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Worin man Miß Arcadia Stanfort ihrerseits und nicht ohne lebhafte Ungeduld warten sieht, und in dem Mr. John Proth sich für unzuständig erklärt.
An demselben Vormittag stand der Richter John Proth an seinem Fenster, während seine Dienerin Kate im Zimmer beschäftigt war. Ob die Feuerkugel über Whaston hinzog oder nicht, darum kümmerte er sich nicht im mindesten. Ohne sich besondere Gedanken zu machen, ließ er seine Blicke über den Konstitutionsplatz hinschweifen, auf den die Haupttür seines bescheidenen Hauses hinausführte.
Was aber für Mr. Proth ohne Interesse war, das war in den Augen Kates von größter Bedeutung.
»Er soll also aus Gold sein, Herr Proth? fragte sie, vor ihrem Herrn stehen bleibend.
– Ja, es scheint so.
– Ihnen scheint das aber ziemlich gleichgültig zu sein.
– Wie Sie sehen, Kate.
– Wenn die Kugel aber aus Gold ist, muß sie doch viele Millionen wert sein!
– Millionen und Milliarden, Kate. Ja, es sind Milliarden, die uns da oben über den Kopf hinfliegen.
– Und die herunterfallen werden, Herr Richter!
– So sagt man wenigstens.
– Stellen Sie sich nur vor: dann wird es auf Erden keine Unglücklichen mehr geben!
– Oho, genau noch ebensoviele.
– Warum nicht gar! Ich meinte doch ...
– Das würde zu lange Erklärungen erfordern. Vor allen Dingen, Kate, haben Sie denn eine Vorstellung davon, was das ist, eine Milliarde?
– Eine Milliarde, Herr Proth, nun ja ... das ... das ist ...
– Das Tausendfache von einer Million.
– Was Sie sagen!
– Ja, Kate. Und wenn Sie hundert Jahre lebten, hätten Sie nicht die Zeit dazu, eine Milliarde – auch bei zehnstündiger Tagesarbeit – zu zählen.
– Wäre das möglich, Herr Proth!
– Sogar unumstößlich gewiß!«
Der Dienerin blieb, wie man sagt, Mund und Nase offen stehen bei dem Gedanken, daß ein Jahrhundert nicht ausreichen sollte, eine Milliarde durchzuzählen! Dann nahm sie aber den Besen und den Federwisch zur Hand und ging wieder an ihre Arbeit. Von Minute zu Minute blieb sie jedoch wie in Gedanken versunken stehen.
»Wieviel käme wohl auf jeden einzelnen, Herr Proth?
– Wieviel? ... Wovon denn?
– Nun, von der goldenen Feuerkugel, wenn die gleichmäßig verteilt würde.
– O, das läßt sich leicht berechnen, Kate,« antwortete der Richter.
Damit legte er schon ein Blatt Papier vor sich hin und ergriff einen Bleistift.
»Angenommen, daß die Erde – sagte er während des Rechnens – fünfzehnhundert Millionen Bewohner hat, so ergäbe ... ergäbe das auf den Kopf dreitausendachthundertneunundfünfzig Francs und siebenundzwanzig Centimes.
– Mehr nicht? murmelte Kate enttäuscht.
– Nein, mehr nicht,« versicherte ihr Mr. John Proth, während Kate den Himmel traumverloren ansah.
Als sie dazu kam, sich wieder der Erde zuzuwenden, bemerkte sie nahe dem Eingange zur Exeterstraße zwei Personen, auf die sie die Aufmerksamkeit ihres Herrn hinlenkte.
»Sehen Sie doch dort, Herr Proth, die beiden Damen, die offenbar warten ...
– Ja ja, Kate, die sehe ich schon.
– Fassen Sie die eine ins Auge ... die größere ... die, die so ungeduldig umhertrippelt.
– Richtig! Jetzt stampft sie mit dem Fuße auf, Kate. Ich weiß aber nicht, wer die Dame ist.
– Ach, Herr Proth, das ist ja dieselbe, die vor mehr als zwei Monaten sich hier vor uns als Zeugen trauen ließ, ohne dazu vom Pferde zu steigen.
– Die Miß Arcadia Walker? fragte John Proth.
– Jetzt Mistreß Stanfort.
– Ja, richtig, das ist sie, bestätigte der Richter.
– Was mag sie aber hier wollen?
– Davon habe ich keine blasse Ahnung, antwortete Mr. Proth, und ich würde auch keinen Farthing drum geben, es zu erfahren.
– Sollte sie Ihre Dienste schon wieder nötig haben?
– Das ist kaum glaublich, da die Bigamie im Gebiete der Vereinigten Staaten gesetzlich verboten ist, sagte der Richter, indem er das Fenster schloß. Was sie aber auch vorhaben mag, ich darf nicht vergessen, daß es Zeit ist, nach dem Gerichte zu gehen, wo heute eine wichtige Verhandlung bezüglich der Feuerkugel stattfinden soll, die Sie ja so sehr interessiert. Wenn die Dame da drüben hierher kommen sollte, um mich zu sprechen, so werden Sie mich bei ihr entschuldigen.«
Während dieser Worte hatte sich Mr. John Proth schon zum Ausgehen fertig gemacht. Ruhigen Schrittes begab er sich die Treppe hinunter, ging durch die kleine, nach der Potomacstraße zu gelegene Tür und verschwand bald in dem seinem Hause auf der andern Straßenseite gegenüberliegenden Justizpalaste.
Kate hatte sich nicht getäuscht: es war wirklich Mrs. Arcadia Stanfort, die sich an diesem Morgen mit ihrer Kammerzofe Berta in Whaston befand. Beide gingen unruhigen Schrittes auf und ab und sahen forschend die lange, abfallende Exeterstraße hinunter.
Eben schlug es an der Rathausuhr zehn.
»Das ist stark ... er ist noch nicht da! rief Mrs. Stanfort.
– Vielleicht hat er den Tag des Zusammentreffens vergessen, meinte Berta.
