, daß man ihnen Teile nimmt; sie erfahren dabei nicht die Verletzung wie ein höheres. Ein solches ist ein Bau voller innerer Zweckmäßigkeit. Wir haben gesehen: hier ist sich alles gegenseitig Zweck und Mittel. Hier gibt es keine Trennung zwischen einem, der innen einen Zweck will, und einem, der außen irgend ein Mittel dafür sucht; das thut hier ein und dasselbe Wesen Vgl. oben S. 108.. Der menschliche Organismus besteht in einem untrennbaren Ganzen. So ist nun das Schöne in seiner wahren Wirklichkeit, in jedem Kunstwerk ein Planet, ein frei schwebendes, um seine eigene Achse sich wendendes Ganzes; und die lebendig wirkende, von sich ausgehende und auf sich zurücklaufende Einheit in diesem Ganzen nennen wir Harmonie. Wir sehen im Menschen ein Bild des Weltalls, das Weltall im kleinen, einen Mikrokosmus. Und ein solcher Mikrokosmus ist das Schöne, ist das echte Kunstwerk. Die Linie der freien, heiteren Nachlässigkeit umspielt in ihm das starre Gesetz der Regel.
Wenn also ein menschlicher Körper, um schön zu sein, Symmetrie und Proportion haben muß, so wird deshalb doch niemand glauben, daß er dadurch allein schön sei. Das unentbehrliche Grundgerüste des Ebenmaßes muß lebendig umhüllt sein.
Zwei Künste gibt es, die sind besonders streng messend: Architektur und Musik, sowie eine der Musik ähnliche, formelle Seite der Poesie: die Metrik (vergl. § 4) Vgl. oben S. 55.. Man sagt ja: diese beiden Künste haben kein Vorbild in der Natur, sie ahmen keinen Körper direkt nach. Das können sie nicht, eben weil sie streng messend sind. Dennoch gilt von ihnen der ausgesprochene Satz: die Regel wird umspielt von der freien Bewegung; denn wären in ihnen Maße und Zahlen alles, so gäbe es bloß einen Stil, nur ein einziges Tonkunstwerk. Das freie Spiel mit der Regel, das ist der Geist, das innere Leben des erfindenden Architekten und Musikers. Dieser Geist hat neue Stile erfunden. Jetzt sind wir freilich nicht in der Position, dies zu leisten; aber es ist geschehen, das Faktum besteht doch. Der romanische und gotische Stil ist frei erfunden worden. Durch bloßes Messen ist das nicht zu stande gekommen; und ebensowenig ein einzelnes Gebäude wahrhaft künstlerischer, monumentaler Art. Ist es einmal da, so läßt sich freilich alles daran messen und mathematisch abschätzen. Aber wenn es als Ganzes nicht lebendig spricht, so ist es eben kein Kunstwerk. Es muß unter meinem Blick gleichsam noch einmal aufwachsen. Das ist aber Leben.
Wie die Architektur streng gebunden bleibt an die Gesetze der Statik, so die Musik an den Generalbaß, an gewisse Regeln der Konsonanz und Dissonanz, aber diese Regeln haben für das musikalische Schaffen niemals ausgereicht; es ist das unberechenbare innere Leben, das immer neue Formen von Tönen und Harmonien hervorgebracht hat.
Die Regel also wird umwebt von der freien Bewegung. Das gilt auch von den anderen Künsten.
Wie steht es mit der Komposition eines Figurengemäldes, einer Landschaft? Was wollen Sie sagen? Es braucht eine Mitte, zwei Seiten. Da hätten Sie Symmetrie. Aber das hat nur schwache Geltung. Hier durchkreuzt sich die Zeichnung mit der Farbe, und in einem koloristischen Bild kann ja die Symmetrie auf ganz andere Weise hergestellt sein. Zum Beispiel Berge, Bäume auf der einen Seite einer Landschaft können auf der anderen durch Licht balanciert sein.
In der Poesie haben wir Symmetrie in Strophen und Gegenstrophen, in gekreuzten Reimen. Aber ein Versmaß drückt Stimmung aus in Zusammenhang mit seinem Inhalt, und zur Stimmung gehört noch etwas anderes als nur Versfüße. Gehen Sie weiter hinein in den Innenbau eines dichterischen Kunstwerkes, so finden Sie wiederum Symmetrisches, aber es ist nicht exakt meßbar. Lesen Sie ein Stück von Shakespeare, z. B. Lear. Da sind zwei Sagen vereinigt. Die beiden unglücklichen Väter Lear und Gloster stehen sich in ihren so ähnlichen Schicksalen symmetrisch gegenüber; ebenso Edmund und die schlimmen Töchter Regan und Goneril; ebenso die guten Kinder Cordelia und Edgar. Die Parallele geht noch weiter: Treue und Gewissenlosigkeit der Diener: Oswald, der Schurke, und Kent, neben den sich hübsch der Narr stellt, der Herz und Gemüt hat bei allen beißenden Witzen.
In Goethes Wahlverwandtschaften stehen sich die Figuren ungemein symmetrisch gegenüber, wie ausgezirkelt, fast zu fühlbar: Eduard und seine Frau, der Hauptmann und Ottilie. Die zwei Paare werden wie magnetisch übers Kreuz angezogen. Sie können das Skelett der Komposition mit Punkten und Linien konstruieren.
Solche Parallelismen und Diagonalen gehen also auch durch Poesien hindurch, aber als feines, geistiges Fluidum, so daß kein Zollstab ausreicht. Je höher eine Kunst hinaufgreift, desto weniger mechanisch ist sie, desto weniger sind diese formalen Momente arithmetisch bestimmbar.
Heißen wir also Harmonie eine lebendige Seele, die durch das Ganze ergossen und an allen Teilen seiner Form durchfühlbar ist, so wird sich das auf alle Künste anwenden lassen.