– Vergessen! wiederholte die junge Frau mit Entrüstung in der Stimme.
– Wenigstens wird er nicht ordentlich daran gedacht haben, fuhr Berta fort.
– Nicht daran gedacht!« wiederholte ein zweites Mal ihre Herrin noch erregter.
Dann ging sie, die Kammerjungfer ihr auf den Fersen, einige Schritte die Exeterstraße hinunter.
»Du siehst ihn nicht? fragte sie nach einigen Minuten voller Ungeduld.
– Nein, Madame!
– Das ist wirklich stark!«
Mrs. Stanfort wandte sich wieder dem freien Platze zu.
»Nein ... niemand ... noch immer niemand! sprach sie ärgerlich vor sich hin. Mich so warten zu lassen, nach dem, was zwischen uns verabredet ist. Und heute haben wir doch den achtzehnten Mai.
– Ja freilich, Madame.
– Und es wird bald halb elf Uhr sein.
– In zehn Minuten.
– Nun, er soll nicht etwa glauben, meine Geduld erschöpfen zu können. Ich halte hier den ganzen Tag aus und wenn nötig noch länger!«
Die Dienerschaft des Hotels am Konstitutionsplatze hätte heute das Hin- und Hergehen der jungen Frau ebenso beobachten können, wie vor zwei Monaten die Ungeduld des Reiters, der diese damals erwartete, um sich mit ihr zu dem Richter und Standesbeamten zu begeben. Jetzt freilich dachten alle, Männer, Frauen und Kinder, an ganz andere Dinge ... an etwas, woran in ganz Whaston Mrs. Stanfort als die einzige nicht dachte. Alle andern hatten nur das wunderbare Meteor im Kopfe und sprachen über seinen Lauf am Himmel, sowie von seinem allerdings für verschiedene Tage prophezeiten Sturz auf die Erde. Die auf dem Konstitutionsplatze versammelten Gruppen, die Portiers an den Hoteltüren ... niemand bekümmerte sich um die Anwesenheit der Mrs. Stanfort. Wir wissen nicht, ob der Mond, wie es der Volksglaube bezüglich der Mondsüchtigen annimmt, auf das Gehirn des Menschen einen besonderen Einfluß ausübt. Jedenfalls können wir versichern, daß unsre Erde jener Zeit eine erstaunliche Menge von »Meteorsüchtigen« gebar. Essen und Trinken vergaßen sie bei dem Gedanken, daß eine Kugel im Werte von Milliarden über ihrem Haupte hinzog und daß diese in der nächsten Zeit auf die Erde herunterfallen sollte.
Mrs. Stanfort hatte dagegen offenbar andere Sorgen.
»Du siehst ihn nicht, Berta? wiederholte sie nach kurzer Pause ihre Frage.
– Nein, Madame!«
In diesem Augenblicke erhob sich am Ende des Platzes ein lautes Geschrei. Die Vorübergehenden eilten nach dieser Seite hin. In den benachbarten Straßen waren schnell einige hundert Menschen zusammengeströmt ... die Ansammlung wurde bald beträchtlich. Gleichzeitig drängten sich Neugierige an den Fenstern des Hotels.
»Da ist er! ... Da ist er!«
Das waren die Worte, die von Mund zu Mund flogen und die ja dem Wunsche der Mrs. Stanfort völlig entsprachen, so daß diese laut »Endlich! ... Endlich!« ausrief, als hätten die Rufe der Menge ihr gegolten.
»Ach nein, Madame, mußte die Zofe ihr zureden, die Rufe da drüben galten nicht Ihnen.«
Und weshalb sollte die Volksmenge auch den, den Mrs. Arcadia erwartete, so geräuschvoll empfangen, warum überhaupt sein Erscheinen begrüßt haben?
Übrigens wandten jetzt alle Köpfe sich dem Himmel zu, die Arme streckten sich aus und alle Blicke richteten sich auf den nördlichen Teil des Horizontes.
War es etwa das berühmte Meteor, das jetzt sichtbar über der Stadt schwebte? Hatten sich die Einwohner hier auf dem Platze versammelt, es bei seinem Vorüberziehen zu begrüßen?
Nein. Zu dieser Stunde kreiste die Feuerkugel am Himmel der andern Hemisphäre. Und selbst wenn sie sich jetzt über dem Horizont der Stadt befunden hätte, würde man sie am hellen Tage mit unbewaffnetem Auge nicht haben sehen können.
Wem rief denn die Volksmenge so laut jubelnd zu?
»Einem Ballon, Madame, sagte Berta, da sehen Sie? Eben taucht er hinter dem Turme der Saint-Andrewkirche auf.«
Langsam aus den obern Schichten der Atmosphäre niedersinkend, zeigte sich in der Tat jetzt ein Aerostat, der von den sympathischen Zurufen des Volkes begrüßt wurde. Weshalb aber dieser außergewöhnliche Jubel? Bot diese Luftfahrt vielleicht ein ganz besonderes Interesse? ... Lagen bestimmte Gründe dafür vor, daß die Allgemeinheit ihn zu seinem Erfolge beglückwünschte?
Ja, das war in der Tat so.
Gestern Abend war dieser Ballon in einer Nachbarstadt aufgestiegen, besetzt von dem berühmten Luftschiffer Walter Wragg und einem Gehilfen. Der Aufstieg hatte keinen andern Zweck gehabt als den, die Feuerkugel einmal unter günstigeren Umständen zu beobachten. Das war die Ursache der Erregung des Volkes, das es kaum erwarten konnte, die Ergebnisse dieses originellen Unternehmens zu erfahren.
Natürlich hatte, nachdem die Luftfahrt beschlossen war, Mr. Dean Forsyth zum größten Schrecken der alten Mitz darum nachgesucht, »dabei sein zu dürfen« – wie die Franzosen sagen – ebenso natürlich hatte er sich da Auge in Auge dem Dr. Hudelson gegenüber gesehen, der zum nicht geringen Schreck seiner Gattin das gleiche Verlangen geäußert hatte. Das ergab eine heikle Lage, da der Luftschiffer nur einen Passagier mitnehmen konnte. Das veranlaßte einen recht stürmischen Briefwechsel zwischen den beiden Rivalen, die denselben Anspruch auf Berücksichtigung erhoben. Schließlich wurden beide zugunsten eines dritten abgewiesen, den Walter Wragg als seinen Gehilfen bezeichnete, ohne dessen Unterstützung er nicht aufsteigen zu können erklärte.
Jetzt führte ein leichter Wind den Ballon über Whaston zurück und die Bevölkerung strömte zusammen, den Luftschiffern einen glänzenden Empfang zu bereiten.
Von einer jetzt kaum wahrnehmbaren Brise fortgetragen, fiel der Ballon ruhig nieder und landete in der Mitte des Konstitutionsplatzes. Hunderte Arme faßten sofort die Gondel, während Walter Wragg und sein Gehilfe ausstiegen.
Der Gehilfe, der es seinem Herrn überließ, für die Gasentleerung des Ballons zu sorgen, ging schnellen Schrittes auf die ungeduldige Mrs. Arcadia Stanfort zu.
»Da bin ich, Madame, sagte er, als er sich verneigend vor ihr stand.
– Um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten, antwortete Mrs. Arcadia Stanfort trocken, wobei sie nach den Zeigern der Rathausuhr wies.
– Und wir wollten um zehn Uhr dreißig Minuten zusammentreffen, ja ja, ich weiß es, gestand der Ankömmling mit höflicher Nachgiebigkeit zu. Ich bitte daher um Entschuldigung, die Luftschiffe entsprechen unsern Wünschen nicht immer mit der erforderlichen Pünktlichkeit.
– Ich hatte mich also nicht getäuscht? Du warst es, der sich mit Walter Wragg in der Gondel befand?
– Ganz recht, das war ich.
– Willst du mir auch erklären, wie das kam?
– O, das war sehr einfach. Es erschien mir originell, auf diese Weise zu unserm Rendez-vous zu kommen. Da hab ich mir mit einer Handvoll Dollars einen Platz in der Gondel von Walter Wragg gegen die Versicherung erkauft, mich hier Punkt halb elf abzusetzen. Ich glaube, wir können ihm verzeihen, daß er sich um fünf Minuten geirrt hat.
– Ja, das können wir, da du nun da bist, stimmte ihm Mrs. Arcadia Stanfort zu. Ich hoffe doch, deine Anschauungen sind noch die gleichen?
– Vollkommen dieselben.
– Deine Ansicht ist noch immer, daß wir am besten tun, auf ein gemeinschaftliches Leben zu verzichten?
– Das ist meine Ansicht.
– Und die meinige, daß wir nicht einer für den andern geschaffen sind.
– Darin stimme ich mit dir völlig überein.
– Ich bin übrigens weit davon entfernt, deine guten Eigenschaften zu verkennen ...
– So wie ich die deinigen nach Gebühr zu schätzen weiß.
– Man kann eben einander achten, ohne einander zu gefallen. Achtung ist ja noch keine Liebe und wird eine solche Unvereinbarkeit der Charaktere nicht ertragen.
– Das sind goldene Worte.
– Freilich, wenn wir einander liebten ...
– Das wäre ein ander Ding.
– Wir lieben uns aber nicht.
– Darüber besteht kein Zweifel.
– Wir haben ja geheiratet, ohne einander näher zu kennen und da haben wir gegenseitig einige Enttäuschungen erlebt ... Ja, hätten wir uns gegenseitig einen Dienst erweisen können, der uns tiefer ergriffen hätte, so würden die Dinge nicht so liegen, wie es jetzt der Fall ist.
– Leider war uns das versagt. Du hast dein Vermögen nicht zu opfern brauchen, um mich vor dem Ruin zu bewahren.
– Ich hätte es aber getan. Anderseits war es auch dir nicht bestimmt, mein Leben mit Gefahr für dein eigenes zu retten.
– Ich würde jedoch keinen Augenblick gezögert haben, es zu tun, Arcadia.
– Davon bin ich überzeugt, nur bot sich keine Gelegenheit dazu. Früher waren wir einander fremd, und fremd sind wir einander noch heute.
– Das ist leider wahr.
– Wir hatten nur geglaubt, dieselben Neigungen zu haben, vor allem die Vorliebe für das Reisen ...
– Wobei wir uns allein über die einzuschlagende Richtung nicht einigen konnten.
– Ganz recht, wenn ich nach dem Süden wollte, war es dein Wunsch, nach dem Norden zu gehen.
– Ja, und wenn es meine Absicht war, nach dem Westen zu reisen, bestandest du immer darauf, nach dem Osten zu gehen.
– Die Geschichte mit der Feuerkugel bringt aber nun den Kelch zum Überlaufen.
– Freilich ... freilich, das ist auch schon geschehen.
– Denn du bleibst doch wohl dabei, dich der Partei des Mister Dean Forsyth anzuschließen.
– Ganz entschieden!
– Und dich nach Japan zu begeben, um dem Niederfallen des Meteors beizuwohnen?
– So ist es.
– Und da ich entschlossen bin, der Ansicht des Doktor Hudelson zu folgen ...
– Willst du dich nach Patagonien begeben ...
– Hier ist nun kein versöhnender Vergleich möglich.
– Nein ... keiner.
– So bleibt uns also nur ein Weg übrig ...
– Gewiß, nur einer!
– Und zwar den Richter nochmals aufzusuchen, mein werter Herr.
– Ich folge Ihnen, Madame!«
In gleicher Linie, aber drei Schritt voneinander entfernt, gingen nun beide auf das Haus des Mr. Proth zu, während ihnen die Kammerzofe in angemessener Entfernung folgte.
Hier stand die alte Kate an der Tür.
»Ist Mister Proth zu sprechen? fragten gleichzeitig Herr und Frau Stanfort.