Jetzt, da wir diesen lebendigeren Begriff erfaßt haben, jetzt führen wir erst ein Moment ein, das in allem Schönen ganz wesentlich und auch bereits mehrmals von uns gestreift worden ist: den Kontrast. Ich gerate damit freilich tiefer und tiefer in die Kompositionsgesetze hinein, welche eigentlich in die Lehre von der Kunst gehören.
Also Kontrast, Widerstreit lebendiger Kräfte, die sich kämpfend spannen und erhöhen. Nehmen Sie z. B. die stärkeren und milderen Gegensätze der menschlichen Gestalt. Der stärkste: der Rumpf und das seelische, ausdrucksvolle Haupt; ein schwächerer: Arm und Hand. Bedenken Sie ferner die tieferen Kontraste im Seelenleben: Liebe und Haß, Wille und Trägheit, Zwist und Versöhnung, Jubel und Verzweiflung, geistige und sinnliche Triebe.
»Der Streit,« sagt Heraklit, »ist der Vater des Lebens« πόλεμοςπατὴρ πάωτων. In der Kunst, die es nachbildet, finden wir den Kontrast als Kampf zwischen Gliedern, die doch im Grund eine Einheit sind und sich doppelt abstoßen, eben weil sie eigentlich zusammengehören. So hassen sich im politischen Treiben die Parteien, weil beide – sofern sie ehrlich sind – das Beste des Staates wollen. Jede meint, sie allein könne dazu führen und die andere nicht; und gerade weil beide dasselbe wollen, aber auf verschiedenen Wegen, hassen sie sich. Das beleuchtet den Kontrast in Malerei, Plastik, Poesie.
Er ist ein mächtiges Mittel in aller Kunst; und auch ein Dilettant sollte sich bedenken, wie er damit zu wirken hat, z. B. durch Höhe und Tiefe, Langsamkeit und Schnelle bei einer Deklamation. Jedoch Mißbrauch darf man damit freilich nicht treiben.
Besonders belehrend sind die Kontraste in Licht- und Farbenverhältnissen. Dunkel und Hell erhöhen sich; Hell erscheint heller neben Dunkel und umgekehrt. Ohne dieses konnte ja ein Maler rein gar nicht wirken, könnte er eigentlich gar nichts machen. Mit unseren Farben erreichen wir den Lichtglanz nicht, den die Natur hat, den der Sonne schon gar nicht (abgesehen davon, daß man die Sonne selbst gar nicht malen kann). Der Maler muß daher alles tiefer in Farbe setzen, als es in der Wirklichkeit ist. Außer Dunkel und Licht gibt es aber auch Mittelkontraste. In Farben ist der reinste Kontrast Gelb (die lichtvollste) und Blau (die lichtärmste). Es fragt sich, ob wir die Ergänzungsfarben auch als starke Gegensätze nehmen sollen: Grün und Rot, Gelb und Violett, Orange und Blau. Leichtere Unterschiede sind Gelb und Orange, Blau und Grün, Blaugrün und Gelbgrün.
Wir wollen einmal ein bedeutendes Gemälde ansehen, den Zinsgroschen von Tizian. Die Pharisäer hatten an Jesus die verfängliche Frage gerichtet: »Ist's recht, daß man dem Kaiser Zins gebe oder nicht?« Jesus aber merkte ihre Tücke, ließ sich einen Zinsgroschen weisen und fragte: »Wes ist das Bild und die Ueberschrift?« Als sie sagten: »Des Kaisers«, da sprach er: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Damit entzieht er sich ihrer sophistischen Falle. Tizian setzt rechts den Pharisäer mit der Münze in der Hand und links Christus. Sehen Sie nun, wie hier der Kontrast zwischen beiden wirkt, die gemeine Physiognomie des Pharisäers, das gemeine Zwinkern seines Auges, die gemeine Farbe seines roh gesunden Fleisches und dagegen den zart, aber nicht krankhaft bleichen und ganz nur rein menschlich edlen Kopf Jesu. Sein Auge ist frei aufgeschlagen, ohne Pathos. Man hat vor sich eine Einheit von innerer Unschuld und Intelligenz, ethischem Adel und Geistesgegenwart, der Frage auszuweichen. Seine Hand von ganz besonders rein gebildeter Form der Finger, die schlank, aber dabei rundlich sind. Es ist die seelische Hand. Wie sticht neben ihr die grobe, kurzfingerige Hand des Pharisäers ab! Sie hat den Typus, welchen Carus motorisch nennt. Das ist ein Beispiel, das vorzüglich belehrend ist über das Wesen des Kontrastes.
Nehmen Sie ferner jenes mustergültige Bild, worin die freie Kraft der Kunst sich zum erstenmal herausgearbeitet hat aus allen Befangenheiten und Härten: das Abendmahl von Leonardo da Vinci! Vergleichen Sie, was Goethe darüber sagt! Leonardo hatte da dreizehn Menschen an einer langen Tafel zu gruppieren; eine fatale Aufgabe, die leicht zu monotoner Aufreihung führt. Er teilt aber »die fließend immer gleiche Reihe belebend ab, daß sie rhythmisch sich regt,« sondert die zwölf Apostel zu drei und drei in vier Gruppen; jedoch nicht ängstlich, sondern ganz frei und ungesucht; es fällt Ihnen gar nicht so auf, daß Sie es nachzählen; das Schöne ist, daß sich alles wie zufällig so gestaltet. Diese Gruppen sind auf verschiedene Weise thätig, ihr Inneres auszudrücken. Ein Blick auf dieses Bild, und Sie wissen sofort: da muß ein Wort gefallen sein, das alle diese zwölf Menschen sogleich in die größte Aufregung versetzt. Vor allem zeigen das die Augen und die Hände. »Einer unter euch wird mich verrathen.« Man sieht, wie dies Wort als ein Blitzstrahl in sie hineingefahren ist. Man glaubt zu hören, wie sie durcheinander reden: »Soll das möglich sein? – Nimmermehr! Ich nicht!« Jede Miene und Regung ist von dem einen Wort bestimmt; das läuft durch das Bild, wie das Nervennetz durch einen Körper läuft; seine Einheit ist wie ein Organismus. Es ist ein ungeheures Leben von lauter Augen und lauter bewegten Gebärden, das diesen schlagenden Eindruck erzeugt. – Jetzt aber Kontrast! In der einen Gruppe, links von Christus, ist Judas fast ganz im Schatten gehalten und schon dadurch von den übrigen isoliert. Das Dunkel seiner Profilsilhouette fühlen wir unwillkürlich als Symbol der sittlichen Finsternis in seiner Seele. Er ist in sich zurückgeschleudert. Damit man an die Bestechung denke, ist ihm der Beutel in die Hand gegeben. Seine Betretenheit verrät sich darin, daß er mit den Ellbogen ein Salzfaß umgestoßen hat.