– Der ist ausgegangen,« antwortete Kate.
Die Gesichter der streitbaren Eheleute zogen sich gleichmäßig in die Länge.
»Auf lange Zeit? erkundigte sich Mrs. Stanfort.
– Bis zum Mittagessen, sagte Kate.
– Und er speist um ...?
– Um ein Uhr.
– Wir werden um ein Uhr wieder hier sein,« erklärten Mr. und Mrs. Stanfort sich umwendend wie aus einem Munde.
Nahe der Mitte des Platzes angelangt, die noch immer der Ballon Walter Wraggs einnahm, blieben sie einen Augenblick stehen.
»Wir haben nun zwei Stunden zu warten, ließ sich Mrs. Arcadia Stanfort vernehmen.
– Zwei und eine Viertelstunde, verbesserte Mr. Seth Stanfort ihre Aussage.
– Würde es dir recht sein, diese zwei Stunden gemeinsam zu verbringen?
– Wenn du dem gütigst zustimmst.
– Was denkst du über einen Spaziergang am Ufer des Potomac?
– Den wollt' ich dir eben vorschlagen.«
Mann und Frau begannen sich jetzt nach der Exeterstraße hin zu entfernen, doch nur, um nach drei Schritten wieder stehen zu bleiben.
»Würdest du mir eine Bemerkung erlauben? fragte Mr. Stanfort.
– Mit Vergnügen, antwortete Mrs. Arcadia.
– So möchte ich feststellen, daß wir heute übereinstimmen. Das ist das erste Mal, Miß Arcadia.
– Und auch das letzte Mal!« erwiderte diese schon weitergehend.
Um zum Anfang der Exeterstraße zu gelangen, mußten Mr. und Mrs. Stanfort sich erst durch die Menschenmenge Bahn brechen, die sich noch um das Luftschiff drängte. Und wenn diese Menge nicht noch dichter war, wenn sich nicht die gesamte Einwohnerschaft Whastons auf dem Platze versammelt hatte, so lag das daran, daß noch ein andrer und noch sensationellerer Vorgang das öffentliche Interesse erregte.
Seit Anbruch des Tages hatte sich die ganze Stadt vor dem Justizpalaste eingefunden, wo sich schnell eine lange Reihe wartender Personen bildete. Sobald sich die Pforten des Gebäudes öffneten, strömte alles lärmend in den Sitzungssaal, der in einem Augenblick zum Brechen gefüllt war. Es bedurfte der Anwendung von Gewalt, die zum Zurückweichen zu bringen, die darin hatten keinen Platz finden können, und diese verunglückten Nachzügler waren es, die, um einen Ersatz zu finden, der Ballonlandung Walter Wraggs zugesehen hatten.
Gewiß wäre es ihnen aber lieber gewesen, mit den Bevorzugten im Verhandlungssaale des Gerichtes zu sitzen, denn hier stand jetzt die »riesigste« Angelegenheit auf der Tagesordnung, die in der Vergangenheit und der Zukunft jemals den Richtern zur Entscheidung unterbreitet werden sollte.
Die wahnwitzige Erregung des Volkes hatte zwar scheinbar bereits den höchsten Grad erreicht, als die Pariser Sternwarte bekanntgab, daß die Feuerkugel, mindestens ihr Kern, aus reinem Golde bestände, und doch ließ sich dieses Delirium nicht mit dem vergleichen, das überall auf Erden zum Ausbruche kam, als die Herren Dean Forsyth und Sydney Hudelson verkündet hatten, daß das Asteroid unbedingt auf die Erde fallen werde. Die Fälle von Geistesstörung, die sich daraufhin entwickelten, waren fast unzählbar, und es gab bald kein Irrenhaus mehr, das binnen wenigen Tagen nicht zu klein gewesen wäre.
Unter allen diesen Narren waren die tollsten aber jedenfalls die Urheber dieser Erregung, die ihre Wellen über den ganzen Erdboden wälzte.
Bisher hatte weder Mr. Dean Forsyth noch der Doktor Hudelson an eine solche Möglichkeit gedacht. Wenn sie eifrig die Priorität für die Entdeckung der Feuerkugel für sich in Anspruch nahmen, geschah das nicht wegen deren Wert, wegen der Milliarden, von denen doch kein Mensch etwas bekommen würde, sondern nur aus dem Grunde, daß der eine den Namen Forsyth und der andere den Namen Hudelson für alle Zeit mit diesem wichtigen astronomischen Ereignis verbunden wissen wollte.
Die Sachlage änderte sich freilich gänzlich, nachdem sie in der Nacht vom 11. zum 12. Mai die Störung in der Bewegung des Meteors hatten nachweisen können. Damit drängte sich ihnen eine brennendere Frage als alle die andern auf.
Wem würde die Feuerkugel nach ihrem Niederfallen gehören? Wem die Trillionen des Kernes, den jetzt eine glänzende Aureole umhüllte? Wenn diese verschwunden war – und man hatte es hier übrigens nur mit ungemein feinen Strahlen zu tun – mußte der Kern zutage liegen. Dann würde es ja leicht sein, ihn in klingende und vollwichtige Münzen zu verwandeln! ...
Wem würde er aber gehören?
»Mir! ... Mir! hatte ohne Zögern Mr. Dean Forsyth gerufen, mir, der seine Erscheinung am Horizonte von Whaston zuerst gemeldet hat!«
»Mir! ... Mir! hatte mit gleicher Überzeugungstreue der Doktor Hudelson gerufen, weil ich der erste Entdecker bin!«
Ihre widerspruchsvollen und unvereinbaren Ansprüche hatten die beiden Überspannten durch die Presse auch eifrigst verbreitet. Zwei Tage lang sah man die Spalten der Whastoner Tagesblätter vollgepfropft mit den wütendsten Auslassungen der beiden Gegner. Sie warfen sich dabei die schlimmsten Bezeichnungen wegen des unfaßbaren Meteors an den Kopf, das sich aus seiner Höhe von vierhundert Kilometern fast über sie lustig zu machen schien.
Daß unter diesen Umständen von der geplanten Heirat keine Rede sein konnte, liegt ja auf der Hand. Der 15. Mai ging denn auch vorüber, ohne daß Francis und Jenny aufgehört hatten, Verlobte zu sein.
Waren sie überhaupt noch berechtigt, einander als »Verlobte« zu betrachten? Seinem Neffen, der in dieser Angelegenheit noch einmal bei ihm angeklopft hatte, hatte Mr. Dean Forsyth kurz und bündig erwidert:
»Ich halte den Doktor Hudelson für einen erbärmlichen Menschen, und meine Einwilligung zur Verheiratung mit der Tochter eines Hudelson wirst du niemals erhalten!«
Und fast zur gleichen Stunde schnitt genannter Doktor Hudelson das Jammern seiner Tochter damit ab, daß er bestimmt erklärte:
»Der Onkel Francis Gordons ist ein gemeiner Mann, und meine Tochter wird niemals den Neffen eines Forsyth heiraten!«
Das war kategorisch und man mußte sich dem fügen.
Die Luftreise Walter Wraggs hatte dem Hasse, den beide Astronomen gegeneinander empfanden, eine neue Gelegenheit geboten, sich zu zeigen. In den Zuschriften, die eine skandalsüchtige Presse zu veröffentlichen sich beeilte, regnete es geradezu beschimpfende Ausdrücke von beiden Seiten, und man wird zugeben, daß das nicht geeignet war, die Sachlage zu verbessern.
Mit Beleidigungen wird aber nichts aus der Welt geschafft. Wenn zwei uneins sind, haben sie es wie alle andern im gleichen Falle zu machen, das heißt, sich an das Gericht zu wenden. Das ist das beste und das einzige Mittel, einer Meinungsverschiedenheit ein Ende zu machen.
Die beiden Widersacher waren denn auch zu diesem Entschlusse gekommen.
Jetzt war am 17. Mai eine Einladung des Mr. Dean Forsyth an den Doktor Hudelson erfolgt, vor dem Richterstuhle Seiner Ehren des Mr. John Proth zu erscheinen, ebenso war eine gleichlautende Aufforderung von dem Doktor Hudelson an Mr. Dean Forsyth ergangen, und deshalb hatte endlich am 18. Mai eine lärmende, erregte Volksmenge das Gerichtsgebäude gestürmt.
Mr. Dean Forsyth und Mr. Sydney Hudelson waren erschienen und nun standen die beiden Rivalen vor dem Richter einander Auge im Auge gegenüber.
Zu Anfang der Sitzung wurden verschiedene andere Angelegenheiten erledigt, und die Parteien, die, einander mit der Faust drohend, gekommen waren, verließen zur großen Befriedigung des Mr. Proth den Verhandlungssaal als gute Freunde. Würde das aber auch bezüglich der beiden Gegner der Fall sein, die jetzt vor ihn treten sollten?
»Die nächste Klagesache, befahl er.
– Forsyth gegen Hudelson und Hudelson gegen Forsyth! rief ein Gerichtsdiener.
– Die beiden Herren mögen näher herankommen, sagte der Richter, der sich in seinem Stuhle erhob.
Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson traten aus der Gruppe der sie begleitenden Parteigänger hervor. Da standen sie nun nebeneinander, jeder den andern mit den Blicken messend, zwei Hitzköpfe mit zusammengekrampften Händen, fast wie zwei bis zur Mündung geladene Kanonen, bei denen ein Funke genügte, eine doppelte Detonation auszulösen.
»Um was handelt sich Ihr Streit, meine Herren?« fragte der Richter Proth, der das ja eigentlich im voraus wußte.
Mr. Dean Forsyth nahm zuerst das Wort.
»Ich komme, mir meine Ansprüche gerichtlich bestätigen zu lassen ...
– Wie ich die meinigen,« unterbrach ihn sofort Mr. Hudelson.
Und ohne Unterbrechung folgte nun ein betäubendes Duett, bei dem man freilich weder Terzen noch Quinten hörte, sondern das gegen alle Regeln der Harmonie in ewiger Dissonanz vorgetragen wurde.
Mr. Proth klopfte mit einem elfenbeinernen Papiermesser auf seinen Tisch, wie es ein Orchesterdirigent mit dem Taktstock tut, wenn er einer unerträglichen Kakophonie ein Ende machen will.
»Aber ich bitte, meine Herren, einer nach dem andern sprechen! Nach alphabetischer Ordnung erteile ich zuerst Herrn Forsyth das Wort, Herr Hudelson mag nachher nach Gutdünken darauf antworten.«
Mr. Dean Forsyth trug die Angelegenheit also zuerst vor, wobei der Doktor seine Zurückhaltung nur mit größter Anstrengung bewahrte. Er berichtete zunächst, daß er am Morgen des 16. März um sieben Uhr siebenunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden, als er sich wie gewöhnlich beobachtend auf seinem Turme in der Elisabethstraße befand, eine Feuerkugel gesehen habe, die am Himmel von Norden nach Süden hinzog, daß er dieses Meteor verfolgt habe, so lange es sichtbar blieb, und daß er endlich nach einigen Tagen ein Schreiben an die Sternwarte in Pittsburg gerichtet hätte, worin er diese Entdeckung gemeldet habe, um sich die Priorität zu sichern.
Als dann der Doktor Hudelson das Wort nehmen konnte, gab er eine gleiche, mit der ersten so vollständig übereinstimmende Erklärung ab, daß der Richter nach Anhörung beider nur so viel von der Sache wußte wie vorher.
Das schien Mr. Proth immerhin zu genügen, da er keine weitere Erklärung verlangte. Mit einer salbungsvollen Handbewegung ersuchte er nur um Stillschweigen, und als das eingetreten war, verlas er das Urteil, das er während der Reden der beiden Gegner aufgesetzt hatte.