Schatten und Licht gewinnen einen inneren, moralischen Ausdruck. Farbentöne und Formen vereinigen sich zu einem höheren Ganzen. Alle diese sprechenden Teile, Kontraste, Eingleichungen sind in diesem einen Bilde drinnen; und die Wissenschaft soll dieses Ganze auseinanderwickeln und die Bestandteile nennen. Dies ist das Schwere der Aesthetik. Und dann noch die feinen Wirkungen des Helldunkels. Wie soll man sie erklären? Dafür haben wir keine Worte mehr; und deswegen gibt es also keine genügende Aesthetik Vgl. oben S. 75..
In der Architektur ist der Hauptkontrast der von Stütze und Last. Wie behandelt ihn die antike Kunst? Sie macht den Träger zur Säule, rundet ihn, gibt ihm eine kraftkündende Schwellung und teilt seine Fläche mit senkrechten Kanälen, die das Gefühl des Steigens vermehren. Der Künstler stellt sich vor, als ob der obere Teil der Säule unter dem Druck aufquelle, seine Phantasie fängt an damit zu spielen; und so entsteht das Kapitäl. Jetzt sieht es aus, als ob die Säule frei ihrer Last entgegensteige, einen kleinen Druck mit Leichtigkeit trage. So wird eine Art von Widerstreit belebter Strafte erreicht.
In der Musik dagegen wirken als Gegensätze aufeinander und steigern sich wechselseitig Höhe und Tiefe, Stärke und Schwäche, ruhiges und rasches Tempo, Häufung der Tonmassen und Einfachheit.
Weiter. Die Poesie. Mäßige, milde Kontraste; nur relative Gegensätze: Romeo und Julie, Karlos und Posa, Egmont und Oranien, die aber beide zusammen einen starken Kontrast zu Philipp und Alba bilden. Ferner Macbeth und seine Frau; er wild, ehrgeizig und in ihr dieselbe Leidenschaft, aber noch viel heißer wirkend, im flammendsten Hochrot. Die beiden Leonoren: verwandte Wesen, aber ihre Charaktere von verschiedener Nuancierung, die eine heiter, leicht, die andere tief gesammelt, zart, fein betrachtend.
Starke Kontraste: Don Quixote und Sancho Pansa, Tasso und Antonio. Tasso, der Dichter, ein Kind der Phantasie, daher wohl auch ein Kind der Laune, der äußerst schwer die Lebenskunst lernt, wie alle Phantasiekinder, und der Mann der Lebenskunst: Antonio. Dann Egmont und Alba, die uns soeben schon begegnet sind. Der heitere, frei lebende, sorgenlose Niederländer und der eiserne Castilier, der eherne Turm mit verschlossenen Pforten, diese Personifikation des starren, über und über mit Blut bespritzten spanischen Systems. Und wie hat Goethe diesen schlagenden Gegensatz weiter verwendet? Egmonts Verhaftung ist vorbereitet; er ahnt es nicht und kommt zutrauensvoll ins Schloß zu Alba. Das ist der Moment, wo sich Alba ans Fenster stellt und Egmont hereinreiten und absteigen sieht.
Faust und Mephistopheles. Goethe hat sie so nebeneinander gesetzt, daß jeder doppelt stark in seiner Farbe erscheint, weil der eine zur Folie des andern dient. Hier höhnische Frivolität, dort überstürztes Streben, aber ein edles Herz. Gretchen, die Unschuld selbst, die aus Mangel an Urteil dem Verderben verfällt, doppelt süß und rührend in ihrer ehrlichen, einfachen, ungewitzigten Liebe neben der kupplerischen Frau Marthe, die den Teufel selbst fangen und zum Ehegespons haben möchte. Jetzt aber die Scene, die Meisterscene, wie die zwei Paare in Marthes. Garten wechselnd vor unseren Augen auf und ab gehen. Im vollen Gefühl, was er für Gegensätze in ihnen hat, unterläßt der Dichter nicht, sie eigens zu verbinden. Sie sehen das Bild der reinen Liebe. Faust freilich mit gefährlichen Hintergedanken und seiner Gewissenlosigkeit bewußt, aber doch nicht gemeiner Verführer; er fühlt auch, was Liebe ist, fühlt es wie das gute Gretchen. Und kaum sind sie vorbei, so folgt die Gemeinheit von Marthe und Mephistopheles. Das eine wirkt doppelt auf der Folie des anderen. Mephistopheles und Marthe werden so noch schnöder und komischer. Auf Gretchen und Faust fällt dagegen durch diese dunkle Nachhut der Schatten des Unheimlichen und Tragischen, denn wenn sie dann wieder vorübergehen, erinnern wir uns, was für Gefahren im Hintergrunde lauern; wir ahnen, was Gretchen bevorsteht. Aber um so mehr ergreift und rührt uns die unendliche Innigkeit ihres Liebesgeflüsters. Und sofort auf diesen Himmel folgt wieder die Hölle mit ihrem Ironiegelächter. – Das blitzt! So fördern sich diese Wirkungen im Wechsel des Vorüberwandelns der Paare, gerade wie Komplementärfarben sich ergänzen, heben und befeuern.