»In Erwägung einerseits, daß Mr. Dean Forsyth behauptet, am Morgen des sechzehnten März um sieben Uhr siebenunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden eine Feuerkugel entdeckt zu haben, und
In Erwägung anderseits, daß Mr. Sydney Hudelson behauptet, dieselbe Feuerkugel zu derselben Stunde, derselben Minute und derselben Sekunde gesehen zu haben ...
– Jawohl! ... Ganz recht! riefen die Parteigänger des Doktors, indem sie wütend mit den Fäusten umherfuchtelten.
– Nein, nein! widersprachen ebenso eifrig die Anhänger Mr. Dean Forsyths, die laut mit den Füßen stampften.
– Doch in Erwägung, daß die Entscheidung hier auf eine Frage von Minuten und Sekunden hinausläuft und die Streitsache ausschließlich wissenschaftlicher Natur ist, und ferner, daß es keinen auf die Priorität in einer astronomischen Entdeckung anwendbaren Gesetzesparagraphen gibt,
Erklären wir uns für inkompetent und verurteilen die Parteien zur gemeinsamen Tragung der entstandenen Kosten.«
Der Beamte konnte offenbar kein anderes Urteil fällen.
Da die Kläger übrigens – und das war vielleicht die Absicht des Richters – hier beide abgewiesen worden waren, war wenigstens nicht zu befürchten, daß sie sich jetzt zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen würden. Das war immerhin ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Doch weder die Kläger noch deren Parteigänger waren der Meinung, daß die Sache hiermit endgültig abgeschlossen sei. Wenn Mr. Proth gehofft hatte, sich durch eine Inkompetenzerklärung von der Angelegenheit zu befreien, sollte er auf diese Hoffnung bald verzichten.
Zwei Stimmen übertönten das allgemeine Gemurmel, mit dem das Urteil aufgenommen worden war.
»Ich bitte ums Wort! riefen gleichzeitig Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson.
– Vorausgesetzt, daß ich auf meinen Spruch nicht zurückzukommen habe, antwortete der Beamte in dem liebenswürdigen Tone, den er niemals außer Acht ließ, und auch selbst unter den ernstesten Umständen nicht, erteile ich gern das Wort dem Herrn Dean Forsyth und dem Doktor Hudelson, doch nur unter der Bedingung, daß sie sich einer nach dem andern aussprechen.«
Das war von den beiden Rivalen doch zu viel verlangt.
Sie antworteten gleichzeitig mit derselben Zungenfertigkeit und derselben heftigen Sprache, da keiner hinter dem andern um ein Wort, nur um eine Silbe zurückbleiben wollte.
Mr. Proth sah ein, daß es am gescheitesten wäre, sie sich austoben zu lassen, und hörte nur mit halbem Ohre auf ihre Reden. Dabei ging ihm aber doch ein Licht darüber auf, was der Kernpunkt des Streites war: es handelte sich nicht mehr um eine astronomische, sondern um eine Interessenfrage, kurz, um gewisse Eigentumsansprüche, oder darum, wem die Feuerkugel, wenn sie herabfiel, dann gehören sollte, dem Mr. Dean Forsyth oder dem Doktor Hudelson.
»Dem Mister Forsyth! riefen die Parteigänger des Turmes.
– Dem Doktor Hudelson!« schrien die Parteigänger der Warte.
Mr. Proth, dessen gutmütiges Gesicht durch ein philosophisches Lächeln erhellt wurde, bat um Ruhe, die auch sofort eintrat, so lebhaftes Interesse nahmen alle an der Weiterentwicklung der Sache.
»Meine Herren, begann der Richter, erlauben Sie mir vor allem, Ihnen einen Rat zu erteilen. In dem Falle, daß die Feuerkugel auf die Erde niederstürzt ...
– Ja freilich ... natürlich geschieht das! riefen die Anhänger der beiden Kläger um die Wette.
– Ja ja, zugegeben! sagte der Richter mit einer willfährigen Höflichkeit, wie man sie nicht immer bei Beamten, auch nicht in Amerika, findet. Ich sehe darin nichts Ungehöriges und wünsche nur, daß das Meteor nicht auf die Blumen in meinem Garten fällt.«
Die Zuhörer lächelten ein wenig. Mr. Proth benutzte die friedliche Stimmung, einen wohlwollenden Blick auf die beiden Gegner zu werfen. Leider eine vergebliche Mühe! Eher hätte man an Gemetzel gewöhnte Tiger zähmen, als diese starrköpfigen Kläger versöhnen können.
»Im vorliegenden Falle, fuhr der väterliche Beamte fort, wo es sich um eine Feuerkugel im Taxwerte von fünftausendsiebenhundertachtundachtzig Milliarden handelt, würde ich empfehlen, einfach zu teilen.
– Nimmermehr!«
Das so bestimmt ablehnende Wort ertönte von allen Seiten. Weder Mr. Forsyth noch Mr. Hudelson würde einer Teilung zustimmen. Eine solche hätte ja für jeden beinahe drei Trillionen ergeben ... was bedeuten aber drei Trillionen gegenüber einer unbesieglichen Eigenliebe.
Bei seiner Kenntnis der menschlichen Schwächen wunderte es den Mr. Proth nicht im geringsten, daß sein Ratschlag, so weise der auch war, von der Zuhörerschaft einstimmig verworfen wurde. Das brachte ihn aber nicht aus der Fassung und er wartete es ruhig ab, bis der Tumult sich gelegt hatte.
»Da hier jeder Vergleich unmöglich erscheint, sagte er, als er sich wieder verständlich machen konnte, wird das Gericht seine weitere Entscheidung bekanntgeben.«
Auf dieses Wort hin wurde es wie durch Zauberschlag mäuschenstill und niemand erlaubte sich, Mr. Proth zu unterbrechen, als dieser einem Schreiber mit ruhiger Stimme folgendes diktierte:
»Verhandelt am 18. Mai 19..
– Die Parteien über ihre Erklärungen und Ansprüche abgehört.
– Was beide da vorzubringen hatten, erschien völlig gleichwertig, auch stützten sie sich dabei auf dieselben Beweisgründe.