Kontraste müssen aber vorbereitet, vermittelt und gelöst werden. Starke Kontraste sollen nicht unvorbereitet schroff hervortreten.
Die Stützleistung der Säule wird angekündigt durch die Schwellung ihres Schafts, der Gegensatz ihrer Form zur Form der Last gemildert durch das Kapitäl. Die gotische Turmpyramide wird dadurch vorbereitet, daß ihr Unterbau vom Viereck ins Achteck übergeht.
Lösung, Hebung der Kontraste. Sehen Sie z. B., wie in der Braut von Messina all das schwüle Dunkel am Ende gelichtet wird durch den Selbstmord Cäsars. Wie beruhigend, entlastend, befreiend wirkt hier diese That! Trotz ihrer Schrecklichkeit geht doch alles in ein Adagio über.
Das Lösen ist im engeren Sinne ein Zurückkehren aus dem Bilde entwickelter Kämpfe zur Einheit.
In der Musik findet solches Zurückkehren buchstäblich statt: sie kehrt zum Grundton zurück.
Jedoch dieses Thema ist in der Lehre von den einzelnen Künsten zu behandeln.
Der Schluß des Paragraphen enthält zunächst eine Definition des Schönen in den Worten: sinnenfällige, ausdrucksvoll harmonische Form. Es gibt andere harmonische Formen, die nicht sinnenfällig sind. Ein gutes philosophisches System ist harmonisch, aber nicht sinnenfüllig; und wir werden es niemals in das Gebiet des Schönen stellen. Ein tugendhaftes Leben ist harmonisch, fällt aber nur ins Schöne, wenn diese Harmonie in schönen Formen sich ausdrückt. Ein großer Mechanismus ist harmonisch, weil alles zusammenstimmt; er ist auch sinnenfällig, aber nicht schön. Denn es handelt sich hier lediglich um seine Funktionen; er dient bloß dem Zweckmäßigen. Aesthetisch wird er nur durch überflüssigen Schmuck.
Die schöne Form ist wesentlich ausdrucksvoll. Im § 5 gebrauchte ich dafür auch das Wort mimisch, weil wir dort uns vorher fragten: wie kann denn die Natur, wo sie kein organisches Gebild, oder doch bloß Pflanzengruppen uns entgegenbringt, also im Landschaftsgemälde, wie kann da die Natur ausdrucksvoll erscheinen? Wir sagten, das bewirkt die menschliche Seele durch eine innige Symbolik, wodurch sie unbewußt der Natur eine Seelenstimmung unterlegt, so daß dieselbe uns anzusprechen scheint wie ein tierisches oder menschliches Wesen, das seine Stimmung mimisch ausdrückt. Wir legen unsere Seele in die Natur hinein und sehen sie an, wie wenn sie uns mimisch unsere Seele als die ihrige ausspräche.
Die Bezeichnung »ausdrucksvoll« oder »mimisch« wendet sich zugleich polemisch gegen den strengen Formalismus, welcher sagt: der Inhalt macht es gar nicht, sondern nur bestimmbare reine Form.
Den Begriff der Harmonie habe ich bereits erklärt.
»Sinnenfällige, ausdrucksvolle harmonische Form,« das wäre also meine Definition. Aber darin ist nicht gesagt, daß das Schöne immer nur Bild ist, daß es immer nur darauf ankommt: wie sieht es aus, wie ist die Oberfläche, die Erscheinung beschaffen? Die Erscheinung muß freilich das Innere aussprechen, dieses aber muß ganz in ihr enthalten sein. Das Wesentliche ist also doch immer der Begriff: Erscheinung, Bild; und den habe ich nicht hineingebracht, das muß man sich subintelligieren. Sie sehen: eine Definition ist immer etwas Fragliches, Prekäres; sie bedarf Auseinandersetzungen, oder umgekehrt: es muß ihr die Untersuchung vorausgegangen sein, und nur der versteht sie, nur dem dient sie, der die ganze Reihe von Begriffen durchläuft, welche in der Definition destilliert sind.
Hegel sagt: »der Staat ist der objektive Geist.« Erst kürzlich habe ich jemand darüber lachen gehört als über einen Unsinn. Wenn man aber Hegels Auseinandersetzung hierüber kennt, dann erscheint diese Bestimmung ganz vortrefflich. Alan muß also eine Definition immer zusammennehmen mit dem, was sie erläutert.
Ich will Ihnen noch einige Definitionen des Schönen geben; es kommt nur so viel nicht darauf an; Sie können auswählen.
Früher habe ich gesagt: »das Schöne ist die Idee in begrenzter Erscheinung«. Unter Idee versteht sich zunächst das Wesen des Dinges, das dargestellt werden soll; und dieses Wesen kommt im Schönen vollkommen zur Erscheinung an einem Individuum und dadurch die Idee aller Ideen. Allein das opfere ich ganz leicht gegen die hier gegebene Definition. Ich habe früher auch gesagt: »das Schöne ist das in sich gespiegelte und im Spiegel verklärte Leben.« »In sich gespiegelt«, das heißt: das Bild ist ja nicht außerhalb des Lebens. Der Spiegel ist im Leben drinnen, im Auge, in der Idealphantasie des Menschen; er ist selber Leben, gibt sich durch Auge, Ohr und Geist ein Gegenbild vom Leben und idealisiert es eben hiemit. So verstanden mag man sich diese Bestimmungen gefallen lassen.
Rosenkranz sagt: »das Schöne ist die Idee, wie sie im Elemente des Sinnlichen als die freie Gestaltung einer harmonischen Totalität sich ausdrückt« Er hat viel Gutes geschrieben – über Goethe – Diderot u. a. Besonders vortrefflich seine Aesthetik des häßlichen, ein Buch, das sehr à propos gekommen ist. Wer klar werden will über das Schöne, muß auch seinen Gegensatz, das Häßliche erkennen.. In dieser Definition wollen Sie zunächst bemerken die Worte: »im Elemente des Sinnlichen.« Wir haben gesagt: sinnenfällig. Dann: »Gestaltung einer harmonischen Totalität.« Alles Schöne ist eine Totalität; und indem es an einem Gegenstand ein vollkommenes Ganzes zeigt, gibt es uns auch den Glauben, daß die Welt ein vollkommenes Ganzes sein werde. – »Freie« Gestaltung, das ist ein sehr guter Zusatz. Wir haben gesehen: das Schöne hat wesentlich den Charakter der Freiheit. Der Druck des Lebens lastet nicht darauf. Ich habe früher, als wir das in eigenem Zusammenhang erwogen, aus Hiob die prächtigen Bilder von den wilden, unbezähmbaren Tieren angeführt Vgl. oben S. 67, 68.. In allem Schönen ist diese freie Lebendigkeit.
Daß Wolff das Schöne als einen »Anschein von Vollkommenheit« bezeichnet, ist erwähnt. Bedingt haben wir ihm darin zugestimmt. Auch habe ich schon Goethes Bestimmung angeführt, die zwar zu eng ist, aber vortrefflich charakterisiert. Das Schöne tritt ein, sagt er, »wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen« Vgl. oben S. 107, 116..
Das Schöne ist also dieses Schauen, dieses Hineinlegen. Wir sahen: zum Schönen gehören zwei: der Zuschauer und das Bild, Subjekt und Objekt. Ich sagte auch: das Schöne ist ein Kontakt zwischen dem Gegenstand und dem Anschauenden. Goethe thut gewiß sehr gut, dieses subjektive Moment in seine Definition hereinzunehmen und so scharf zu betonen durch die Worte »wenn wir – schauen«. Das objektive bezeichnet er mit den Worten: »das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit«. Er denkt dabei sichtbar an Bildhauer und Maler, an ein schöpferisch bewegtes Gestalten reiner Formen. Aber eben deswegen ist seine Definition zu eng; sie geht nur auf die bildenden Künste.
Wir fanden ferner, daß hier Vollkommenheit und Individualität immer beisammen sind, daß im Schönen das, was ja nur ein Ding an sich, ein begrenzter Gegenstand oder eine begrenzte, geschlossene Gruppe von Gegenständen ist, auch mangellos erscheint Vgl. oben S. 30, 100, 102ff, 106, 117,141.. Die schöne Form, sagten wir, zeigt sich ganz von ihrem Lebensgehalt erfüllt und daher harmonisch. Dabei fallen mir aus der Genesis die Worte ein: »Und Gott sah all alle seine Werke, und siehe, sie waren gut.«
An solche Eindrücke knüpft sich nun aber noch etwas, das ich soeben streifte. Ein einzelner sinnenfälliger Gegenstand erweckt hier die sichere Ahnung einer allgemeinen, alles durchdringenden und ordnenden Kraft, die sonst nicht sinnenfällig, sondern bloß im Denken und Glauben gefaßt wird Vgl. oben S. 4,19,142.. Das Schöne ist das Scheinbild eines Individuums, das in harmonischer Form einen bestimmten Lebensgehalt eigentümlich und vollkommen veranschaulicht und so die Vorstellung eines harmonischen Weltalls hervorruft. Wir haben beim echt Schönen das Gefühl eines großen Entzückens; und wenn wir hinweggehen, ist es uns, als walte nun etwas Fremdes, das wie ein magisches Goldlicht über der Wirklichkeit zittert. Es ist der Traum von einem vollkommenen Leben.
Bedenken Sie noch einmal Folgendes! Das Vollkommene wäre da, wo alle Dinge harmonisch sind, alle einander dienen und der Endzweck der Welt erreicht ist. Aber wo ist es denn? Kann es je an einem Orte erreicht sein? Nein. Kann es je zu einer Zeit kommen? Nein, es kann nicht. Das Vollkommene ist überall und nirgends, niemals und immer. In der empirischen Welt gibt es ja nichts Ganzes; das erfahren Sie bei jedem Schritt. Die Naturdinge sind so oder so angelegt, und kein einzelnes erreicht fehllos das Ziel seiner Bestimmung. Begegnet uns manchmal etwas, wobei wir sagen: das ist recht, näher geprüft erscheint es doch unzulänglich. Jedes einzelne Wesen ist durch seine Einzelheit auch beschränkt, begrenzt und dem Mangel unterworfen. Alle Existenzen sollen sich gegenseitig dienen und sie thun es auch, aber nicht rein; zwischen all ihr Wechselwirken hinein wirft sich der störende Zufall und drückt ihnen den Stempel der Gebrechlichkeit auf.
Was ist im Menschenleben das Gute? Man kann es nicht denken ohne das Schlechte und Böse. Sagen Sie: gut, so haben Sie das Gegenteil davon auch gesetzt. Das Gute ist kein ruhendes Sein, sondern ein lebendig bewegtes Niederkämpfen seines Gegenteils, des Bösen. Denken Sie sich eine Welt mit vollkommenen Menschen, so löst sich diese Vorstellung, genügend betrachtet, gänzlich auf. Was sollen Sie thun, wenn es nichts mehr zu erkämpfen gibt? Wahrheit verbreiten heißt Irrtum bekämpfen. Nehmen Sie von irgend einem Wesen an, es sei vollkommen, so kann es nicht mehr ein Individuum sein. Der Begriff Individuum wird ja durch den Begriff Vollkommenheit aufgehoben. Das Vollkommene kann also nicht irgend eine fertige Existenz irgendwo oder irgendwann sein; es ist unaufhörliche Thätigkeit, rastloses Geschehen. Seine Strahlen sind zerstreut, hier setzen sie aus, da scheinen sie hervor. In dieser ungewissen Schwebe schwankt und zittert die Welt. Wer alle Räume des ganzen Universums durch alle Zeiten überschauen könnte, hätte ein Bild, wie sehr die Vollkommenheit niemals fertig an einem Ort und in einer Zeit, sondern, in hohem Ringen und Verschlingen, Sondern, Umwenden und Ergänzen, ein ewig Bewegtes ist, ein ewiges Leben im unendlichen Ganzen aller Zeiten und Räume. Diesen Begriff können wir aber nie zu einer Anschauung bringen.