– Da ferner die Entdeckung eines Meteors nicht notwendig die Erwerbung des Eigentumsrechtes an diesem bedeutet, da sich das Gesetz in dieser Beziehung ausschweigt, und da, abgesehen von der Unanwendbarkeit eines Gesetzes, ein analoger Fall in der Rechtsprechung nicht vorliegt,
– weiter, da die Ausübung eines vermeintlichen Eigentumsrechtes, selbst wenn das begründet wäre, bei den ganz eigentümlichen Nebenumständen der Sache unüberwindlichen Schwierigkeiten begegnen müßte, wodurch eine Entscheidung dann doch nur ein toter Buchstabe bliebe, was, zum großen Schaden der Grundsätze, worauf die zivilisierte Gesellschaft beruht, geeignet wäre, die Achtung vor der Autorität der Gerichte herabzusetzen,
– erscheint es unumgänglich, in einem so eigenartigen Falle nur mit größter Vorsicht zu handeln.
– In Erwägung endlich, daß der Klagepunkt, um den es sich handelt, trotz aller Versicherung der Parteien, nur auf einem hypothetischen Ereignis beruht, das ja ebensogut überhaupt nicht eintreten könnte,
– daß das Meteor ferner ins Meer stürzen könnte, das ja drei Viertel der Erdkugel bedeckt,
– daß in dem einen wie im andern Falle die ganze Angelegenheit infolge Verschwindens des Streitobjektes in sich zerfiele,
– beschließt und verkündet das Gericht:
– die Sache bis zum wirklichen und glaubhaft nachgewiesenen Falle der umstrittenen Feuerkugel auszusetzen.
– Punktum!« diktierte Mr. Proth, indem er sich vom Stuhle erhob.
Die Verhandlung war geschlossen.
Die Zuhörerschaft stand noch im Banne der Erklärungen und weisen »Erwägungen« des Mr. Proth. Es war ja in der Tat leicht möglich, daß die Feuerkugel in den Abgrund des Meeres stürzte, wo man darauf verzichten mußte, sie aufzufischen. Worauf spielte der Richter vorhin aber mit den »unüberwindlichen Schwierigkeiten« an? Was hatten diese geheimnisvollen Worte zu bedeuten?
Das alles regte zum Nachdenken an, und jedes Nachdenken pflegt ja erregte Geister zu beruhigen.
Vermutlich dachten Mr. Dean Forsyth und der Doktor Hudelson jetzt doch nicht weiter nach, wenigstens beruhigten sie sich nicht. Im Gegenteil. Von den entgegengesetzten Seiten des Saales her wiesen sie, ihre Parteigänger aufhetzend, einander die Faust.
»Ich erkenne diesen Gerichtsbeschluß nicht an! rief Mr. Dean Forsyth mit Stentorstimme. Der ist ja geradezu sinnlos!
– Der Bescheid ist absurd! rief gleichzeitig Mr. Sydney Hudelson.
– Zu sagen, daß meine Feuerkugel nicht herunterfiele!
– An dem Absturz meines Meteors zu zweifeln!
– Und da ich mir nicht Gerechtigkeit verschaffen kann ...
– Und da man mir Gerechtigkeit verweigert ...
– Werd' ich mein Recht bis zum letzten Ende verteidigen ...
– Bestehe ich auf meinem Anspruche bis zur obersten Instanz. Noch heute aber mache ich mich auf den Weg ...
– Nach Japan! schrie Mr. Dean Forsyth.
– Nach Patagonien! schrie gleichzeitig der Doktor Hudelson.
– Hurra!« ertönte es als Echo aus beiden feindlichen Lagern.
Als alle draußen waren, teilte sich die Menge in zwei Heerhaufen, denen sich nun auch die Neugierigen anschlossen, die im Sitzungssaale keinen Platz bekommen hatten. Da gab es einen argen Tumult. Ausrufe, Herausforderungen und wütende Drohungen. Ohne Zweifel waren jetzt auch Gewalttätigkeiten nicht mehr fern, denn die Anhänger Forsyths wünschten nichts weiter, als Hudelson zu lynchen, und die Parteigänger Hudelsons konnten sich's kaum enthalten, Forsyth zu lynchen, womit dann die Angelegenheit auf echt amerikanische Weise gleich aus der Welt geschafft gewesen wäre.
Zum Glück hatten die Behörden Vorsichtsmaßregeln getroffen. Ein starkes Polizeiaufgebot griff ebenso entschieden wie zweckmäßig ein und trennte die Streitköpfe.
Kaum waren die Gegner etwas auseinandergedrängt, als ihr Zorn sich äußerlich mäßigte. Da sie aber doch einen Vorwand haben mußten, möglichst viel Lärm zu machen, ließen sie von ihren Rufen gegen das Haupt der Partei, dem sie nicht wohlwollten, ab und schrien jetzt zu Ehren dessen, dessen Fahne sie folgten.
»Hurra für Dean Forsyth!
– Hurra für Hudelson!«
Diese Ausrufe kreuzten sich mit Donnergetöse. Bald verschmolzen sie zu einem einzigen Gebrüll.
»Nach dem Bahnhofe!« riefen die beiden Parteien schließlich übereinstimmend.
Die Menge ordnete sich sofort von selbst zu zwei Zügen, die schräg über den Konstitutionsplatz hinweg marschierten, der jetzt von Walter Wraggs Ballon befreit war. An der Spitze der einen Kolonne schritt Mr. Dean Forsyth dahin und der Doktor Hudelson an der Spitze der andern.
Die Polizisten ließen die Tollköpfe gewähren, da jetzt jede Befürchtung einer Störung ausgeschlossen war. Von einer durch einen Zusammenstoß beider Züge drohenden Gefahr konnte keine Rede mehr sein, denn die eine begleitete Mr. Dean Forsyth triumphierend nach dem Westbahnhofe, für ihn die erste Etappe auf dem Wege nach San Francisco und nach Japan, und die andre brachte, nicht minder triumphierend, den Doktor Hudelson nach dem Ostbahnhofe, dem Endpunkte der Linie von New York, wo er sich nach Patagonien einschiffen wollte.