Und nun aber! Was leistet das Schöne? Es wirft in einen einzelnen Punkt der Zeit und des Raumes, auf einen einzelnen Gegenstand, oder aus eine Gruppe von Gegenständen einen Glanz, daß wir den Eindruck haben: hier ist das Vollkommene, jetzt haben wir es, da ist es, hier und jetzt Vgl. S. 10.. Wie ein konvexes Glas dient das Schöne dazu, die im Weltall zerstreuten Strahlen des Vollkommenen auf einen Punkt zu leiten. Blicken wir über seinen Kreis hinaus, so sehen wir sie in der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit und so ungleich ergossen, daß unser geistiges Auge immer wieder zweifelt an der inneren Ordnung der Welt, von der man glauben sollte, sie sei von einem absoluten Wesen regiert.
Man nehme z. B. nur das Wetter. Wenn alles verhagelt wird und Hungersnot eintritt, wie entsetzlich! Jetzt denkt man aber nach und sagt: ja schließlich müßte sich für den, der den ganzen Planeten für sich hätte, doch allgemein eine Wechselkompensation herstellen, so daß die Natur bei all tiefen Störungen am Ende doch sich wieder erholen könnte. Wir haben schlecht Wetter, anderswo hat man dafür schön Wetter. Man muß also ineinanderrechnen, dann kommt es am End' heraus. Alle diese Trübungen und Schädigungen heben sich wiederum auf, so daß dabei die Wesen doch bestehen; und das ist ganz in Ordnung. So wollen wir uns trösten. Aber wir möchten noch einen anderen Trost; und den bringt uns das Schöne. Im Schönen ist gut Wetter, und zwar jetzt, in diesem Bilde. Lassen Sie sich nicht durch den Gedanken stören, daß das Schöne auch Sturm, Gewitter, Uebel und Leid schildert! Das muß sich doch auch harmonisch lösen. Da geht es durch Dissonanzen, aber auch zur Harmonie, zum Accord.
Wir tragen in uns die Idee der Gerechtigkeit und glauben an eine Weltordnung, finden aber diesen Glauben selten bewährt. Wohl gibt es herrliche, großartige Momente, wo wir an der Geschichte selbst ein ihr einverleibtes Recht erkennen. Doch es erlischt, und wir sehen Unrecht herrschen über ganze Nationen durch Jahrhunderte hin. Dann kommt wieder eine Zeit, wo der Geist aus der Tiefe bricht und alte Sünden rächt. Das zieht sich verwickelt und unlösbar ins Grenzenlose.
Besorgen Sie nicht, ich wolle hier politisieren, wenn ich ein paar Beispiele bringe; ich brauche sie notwendig zum Zweck unserer Sache. Es hat drei starke Jahrhunderte gedauert, bis Oesterreich eine schwere Schuld büßen mußte, jene in der Zeit der Reformation begangene Schuld, wodurch es sich von Deutschland lossagte, von dem deutschen Geist, der ein protestantischer ist. Darum wurde es auch aus Deutschland hinausgeworfen. – Nehmen Sie ferner Frankreichs Verhältnis zu Deutschland, die Kriegspolitik Ludwigs XIV. und Napoleons I. Da hat keine Hand aus den Wolken gegriffen, da ist kein Wunder geschehen. Da hat sich einfach alte Schuld gerächt. Da sehen wir ausnehmend erkennbar eine Nemesis in der Geschichte. Aber wie furchtbar hart ist ihr Walten! Wie viel Unschuldige trifft es! – Und andere weithin gedehnte Strecken der Geschichte sind fast ganz lichtlos. Denken Sie an die unaufhörlichen Kämpfe und Greuel der Urvölker, an den 30jährigen Krieg, an die langen Zeiten der Dumpfheit und Schmach unseres Volkes! Wo waltet da ein Sinn, eine Nemesis? Wir stehen einem Rätsel gegenüber. Vor einem Auge jedoch, das alle Reihen der Geschlechter überschaut, müßte sich jede Lücke erfüllen, müßte jedes Uebel aufgelöst und das Ganze vollkommen erscheinen. Dieses Auge haben wir nicht. Aber etwas damit Verwandtes hat der Dichter. Der zieht die vereinzelten Lichter auf einen Punkt zusammen und sagt uns überzeugend: ja, es waltet ein höheres Gesetz, die ewige, gerechte, ausfegende Ordnung. So gibt er uns in einer Handlung ein Scheinbild des Vollkommenen, ein Scheinbild, das kein erlogenes ist, weil wir selbst ahnen: diese Lücken müssen sich ausfüllen. Zum Beispiel in Shakespeares Macbeth haben wir ein solches Bild der Nemesis und ihres furchtbar erhabenen Waltens. – Die Hexen und ihre Prophezeiungen sind ja dort Nebensache. – Dann ein Beispiel, das ich nie genug bewundern konnte: Shakespeares Hamlet. Da erscheint zwar ein Geist, aber in das Handeln der Menschen greift kein Wunder ein. Alles macht sich so, daß es in den Dingen selbst liegt. Jeder handelt und fehlt im Handeln. Schuld auf Schuld. Auch der Beste geht in seinem edlen Streben nicht frei aus. Und am Schluß sehen wir: der Mensch denkt und Gott lenkt. Jeder will etwas erreichen und erreicht etwas anderes, als sein Zweck war. Aus all diesem Gewebe sehen wir ein Resultat heraustreten, an dem jeder unbewußt gearbeitet hat. Und es erscheint gerecht. Die Ermordung des Königs wird endlich doch noch gesühnt. Hamlet darf die Rache noch ausüben, aber für sein Zaudern ist er sichtbar dadurch gestraft, daß er, Rache übend, selbst der Rache verfällt, Richter ist und gerichtet wird. Das Schicksal erscheint hier als ein Netz, an dem alle weben und in dem sich alle fangen. Es erarbeitet sich ohne Wissen der Einzelnen, deren jeder nur seinem beschränkten Zwecke nachgeht, dieses klare Netz einer inneren Gerechtigkeit, worin Alles seine Vergeltung findet. So muß die Weltgeschichte sein: ein geheimnisvolles Gewebe, an dem eine Geisterhand mitstrickt, die wir nicht kennen, und es so lenkt, daß am Ende die Schuld sich darin fängt.
Was wir sähen, wenn wir die ganze Weltgeschichte in alle Vergangenheit und Zukunft überblicken könnten, das wirft nun also der Dichter in ein unzertrennliches Bild zusammen, so daß wir sagen müssen: es ist gelöst. Die Weltordnung, die wir glauben möchten und nicht sehen können, wird sichtbar gemacht in einem einzelnen Fall.
Es folgt nun von selbst: ein solches Bild erfüllt uns mit einer Lust, die »den Charakter der Unendlichkeit« hat, denn es ist uns, als blickten wir in ein vollkommenes Weltall; und das wird wohl eine Empfindung des höchsten Entzückens sein. Und jetzt fällt ein neues Licht auf unseren früheren Satz: Die ästhetische Lust ist Interesse ohne Interesse. Denn haben wir die Stimmung, in einen so ganz lauteren Zustand zu blicken, so braucht es uns mit keinem daraus entspringenden Zweck zu pressieren. Daher werden wir ruhig und wird jeder leidenschaftlichen Teilnahme der Stachel genommen.
Nun nehmen Sie dazu die Doppelnatur des Menschen und ihren Einklang im Schönen! Künstler und Zuschauer sind dabei in reinstem Gleichmaß sinnlich und seelisch thätig, weil aller Inhalt vollkommen sinnlich die Erscheinung gibt und weil alle Erscheinung ganz seelenvoll ist. Wir müssen also sagen: Wie im Schönen das Weltall harmonisch erscheint, so daß wir nach dem Genuß eines echten Kunstwerkes in höherer Stimmung unseres Weges gehen, ebenso zeigt sich das Schöne als die wahrhaft vereinigende Mitte der Gegensätze, aus denen das menschliche Wesen besteht, der Gegensätze, die ursprünglich eins sein sollten, die aber in Zwiespalt treten und in der Wirklichkeit niemals ganz versöhnbar sind: der Natur in uns mit ihrer Sinnlichkeit und des Geistes mit der ganzen Strenge seiner Anforderungen. Vgl. oben S. 4, 98, 115.
Es gibt allerlei Arten von Luft, aber alle haben derjenigen Lust gegenüber, die wir beim Echtschönen empfinden, einen Charakter der Einseitigkeit. Die Entdeckung einer Wahrheit erzeugt große Freude und ist etwas Herrliches, aber das Forschen geht, ich möchte sagen, so grausam vor sich und bewegt sich in so abstrakten Sätzen, daß in der Lust des Erkennens ein Teil der Menschennatur unbefriedigt bleibt. – Gutes zu thun ist eine hohe Lust, aber auch beim besten Willen geht es dabei nie ohne Kampf ab, nie ohne schwere Selbstbezähmung. Wir müssen dabei unserer Sinnlichkeit weh thun und Opfer auferlegen. Folgen wir aber der Neigung, die doch immer sinnlich ist, so geht es nicht ab, ohne daß wir Arbeit versäumen, ohne daß wir zu weit gehen und uns dann Vorwürfe machen etc. Der Sinnengenuß überspringt das Maß und verfällt ins Dumpfe, Gemeine. Wir bringen es im Leben zu keiner richtigen, ganzen Einheit unseres Wesens. Der Beste, dem es gelungen ist, Charakter zu werden und es dahin zu bringen, daß ihm Pflicht zur Neigung wird, darf sich nie ganz trauen; die Höhe ist nie ganz erreicht. Er wird jeden Tag in Sorge sein, die Neigung werde in Widerspruch treten mit der Pflicht. So schwer in unserer Stoffnatur ist Geist und Sinnlichkeit zu versöhnen. Im Schönen aber fällt beides zusammen; da wird Sinnlichkeit und Geist in harmonischem Ausgleich befriedigt; da dürfen wir ganz sinnlich sein, ohne geistlos zu werden, weil hier in das Sinnliche die Seele vollständig ergossen ist. Ich erinnere Sie an den Anfang von Schillers Gedicht »Das Ideal und das Leben«:
»Ewig klar und spiegelrein und eben
Fließt das zephyrleichte Leben
Im Olymp den Seligen dahin,
Monde wechseln und Geschlechter fliehen,
Ihrer Götterjugend Rosen blühen
Wandellos in ewigem Ruin,
Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden
Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl;
Auf der Stirn des hohen Uraniden
Leuchtet ihr vermählter Strahl.«
Im Anblick des Schönen werden wir zu Himmelsbewohnern erhoben, in deren Wesen Sinnliches und Geistiges rein vermählt ist; so meint es Schiller; und wenn der es sagt, wird es nicht geschraubt sein und noch weniger ein heuchlerisches Wort.