Nach und nach schwächten sich die Rufe ab und erstarben endlich in der Ferne.
Mr. John Proth, der, in seiner Haustür stehend, die lärmende Volksmenge beobachtet hatte, erinnerte sich endlich, daß es Zeit zum Essen wäre, und machte schon eine Bewegung ins Haus hineinzugehen.
Da wurde er aber von einem Herrn und einer Dame angehalten, die ihm schon rund um den Platz gefolgt waren.
»Nur auf ein Wort, wenn ich bitten darf, Herr Richter! sagte der Herr.
– Ah, ganz zu Ihren Diensten, Herr und Frau Stanfort, antwortete Mr. Proth liebenswürdig.
– Herr Richter, fuhr Mr. Stanfort fort, als wir vor zwei Monaten vor Ihnen erschienen, geschah es, um uns trauen zu lassen ...
– Und ich schätze mich glücklich, erklärte Mr. Proth, bei jener Gelegenheit Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.
– Heute, mein Herr Richter, setzte Mr. Stanfort hinzu, kommen wir zu Ihnen, um uns wieder scheiden zu lassen.«
Der Richter Proth, ein welterfahrener Mann, begriff sofort, daß jetzt nicht der Augenblick zu einem Sühneversuche wäre.
»Ich beglückwünsche mich nicht weniger wegen der Gelegenheit, Sie wiederzusehen,« sagte er, ohne eine Überraschung zu verraten.
Die beiden Ankömmlinge verneigten sich höflich.
»Wollen Sie nicht die Güte haben, einzutreten? ersuchte sie der Beamte.
– Ist das notwendig?« fragte Mr. Seth Stanfort, wie er es vor zwei Monaten getan hatte.
Und wie vor zwei Monaten antwortete Mr. Proth phlegmatisch:
»O, keineswegs.«
Entgegenkommender konnte jemand doch gar nicht sein. Obgleich übrigens in der großen Republik der Union Scheidungen auch unter abnormen Verhältnissen im allgemeinen nicht ausgesprochen werden, ist es dort nichtsdestoweniger gar nicht schwer, eine solche zu erlangen.
Nichts scheint da weniger bequem zu sein, als sich wieder zu trennen, nachdem man sich in dem merkwürdigen Lande Amerika vorher ehelich verbunden hatte. In gewissen Staaten genügt es schon, ein nur gedachtes Domizil anzugeben, ohne daß es, eine Scheidung herbeizuführen, nötig wäre, sich persönlich einzustellen. Es gibt dort besondere Agenturen, die sich damit beschäftigen, die nötigen Zeugen und Strohmänner zu besorgen. Sie haben solche immer an der Hand, und einige sind dafür ordentlich berühmt geworden.
Mr. und Mrs. Stanfort hatten es nicht nötig, derartige Winkelzüge zu benutzen. In ihrem tatsächlichen Wohnsitze, in Richmond, mitten in Virginien, hatten sie die gesetzlichen Schritte getan und die unumgänglichen Formalitäten erledigt. Und wenn sie sich jetzt in Whaston befanden, war es von ihnen nur eine einfache Laune, ihren Ehebund da wieder zu lösen, wo sie ihn geschlossen hatten.
»Die notwendigen Scheine sind doch in Ordnung? fragte der Beamte.
– Hier sind die meinigen, sagte Mrs. Stanfort.
– Und hier auch die meinigen,« sagte Mr. Stanfort.
Mr. Proth nahm die Papiere in Empfang, prüfte sie aufmerksam und überzeugte sich, daß sie alle in bester Ordnung waren. Darauf begnügte er sich zu antworten:
»Und hier ist der gedruckte Scheidebrief, auf den nur noch Ihre Namen einzuschreiben sind, und den ich dann noch zu unterzeichnen habe. Ich weiß nur nicht, ob das hier ...
– Erlauben Sie mir, Ihnen diese verbesserte Füllfeder anzubieten, fiel ihm Mr. Stanfort ins Wort, während er ihm das Instrument hinreichte.
– Und diesen Karton, der sich wohl zur Schreibunterlage eignen wird, fügte Mrs. Stanfort hinzu, indem sie eine große flache Pappschachtel aus der Hand der Kammerzofe nahm und sie dem Beamten anbot.
– Sie haben ja wirklich an alles gedacht,« antwortete dieser und ging sogleich daran, die wenigen leeren Stellen des Dokumentes auszufüllen.
Als das geschehen war, überreichte er die Feder der Mrs. Stanfort.
Ohne eine Bemerkung und ohne im mindesten mit der Hand zu zittern, unterzeichnete diese ihren Namen: Arcadia Walker.
Mit derselben Kaltblütigkeit setzte auch Mr. Seth Stanfort seinen Namen darunter.
Dann entfalteten beide wie vor zwei Monaten je eine Fünfhundertdollarsnote.
»Als Honorar, sagte ebenso wieder Mr. Seth Stanfort.
– Für die Armen.« wiederholte Mrs. Arcadia Walker.
Ohne Zögern verneigten sie sich dann vor dem Beamten, grüßten einander und entfernten sich, ohne den Kopf noch einmal umzuwenden, während der eine der Wilcoxvorstadt zuschritt und der andere sich in der entgegengesetzten Richtung entfernte.
Als sie verschwunden waren, zog sich Mr. Proth vollends in sein Haus zurück, wo das Frühstück schon lange auf ihn wartete.
»Weißt du, Kate, was ich eigentlich auf mein Schild am Hause setzen sollte? sagte er zu der alten Dienerin, während er sich eine Serviette unter dem Kinn befestigte.
– Nein, Herr Proth.
– Ich müßte darauf die Worte anbringen lassen: ›Hier verheiratet man sich zu Pferde und läßt sich zu Fuß wieder scheiden!‹«