Das wahrhaft Schöne will uns nicht moralisch erziehen und nicht belehren, aber in der ungemein gehobenen Empfindung, womit es uns entläßt, wirkt es indirekt auf die Veredlung unserer Natur. Ich habe gesagt: auf einer Stelle des Raumes, in einem Abschnitt der Zeit erscheint uns im Schönen etwas, das fertig, abgeschlossen, ohne Fehl, in sich befriedigt ist, und in diesem Anblick nehmen wir den Glanz der Gewißheit mit hinweg, daß die Welt überhaupt kein zerrissenes Stückwerk sein werde, sondern ein volles, in sich zusammenstimmendes Ganzes Vgl. oben S. 19, 143.. Das gilt aber nicht etwa nur von ganz Großen, nicht nur von den erhabenen Werken eines Phidias, Raphael, Michelangelo, Shakespeare. Das geringste Gebilde der Kunst, und wäre es nur ein Gerät, kann uns in solches Entzücken versetzen. Ich will Ihnen zum Beleg ein kurzes Gedicht von Ed. Mörike vorlesen. Es handelt sich bloß von einer Lampe:
Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand
Der Epheukranz von goldengrünem Erz umflicht.
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn,
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
Dieses Dichterwort offenbart es schöner, als ich es versucht habe, prosaisch zu zeigen, wie das Schöne frei, unabhängig nach außen, ein vollendeter Mikrokosmos ist und uns deshalb ein Gefühl des Höchsten gibt.
Schiller sagt im Vorwort zur Braut von Messina: »Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken«. Wenn Schiller das sagt in der Einleitung zu einer so furchtbaren Tragödie, so wird er natürlich unter Freude nicht die gemeine Freude verstehen. Vom Schönen ist ja nicht ausgeschlossen das höchst Furchtbare und nicht der Stoß, den uns das Komische im ersten Augenblick immer zu geben pflegt. Aber dieses wie jenes waltet hier immer so, daß es mit einem Accord schließt. Die Tragödie will den Menschen über das Zeitlose erheben, und im Zeitlosen ist es ihm erst wohl. Hölderlin sagt:
»Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen,
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.«
Wenn Sie nun bedenken, wie die zwei im Leben immer zerrissenen Seiten: Geistigkeit und Sinnlichkeit, hier, in der Kunst sich vereinigen, so können Sie nun auch sagen: Das Schöne stellt die Einheit der menschlichen Natur wieder her Vgl. oben S. 4, 98, 115, 147.. Das ist es, was Schiller in immer neuen Wendungen zeigt: Hier erscheint Formtrieb und Stofftrieb, Pflicht und Neigung miteinander versöhnt. Ich bitte Sie namentlich nachzulesen über die herrliche Büste der Juno Ludovisi eine Stelle, wo er am griechischen Gottheitsideal auseinandersetzt, wie hier alle Widersprüche in Harmonie gebracht sind.
Es muß im menschlichen Wesen eine Region sein, wo das Nervengeflechte unserer Sinnlichkeit sozusagen am einen Ende ganz unmittelbar das geistige Leben berührt, eine Region, wo dieses just in sie einströmt. Diese Region entbehren viele. Wer aber zum Schönen berufen ist, es schön findet, oder selber Schönes schafft, in dem ist wahrhaft vorhanden jene geheimnisvolle Region, wo Sinnlichkeit und Geist zusammenfallen. Schiller schreibt an Goethe: »Alle Ihre denkenden und fühlenden Kräfte haben auf die Einbildungskraft kompromittiert«, will also sagen: haben einen Kompromiß eingegangen, sich in der Einbildungskraft zusammenzufinden. Dies ist der schlagendste Ausdruck für die geniale Kraft, die das Schöne erzeugt. Sie besteht in einem Zusammengreifen des ganz Seelischen und des ganz Sinnlichen.
Ohne das Schöne gäbe es im menschlichen Wesen also keinen Punkt, wo sinnliche und geistige Thätigkeit koinzidieren. Ich hätte können damit anfangen im ersten Paragraphen, etwa mit dem Satze: Wenn der Mensch nicht, in zwei ungleiche Stücke gespalten, auseinanderfallen soll, so muß das Schöne eintreten als die Copula, als das Einheitsband. Ich habe es nicht gethan, weil ich vom ABC ausgehen wollte.
Wir sind langsam vorangerückt, Schritt für Schritt weitergelangt und am Ende zu der Erkenntnis: das Schöne ist ein Konvolut, eine Zusammenfassung von Eigenschaften. Man meint, es sei das Einfachste von der Welt, da es ja doch so unmittelbar einleuchtet; und wenn man es untersucht, so zeigt sich, es enthält einen Vorgang unserer Sinne und unseres Geistes, worin so viele Punkte sich vereinigen, daß man nicht daran hinkommt mit einem Schluß, sondern mit einer Reihe von Schlüssen.
Betrachten Sie das Wesen unseres physiologischen Sehens! Die Wissenschaft beleuchtet seinen äußerst komplizierten Akt, spricht uns von einer wellenförmigen Bewegung, die durch die Sehnerven nach dem Gehirn fortgesetzt wird und unserem Bewußtsein als Licht und Farbe erscheint. Allein, was diesem hiefür gilt, ist ja außer ihm nicht Farbe und Licht, es wird bloß in unserem sehenden Geiste dazu. Wir kennen den Bau des Auges, wissen, daß das Netzhautbild im Augenhintergrund, wie in einer camera obscura, entsteht. Aber wie entsteht überhaupt dieses wunderbare Gebilde? Wie erklärt sich sein Accommodationsvermögen? Und wer kann sagen, wodurch das geschaute Bild uns zum Bewußtsein gelangt? So verwickelt und rätselvoll finden wir allein schon diesen Prozeß. Allein das Schöne ist noch etwas ganz anderes: da kommt eine Geistesthätigkeit hinzu, wodurch das Geschaute und Gehörte ideal wird.
Wir stehen hier an der Frage, wie man die Wissenschaften einteilt. Wohin gehört die Lehre vom Schönen oder der Kunst, die Aesthetik? Wie verhält sich das Schöne zum Guten und zum Wahren? Dieser Frage muß noch ein Paragraph gewidmet werden. Also: