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Worin Zephyrin Xirdal ein und dann noch ein neuer Gedanke kommt.
In vertraulicher Rede pflegte man zu sagen: »Zephyrin Xirdal? ... Welch ein Original!« Leiblich und geistig war Zephyrin Xirdal in der Tat eine außergewöhnliche Persönlichkeit.
Ein langer, schlottriger Körper, mit einem Hemd, das oft keinen Kragen, niemals aber Manschetten hatte, korkzieherförmige Beinkleider, eine Weste, an der auf je drei Knöpfe zwei fehlten, eine weite Jacke mit Taschen, die von allerlei Gegenständen aufgeschwellt waren, das ganze ziemlich unsauber und wahllos aus einem Haufen verschiedener Kleidungsstücke herausgegriffen ... das war so die allgemeine Anatomie Zephyrin Xirdals und seine Auffassung des Begriffs Eleganz. Von seinen wie die Decke einer Höhle gewölbten Schultern hingen meterlange Arme herab, abgeschlossen durch ein Paar ungeheure, behaarte Hände, die er übrigens recht geschickt zu gebrauchen wußte und die ihr Inhaber nur in unbestimmten Zwischenräumen mit Seife in Berührung brachte.
Wenn der Kopf – nach der Mode aller Welt – den obersten Teil seines Körpergebäudes bildete, lag das nur daran, daß es diesem nicht anders möglich war. Das Original entschädigte sich dafür aber damit, daß es der öffentlichen Bewunderung ein Gesicht darbot, dessen Häßlichkeit rein an das Paradoxe streifte. Nichts erschien so »packend« als diese anstößige und doch im einzelnen einander widersprechende Gesichtsbildung; ein massiges, viereckiges Kinn, ein großer Mund mit wulstigen Lippen, eine starke Stumpfnase, schlecht geränderte Ohren, die vor der Berührung mit dem Schädel entsetzt zu fliehen schienen ... alles das erinnerte nur sehr indirekt an die Schönheit eines Antinous. Die Stirn dagegen war vorzüglich geformt, hatte wunderbare edle Linien und krönte das seltsame Gesicht wie ein Tempel auf einem Hügel. Um, wer ihn kannte, noch mehr zu verblüffen, zeigte Zephyrin Xirdal unter der mächtigen Stirn zwei große, stechende Augen, die je nach Zeit und Gelegenheit eine wunderbare Intelligenz und eine dickfellige Dummheit verrieten.
Geistig unterschied er sich nicht weniger von der Trivialität seiner Zeitgenossen.
Widerspenstig gegen jeden regelrechten Unterricht, hatte er von frühester Jugend an beschlossen, sich selbst zu belehren, und seine Eltern hatten sich genötigt gesehen, sich seinem unbezwinglichen Willen zu fügen. Die Folgen davon waren auch nicht gerade schlecht. In einem Alter, wo man noch gewöhnlich in niedrer Klasse die Schulbank drückt, hatte sich Zephyrin Xirdal – zum Spaße, wie er sagte – an allen höheren Schulen nacheinander zu den Prüfungen angemeldet und dabei immer einen Preis davongetragen.
Diese Erfolge wurden freilich kaum erreicht schon wieder vergessen. Die hohen Schulen mußten eine nach der andern aus ihren Besucherlisten diesen Preisträger streichen, der sich bei ihnen später nicht mehr sehen ließ.
Das Ableben seiner Eltern hatte ihn mit achtzehn Jahren zum eignen Herrn und zum Besitzer einer Rente von fünfzehntausend Francs gemacht. Zephyrin Xirdal zögerte da nicht, jede Vollmacht, die er verlangte, seinem Vormund und Paten, dem Bankier Robert Lecoeur zu erteilen, den er von kindlicher Gewohnheit her »seinen Onkel« nannte. Aller Sorgen ledig, bezog er dann zwei winzige Zimmer im sechsten Stockwerke eines Hauses der Rue Cassette in Paris.
Hier wohnte er auch noch in seinem einunddreißigsten Jahre.
Seit er sich da aber häuslich niedergelassen hatte, waren die Räume nicht gewachsen, so gewaltig auch die Menge der Dinge war, die er darin angehäuft hatte. Bunt durcheinander lagen da Maschinenmodelle und elektrische Batterien, Dynamos, optische Instrumente, Retorten und die verschiedensten andern Apparate. Ganze Pyramiden von Broschüren, Büchern und Papieren reichten vom Fußboden bis zur Decke und lagen ebenso auf dem einzigen Stuhle und dem Tische, dessen Niveau sie in gleichem Verhältnis erhöhten, so daß unser Original die Veränderung gar nicht bemerkte, wenn er auf dem einen saß und auf dem andern schrieb. Höchstens wenn ihn alte Papiere gar zu sehr belästigten, half er dieser Unbequemlichkeit mühelos ab. Mit dem Handrücken schob er einige Stöße vom Tische hinunter und setzte sich dann in friedlichster Stimmung an den Tisch, der jetzt in schönster Ordnung war, weil nichts mehr darauf lag, und der nun wieder auf eine neue Überfüllung wartete.
Was machte nun eigentlich Zephyrin Xirdal?
Hauptsächlich, das ist nicht zu leugnen, hing er seinen Träumereien nach und rauchte dazu ununterbrochen eine Pfeife guten Tabak. Zuweilen aber, in sehr verschiedenen Zwischenräumen, hatte er auch einen Gedanken. Heute brachte er seinen Tisch auf seine Weise in Ordnung, d. h. er fegte ihn mit der Hand rein ab und setzte sich dann daran fest, um nicht wieder aufzustehen, bevor eine gewisse Arbeit vollendet wäre, mochte sie nun vierzig Minuten oder vierzig Stunden in Anspruch nehmen. Nachdem er den Schlußpunkt daran gesetzt hatte, ließ er das Blatt mit dem Ergebnis seiner Untersuchung als den Anfang einer neuen Papiersäule auf dem Tische liegen, von wo es, wie die früher vorhandene, bei Gelegenheit der nächsten Arbeitskrise ebenso hinuntergefegt werden würde.
Bei diesen einander nur in unregelmäßigen Zwischenräumen folgenden Krisen hatte er sich ein wenig so mit all und jedem beschäftigt. Die höhere Mathematik, die Physik, Chemie, Physiologie, Philosophie – die reinen und die angewandten Wissenschaften – alles hatte nacheinander seine Aufmerksamkeit erweckt. Um welches Problem es sich auch handeln mochte, immer griff er es mit größtem Eifer, ja mit einer wahren Wut an, und hatte es vor seiner Lösung niemals aufgegeben, so lange nicht ...
Nun ja, so lange ihm nicht ein andrer Gedanke kam, der ihn plötzlich ebenso mächtig anzog. Da konnte es dem phantastischen Eiferer passieren, daß er sich bei der Verfolgung des zweiten Schmetterlings, der ihn durch seine glänzenden Farben berückte, in das Gebiet der reinen Schimäre verirrte und berauscht von dem neuen Traum seine früheren vollständig vergaß.
Im vorliegenden Falle traf das aber nicht ganz zu. Als er die zuerst entworfene Arbeit zufällig wiederfand, ging er mit neuerwachter Leidenschaft wieder daran und es gelang ihm, wenn auch erst nach zwei, drei weitern Unterbrechungen, sie wirklich zu Ende zu führen.
Wie viele geistreiche oder tiefe Gedanken, wie viel entscheidende Bemerkungen über die größten Schwierigkeiten der exakten oder experimentellen Wissenschaften, wie viele praktische Erfindungen schlummerten in den Haufen von Papieren, die Zephyrin Xirdal verächtlich mit dem Fuße durchwühlte. Nie hatte er daran gedacht, aus diesen Schätzen Nutzen zu ziehen, außer wenn einer seiner wenigen Freunde sich vor ihm über die Erfolglosigkeit einer Untersuchung in irgendwelchem Fache beklagte.
»Warte einmal, sagte dann Xirdal, darüber muß sich etwas hier darunter finden!«
Gleichzeitig streckte er dann schon die Hand aus, ergriff auf den ersten Anlauf mit wunderbarem Spürsinn unter tausend mehr oder weniger zerknitterten Blättern das, das seine Studien über die betreffende Frage enthielt, und übergab es ohne Zögern seinem Freunde mit der Ermächtigung, davon unbeschränkten Gebrauch zu machen. Niemals war ihm dabei der Gedanke gekommen, daß er durch diese Handlungsweise seine eignen Interessen schädigen könnte.
Geld? Was kümmerte ihn das? Wenn er Geld brauchte, ging er einfach zu seinem Paten, dem Herrn Robert Lecoeur. War dieser auch nicht mehr sein Vormund, so war er doch noch sein Bankier, und Xirdal war sicher, von einem Besuch bei ihm mit einer Summe versorgt zu sein, bis er sein Guthaben beim »Onkel« völlig erschöpft hätte. Seit er in der Rue Cassette wohnte, war das stets zu seiner vollen Zufriedenheit verlaufen. Sich immer erneuernde Wünsche zu haben und diese so leicht befriedigen zu können, das ist doch wirklich ein wahres Glück, immerhin aber nicht das einzige. Ohne den Schatten des kleinsten Wunsches war Zephyrin Xirdal vollkommen glücklich.
Am Morgen des 10. Mai saß dieser glückbegünstigte junge Mann bequem auf seinem einzigen Stuhle, rauchte, die Füße einige Zentimeter höher als der Kopf, auf einer Stützstange am Fenster liegend, eine besonders wohlschmeckende Pfeife und amüsierte sich, die Bilderrätsel und magischen Quadrate auf einem Papiersacke zu entziffern, den er von seinem Viktualienhändler beim Einkauf von Nahrungsmitteln erhalten hatte. Als diese wichtige Beschäftigung abgeschlossen und die Lösung der Unterhaltungsaufgaben gelungen war, warf er den Sack unter die andern Papiere und streckte dann seine linke Hand nachlässig nach dem Tische aus in der dunkeln Hoffnung, da irgendetwas zu finden.
Was die linke Hand da ergriff, war ein Paket noch unentfalteter Zeitungen. Zephyrin Xirdal nahm auf gut Glück eins dieser Blätter, das sich als eine schon acht Tage alte Nummer des »Journal« erwies. Ihr Alter konnte jedoch einen Leser nicht abschrecken, der sozusagen außerhalb von Raum und Zeit lebte.
Er warf also einen Blick auf die erste Seite, las sie aber natürlich nicht. Ebenso durchflog er die zweite und die andern Seiten bis zur letzten, wo ihn besonders die Annoncen interessierten. Als er dann glaubte, auf eine weiterfolgende Seite überzugehen, bekam er in aller Unschuld die erste wieder vor Augen.
Ohne sich etwas dabei zu denken, richtete er die Blicke auf den Anfang des ersten Artikels, und ein Lichtschein von Intelligenz blitzte aus seinen großen Pupillen hervor, die bisher nur die größte Gedankenlosigkeit verraten hatten.
Der Lichtschein wurde deutlicher, er wurde zur Flamme, je nachdem die bis ans Ende ununterbrochene Lektüre fortschritt.
»Halt! ... Halt! ... Halt!« murmelte in drei verschiedenen Tonlagen Zephyrin Xirdal, der sich gedrängt fühlte, den Artikel noch einmal zu lesen.
In der Einsamkeit seines Zimmers hatte er von jeher die Gewohnheit, laut mit sich selbst zu sprechen und das mit Vorliebe in der Mehrzahl, jedenfalls um sich die schmeichelhafte Vortäuschung eines an seinen Lippen hängenden Zuhörerkreises zu erwecken, eines nur gedachten Kreises, der recht groß sein mußte, da er alle Schüler, alle Bewunderer und alle Freunde umschloß, die Zephyrin Xirdal nie gehabt hatte und auch jedenfalls niemals haben würde.
Diesmal war er aber weniger beredt, sondern beschränkte sich auf seinen dreifachen Ausruf. Mächtig angezogen von dem Aufsatz im »Journal«, setzte er seine Lektüre schweigend fort.
Was las er denn aber so eifrig und angestrengt?
Als der letzte auf der ganzen Erde erfuhr er hier ganz einfach von der Whastoner Feuerkugel und gleichzeitig von deren außergewöhnlicher Zusammensetzung. Nur der reine Zufall aber hatte ihm den Artikel, der von der fabelhaften Goldkugel handelte, heute – erst so spät! – in die Hände gespielt.
»Das ist ja eine Posse!« erklärte er nach Vollendung der zweiten Lektüre für sich selbst.
Einige Augenblicke blieb er noch in Nachdenken versunken, dann zog er die Füße vom Fenster zurück und trat an den Tisch heran. Jetzt war wieder eine Arbeitskrise im Anzug.
Ohne lange zu suchen, fand er unter andern Journalen die wissenschaftliche Revue, die er wünschte und deren Verschlußstreifen er sprengte. Die Revue öffnete sich da auch gleich an der Stelle, die ihn jetzt interessierte.
Eine wissenschaftliche Wochen- oder Monatsschrift hat das Recht, technischer zu sein als eine Tageszeitung. Die hier machte davon keine Ausnahme. Die Elemente der Feuerkugel, ihre Bahn, Schnelligkeit, Volumen, Masse und Natur – waren erst nach mehreren Seiten voller gelehrten Kurven und algebraischen Gleichungen angegeben.
Zephyrin Xirdal nahm diese geistige Nahrung ohne Mühe in sich auf, obgleich sie wohl etwas schwer verdaulich war, und danach warf er einen Blick nach dem Himmel und überzeugte sich, daß kein Wölkchen dessen tiefes Blau unterbrach.
»Na ... wir werden ja sehen!« murmelte er, während seine ungeduldige Hand schon einige flüchtige Berechnungen niederschrieb.
Nachher streckte er einen Arm unter einen Haufen in einer Ecke aufgestapelter Papiere aus und schob den mit einer Bewegung, die ihre Sicherheit nur oft wiederholter Übung verdanken konnte, geschickt in eine andere Ecke.
»'s ist doch erstaunlich, wie streng ich Ordnung halte!« rief er mit sichtbarer Befriedigung, als er sah, daß diese »Rangierbewegung« seiner Erwartung entsprechend ein astronomisches Fernrohr sichtbar werden ließ, das ebenso mit Staub bedeckt war wie eine seit hundert Jahren im Keller lagernde Weinflasche.
Das Fernrohr ans Fenster zu schaffen, es auf den Punkt des Himmels zu richten, den er nach seinen Berechnungen untersuchen wollte, und das Auge vor das Okular zu bringen ... das alles verlangte nur wenige Sekunden.
»Stimmt ganz genau!« sagte er nach mehrminütiger Beobachtung.
Nach einigen weitern Minuten griff er entschlossen nach seinem Hute, stieg die sechs Treppen hinunter und wendete sich der Rue Drouot und dem Bankhause Lecoeur zu, das einen gerechten Stolz dieser Straße bildete.
Zephyrin Xirdal kannte nur eine Art, seine Wege abzumachen; ein Omnibus, Straßenbahnwagen oder eine Droschke kam da niemals in Frage. Wie weit er auch bis an sein Ziel zu gehen haben mochte, immer begab er sich dahin nur zu Fuß.
Doch auch bei dieser Bewegung, dem natürlichsten und am meisten geübten Sporte, konnte er nicht umhin, sich als Original zu erweisen. Mit gesenkten Augen und die breiten Schultern von rechts nach links und umgekehrt wiegend, lief er durch die Stadt, als trollte er durch eine Wüste. Wagen und Fußgänger ließ er mit gleichmäßiger Heiterkeit unbeachtet. Wie viele »Halt! Aufgesehen!«, wie viele »Herr Ungeschickt!« und wie viele »Tölpel!« regnete es da um ihn von den Vorübergehenden, die er derb gestoßen oder tüchtig auf die Zehen getreten hatte. Und wie viele noch kräftigere Verwünschungen wurden an seine Adresse von der dröhnenden Stimme der Kutscher gerichtet, die seinetwegen ihr Gespann zurückreißen mußten, weil man sie sonst jedenfalls unter den »Vermischten Nachrichten« an den Pranger gestellt hätte und Zephyrin Xirdal als »unschuldiges Opfer« bedauert worden wäre.
Ihn kümmerte das alles nichts. Ohne etwas von dem Konzert von Verwünschungen zu hören, das sich hinter ihm ebenso erhob, wie das Kielwasser einem dahingleitenden Schiffe folgt, setzte er ungestört, mit großen, immer gleichbleibenden Schritten seinen Weg fort.
Zwanzig Minuten genügten ihm, die Rue Drouot und das Bankhaus Lecoeur zu erreichen.
»Ist mein Onkel da? fragte er einen Bureaugehilfen, der sich bei seiner Annäherung erhob.
– Jawohl, Herr Xirdal.
– Vielleicht auch allein?
– Ja, augenblicklich allein.«
Zephyrin Xirdal öffnete eine gepolsterte Tür und betrat das Privatkabinett des Bankiers.
»Sieh, sieh! Bist du es wirklich? fragte Herr Lecoeur halb maschinenmäßig, als er seinen Pseudo-Neffen erscheinen sah.
– Da ich mit Fleisch und Blut hier stehe, antwortete Zephyrin Xirdal, möchte ich behaupten, daß diese Frage recht müßig ist und eine Antwort darauf überflüssig wäre.«
Lecoeur kannte schon die Schrullen seines Patenkindes, das er mit Recht für etwas verschroben, doch nach gewissen Seiten für genial ansah, und begann über diese Rede herzlich zu lachen.
– Ja ja! erkannte er gutmütig an, doch ein einfaches Ja! wäre viel kürzer gewesen. Darf ich nun fragen, was der Zweck deines Besuchs ist?
– Ja, das dürfen Sie, denn ...
– Unnütz! unterbrach ihn Lecoeur. Meine zweite Frage ist ebenso überflüssig wie die erste, denn eine lange Erfahrung hat mich gelehrt, daß ich dich nur zu sehen bekomme, wenn du Geld brauchst.
– O! warf da Zephyrin Xirdal ein, sind Sie denn nicht mein Bankier?
– Ganz recht, räumte Herr Lecoeur ein, du aber, du bist ein recht sonderbarer Kunde. Würdest du mir gestatten, dir in dieser Beziehung einen Rat zu erteilen?
– Gern, wenn Ihnen das ein Vergnügen macht.
– Dieser Rat geht dahin, etwas weniger ökonomisch zu sein. Bedenke doch, deine Eltern haben dir eine Jahresrente von fünfzehntausend Francs hinterlassen, und du bringst es kaum dazu, viertausend davon auszugeben.
– Bah! machte Xirdal scheinbar sehr erstaunt über diese Bemerkung, die er heute übrigens wenigstens zum zwanzigstenmal hörte.
– Ja ja, so ist es; deine Zinsen häufen sich immer mehr an. Ich weiß zwar nicht, wie dein Konto bei mir heute steht, doch hunderttausend Francs wird dein zugewachsenes Guthaben auf jeden Fall betragen. Wozu soll nun dieses ganze Geld dienen?
– Hm, diese Frage werd' ich einmal studieren, versicherte Zephyrin Xirdal mit größtem Ernste. Übrigens ... nun ja, wenn Ihnen mein Geld eine Last ist, können Sie sich der ja entledigen.
– Wie denn?
– Es herauszugeben.
– Und an wen?
– An wen ... das ist gleichgültig. Glauben Sie, daß ich mir darüber den Kopf zerbrechen soll?»
Herr Lecoeur zuckte die Schultern.
»Nun kurz, wieviel brauchst du heute? fragte er. Zweihundert Francs, wie gewöhnlich?
– Nein, zehntausend Francs, antwortete Zephyrin Xirdal.
– Zehntausend Francs! wiederholte Herr Lecoeur erstaunt. Sapperment, das ist etwas Neues! Was willst du denn mit zehntausend Francs anfangen?
– Eine Reise will ich machen.
– Vortrefflicher Gedanke! Und nach welchem Lande?
– Das weiß ich noch nicht,« erklärte Zephyrin Xirdal.
Sehr belustigt sah Herr Lecoeur seinen Paten und Kunden spöttisch lächelnd an.
»Das wird gewiß ein schönes Land sein, sagte er ernst. Hier ... hier sind deine zehntausend Francs. Ist das alles, was du wünschest?
– Nein, erwiderte Zephyrin Xirdal, ich brauche auch ein Stück Erdboden.
– Wie ... ein Stück Land? rief Lecoeur, der, wie man sagt, aus einer Verwunderung in die andere fiel. Was soll denn das für ein Landstück sein?
– O, eins wie alle die andern Terrains, etwa zwei, drei Quadratkilometer groß.
– Das wäre ja ein kleines Gebiet, lautete Lecoeurs Antwort, und dann setzte er scherzend hinzu: Etwa den Boulevard des Italiens?
– Nein, entgegnete Zephyrin Xirdal, überhaupt nicht in Frankreich.
– Wo denn dann? ... So sprich doch!
– Ja, das weiß ich ja selbst noch nicht,« sagte Zephyrin Xirdal, ohne sich im geringsten aufzuregen, zum zweitenmale.
Herr Lecoeur konnte nur mit Mühe seine Lachlust unterdrücken.
»Na, dann hast du ja wenigstens noch die Wahl frei, bemerkte er. Doch sage mir, lieber Zephyrin, ist's mit dir augenblicklich vielleicht nicht ganz richtig? ... Ist das nicht etwas sinnlos?
– O, ich habe ein Geschäft vor, erklärte Zephyrin Xirdal, während seine Stirn sich in Falten legte.
– Ein Geschäft!« rief Lecoeur aufs höchste erstaunt.
Daß dieser Traumhans an ein Geschäft dachte, war doch wirklich geeignet zu verblüffen.
»Ja, bestätigte Zephyrin Xirdal.
– Ein bedeutendes?
– Pah! stieß das Patenkind hervor. Es handelt sich nur um fünf- bis sechstausend Milliarden Francs.«
Jetzt sah sich Herr Lecoeur seinen Kunden aber wirklich beunruhigt an. Wenn der nicht bloß scherzte, war er entschieden übergeschnappt.
»Was sagst du? fragte er fast ängstlich.
– Nun ja, um fünf- bis sechstausend Milliarden Francs, wiederholte Zephyrin Xirdal ganz gelassen.
– Sage mir, bist du auch recht bei Sinnen, Zephyrin? fuhr Lecoeur fort. Weißt du denn nicht, daß es auf der ganzen Erde an Gold nicht den hundertsten Teil dieser Summe gibt?
– Auf der Erde? ... Wohl möglich, sagte Xirdal. Aber anderswo ...
– Anderswo? ...
– Ja, so vierhundert Kilometer von hier grade hinauf.«
Jetzt ging dem Bankier plötzlich ein Licht auf. Wie sonst jedermann unterrichtet durch die Zeitungen, die dasselbe Thema schon längere Zeit abgehandelt hatten, glaubte er zu verstehen, worum es sich handelte. Er hatte das auch in der Tat verstanden.
»Du meinst die Feuerkugel? stammelte er, wider Willen etwas erbleichend.
– Natürlich, die Feuerkugel,« gestand Xirdal höchst gelassen.
Wenn ein andrer als sein Pate eine solche Sprache geführt hätte, würde ihn Herr Lecoeur ohne Zweifel sofort haben hinauswerfen lassen. Die Minuten eines Bankiers sind zu kostbar, als daß er sie durch das Anhören des Geschwätzes jedes Verrückten vergeuden könnte. Zephyrin Xirdal war jedoch nicht »jeder«. Daß in seinem Kopfe eine Schraube locker war, das ließ sich ja leider nicht bezweifeln; dieser verletzte Schädel trug aber immerhin ein geniales Gehirn, dem a priori nichts unmöglich erschien.
»Aha, du willst also die Feuerkugel, wie man sagt, ausschlachten? fragte Lecoeur, wobei er seinen Paten scharf ansah.
– Ja, warum auch nicht? Was ist denn so besondres dabei?
– Die Feuerkugel schwebt aber, wie du selbst sagst, vierhundert Kilometer über der Erde. Du denkst doch nicht etwa daran, dich so hoch zu erheben?
– Wozu wäre das nötig, wenn ich sie zum Herunterfallen bringe?
– Aber das Mittel dazu? ...
– Das hab' ich schon und das genügt.
– Du hast es! ... Du hast es! ... Doch wie willst du auf einen so entfernten Körper einwirken? ... Wo würde dazu ein Stützpunkt zu finden sein? Welche Kraft denkst du dir dienstbar zu machen?
– Es würde zu lange dauern, Ihnen alles das auseinanderzusetzen, und es würde obendrein nutzlos sein, da Sie es doch wohl nicht verständen.
– Sehr liebenswürdig!« bedankte sich Lecoeur, ohne gerade zu zürnen.
Auf sein Drängen ließ sich sein Patenkind doch zu einigen kurzen Erklärungen herbei. Der Autor dieser merkwürdigen Geschichte wird sie hier noch mehr kürzen unter der Bemerkung, daß er trotz seiner bekannten Vorliebe für kühne Berechnungen und Pläne doch keineswegs für die hier vorgetragenen interessanten, doch vielleicht zu gewagten Theorien eintreten möchte.
Für Zephyrin Xirdal ist die Materie nur eine Erscheinung; sie hat keine wirkliche Existenz. Er glaubt das beweisen zu können durch die Unmöglichkeit, ihre letzte Zusammensetzung zu erkennen. Man zerlege sie in Moleküle, Atome, in die winzigsten Partikel, immer bleibt noch ein letzter Rest zurück, der die Lösung des Problems vereitelt, und man müßte ewig von neuem anfangen, bis man endlich ein erstes Prinzip anerkennt, das aber nichts mehr mit Materie, mit einem greifbaren Körper zu tun hat. Dieses erste Prinzip ist immaterieller Natur, es ist die Energie.
Was ist aber nun wieder die Energie? Zephyrin Xirdal gesteht, das selbst nicht zu wissen. Der Mensch steht mit der Außenwelt nur durch seine Sinne in Verbindung, und die Sinne des Menschen reagieren allein auf Reize aus der Stoffwelt, alles was nicht Materie ist, bleibt ihm unerkennbar. Wenn er auch durch reine Vernunftschlüsse imstande ist, das Vorhandensein einer immateriellen Welt anzuerkennen, ist es ihm wegen Mangels an Vergleichungspunkten doch unmöglich, sich deren Natur klar vorzustellen. So wird es auch so lange bleiben, bis die Menschheit nicht noch neue Sinne bekommen hat, was von vorneherein nicht als absurd zu betrachten ist.
Wie dem aber auch sein mag, die Energie oszilliert, nach Zephyrin Xirdal, immer zwischen zwei Grenzen: zwischen dem absoluten Gleichgewicht, das nur bei deren gleichmäßiger Verteilung im Weltraum erreichbar ist, und der absoluten Konzentration auf einen Punkt, der dann von einer vollkommenen Leere umgeben sein müßte. Da der Weltraum aber unendlich ist, sind diese beiden Grenzen unerreichbar. Daraus folgt, daß die immanente Energie sich im Zustande ewiger Bewegung befindet. Die materiellen Körper absorbieren stets Energie, und da diese Konzentration anderswo eine verhältnismäßige Leere zur Folge hat, strahlt die Materie wieder Energie, die sie gebunden hielt, in den Weltraum aus.
Im Widerspruche zu dem klassischen Axiom: »Nichts geht verloren und nichts wird neu erschaffen«, behauptet Zephyrin Xirdal, »alles geht verloren und erschafft sich aufs neue«. Die ewig der Vernichtung verfallene Substanz erneuert sich ewig, wenn auch in anderer Form. Jede dieser Veränderungen ist von einer Strahlung von Energie und von einer Zersetzung entsprechender Substanz begleitet. Wenn diese Zersetzung mit unsern Instrumenten und Hilfsmitteln nicht nachweisbar ist, liegt das nur an deren Unvollkommenheit, da eine ungeheure Menge Energie in jedem unwägbaren Stoffteilchen vorhanden ist, was es – wenigstens nach Zephyrin Xirdal – auch erklärt, daß die Gestirne im Verhältnis zu ihrer mäßigen Größe so unendlich weit voneinander entfernt sind.
Jene nicht nachweisbare Zersetzung oder Vernichtung ist gleichwohl vorhanden. Der Schall, die Wärme, die Elektrizität sind dafür ein indirekter Beweis. Diese Erscheinungen sind solche der strahlenden Materie, und durch sie offenbart sich, wenn auch unter gröberer und halbmaterieller Form, die freigewordene Energie. Die reine, gewissermaßen sublimierte Energie kann nur jenseits der materiellen Welten bestehen. Sie umgibt diese Welten wie mit einer Dynamosphäre mit einer deren Masse entsprechenden Dichtigkeit, die um so geringer ist, je weiter man sich von ihrer Oberfläche entfernt. Das Zutagetreten dieser Energie und ihres Strebens nach immer stärkerer Verdichtung, das verstehen wir unter Anziehungskraft.
Das war die Theorie, die Zephyrin Xirdal dem etwas verdutzten Herrn Lecoeur vortrug.
»Unter dieser Voraussetzung, schloß Zephyrin Xirdal seine Rede, als ob es sich um die einfachste Sache handelte, genügt es, wenn ich eine kleine Menge Energie frei mache und sie nach einem beliebigen Punkte im Weltraume richte, auf einen Körper in dessen Nähe einzuwirken, vor allem, wenn dieser nicht zu groß und zu massig ist oder selbst über eine beträchtliche Energiemenge verfügt. Das ganze ist eigentlich eine reine Spielerei.
– Und du hast das Mittel, diese Energie frei zu machen.
– Ich habe, was auf dasselbe hinauskommt, das Mittel, ihr den Austritt zu eröffnen, indem ich ihr alles aus dem Wege räume, was Substanz, was Materie ist.
– Ja, dann aber, dann könntest du ja die ganze Himmelsmechanik in Unordnung bringen!« rief Herr Lecoeur.
Zephyrin Xirdal schien sich von der Ungeheuerlichkeit dieser Hypothese nicht getroffen zu fühlen.
»Tatsächlich kann, gab er mit bescheidener Einfachheit zu, die Maschine, die ich konstruiert habe, nur weit schwächere Resultate ergeben, sie wird aber ausreichen, auf eine schlimme Feuerkugel von ein paar Tausend Tonnen einen Einfluß auszuüben.
– Gut, so sei's denn! sagte Lecoeur, der allmählich wärmer wurde. Wo denkst du aber deine Feuerkugel herunterfallen zu lassen?
– Auf mein eignes Gebiet.
– Auf welches Gebiet?
– Auf das, das Sie mir kaufen werden, wenn ich die noch nötigen Berechnungen abgeschlossen habe. Darüber werd' ich Ihnen schreiben. Wohl verstanden, ich werde so viel wie möglich eine fast öde Gegend wählen, wo Grund und Boden fast wertlos ist. Sie werden mit dem Kaufabschlusse freilich einige Schwierigkeiten haben. Ich bin nicht vollständig frei in meiner Wahl, und es wäre möglich, daß das betreffende Land nicht so leicht zugänglich wäre.
– Das laß nur meine Sorge sein, sagte der Bankier. Für dergleichen Dinge ist ja der Telegraph erfunden. In dieser Hinsicht beunruhige dich also nicht.«
Mit dieser Zusicherung und zehntausend Francs in Kassenscheinen in der Tasche, kehrte Zephyrin Xirdal mit großen Schritten, wie er gekommen war, nach Hause zurück und, hier kaum eingeschlossen, setzte er sich sofort an den Tisch, der schon vorher in gewohnter Weise mit dem Handrücken von allem, was darauf lag, gesäubert worden war.
Jetzt machte sich die Arbeitskrise gewaltsam Luft.
Die ganze Nacht brütete er über seinen Berechnungen, doch als der Morgen graute, war auch die Lösung gefunden. Er hatte die Kraft bestimmt, womit er die Feuerkugel angreifen mußte, ebenso die Stunden, wo das zu geschehen hatte, die Richtung, die ihr zu geben war, und auch den Ort und das Datum für das Niederfallen des Meteors.
Da ergriff er sogleich die Feder und setzte den Herrn Lecoeur versprochenen Brief auf, lief dann seine sechs Treppen hinunter, steckte das Schreiben in den Briefkasten und eilte dann in seine Wohnung zurück.
Nach Abschließung der Tür ging er nach einer Ecke des Zimmers und zwar nach derselben, wo er am Tage vorher den Papierhaufen, der früher das Fernrohr bedeckte, mit so bemerkenswerter Sicherheit auf die Seite geschoben hatte. Heute mußte er nun die entgegengesetzte Operation vornehmen. Xirdal zwängte also den Arm unter den Papierhaufen und schob ihn mit sicherer Hand wieder nach seiner früheren Stelle.
Durch dieses zweite »Aufräumen« kam ein schwärzlicher Kasten zum Vorschein, den Zephyrin Xirdal ohne Anstrengung aufhob und mitten im Zimmer einem Fenster gegenüber niedersetzte.
An diesem Kasten, einem einfachen würfelförmigen und dunkel angestrichenen Behälter, war nichts Besondres zu sehen. Darin befand sich in einer Reihe von Glasgefäßen eine Anzahl Drahtspulen, deren Ende je zwei zu zwei mit immer dünneren Kupferdrähten verbunden waren. Über dem Kasten freistehend sah man auf einem Zapfen im Brennpunkte eines Metallspiegels noch ein doppelt-spindelförmiges Glasgefäß, das mit den andern keine leitende Verbindung hatte.
Mit Hilfe sehr feiner Instrumente stellte Zephyrin Xirdal den Metallspiegel genau in der Richtung ein, die ihm seine Berechnungen in der vorigen Nacht angegeben hatten, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, legte er unten in den Kasten noch ein Röhrchen, das einen hellen Glanz ausstrahlte. Dabei sprach er immer für sich hin, doch so, als ob er mit seiner Beredsamkeit die Bewunderung eines großen Zuhörerkreises hervorlocken wollte.
»Das hier, meine Herren, ist Xirdalium, ein Körper, der hunderttausendmal so radioaktiv ist wie Radium. Unter uns muß ich allerdings gestehen, daß ich mich dessen hier nur bediene, um etwas fürs Auge zu bieten. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß es ganz unnütz wäre; die Erde strahlt aber selbst so viel Energie aus, daß es im Grunde überflüssig ist, dieser noch eine Kleinigkeit davon hinzuzufügen. Ein Sandkörnchen im Meer! Immerhin erscheint mir eine kleine sichtbare Zugabe bei der Vorführung eines solchen Versuchs nicht unangebracht.«
Während er so sprach, hatte er den Kasten wieder geschlossen, den er durch zwei Kabel mit einer auf einem Wandbrette stehenden galvanischen Batterie verband.
»Die neutral-helikoidalen Ströme, meine Herren, fuhr er fort, haben natürlich, eben weil sie neutral sind, die Eigenschaft, alle Körper ohne Ausnahme abzustoßen, ob diese nun mehr oder weniger elektrisiert sind oder nicht. Anderseits nehmen sie infolge ihrer helikoidalen Natur selbst sozusagen eine helikoidale Gestalt an, das muß ja jedes Kind einsehen. Es war übrigens ein reiner Zufall, daß ich sie entdeckt habe. Im Leben ist doch alles zu etwas gut!«
Nach Schließung des elektrischen Stromes wurde ein schwaches Schwirren in dem Kasten hörbar und aus dem Glase auf dem Zapfen strahlte ein bläuliches Licht. Fast gleichzeitig geriet das Glas in eine drehende Bewegung, die, anfänglich langsam, von Sekunde zu Sekunde schneller wurde, um schließlich eine schwindelerregende Geschwindigkeit anzunehmen.
Zephyrin Xirdal betrachtete einige Augenblicke den im tollen Tanze sich drehenden Glasbecher, dann verlor sich, in einer der Achse des Metallspiegels parallelen Richtung, sein Blick im Weltraume.
Bei oberflächlicher Betrachtung schien die Tätigkeit jenes Mechanismus keine bemerkbaren materiellen Folgen zu haben. Einem aufmerksamen Beobachter wäre aber eine Erscheinung aufgefallen, die, wenn sie sich auch nur schwach zeigte, doch nicht wenig eigentümlich war. In der Luft schwebende Staubteilchen, die mit den Rändern des Metallspiegels in Berührung gekommen waren, schienen sich nicht mehr aus dieser Grenzlinie entfernen zu können und wirbelten heftig, als stießen sie gegen ein unsichtbares Hindernis, im Kreise herum. Zusammen bildete dieser Staub einen abgestumpften Kegel, dessen Grundfläche auf der Umfangslinie des Spiegels lag. Zwei bis drei Meter über dem Apparate verwandelte sich der aus unsichtbaren kreisenden Teilchen bestehende Kegel zu einem Zylinder von einigen Zentimetern Durchmesser, und dieser Zylinder erhielt sich draußen, trotz ziemlich frischen Windes, unverändert bis dahin, wo er in der Ferne für das Auge verschwand.
»Ich habe die Ehre, meine Herren, Ihnen zu melden, daß alles nach Wunsch geht,« erklärte Zephyrin Xirdal, während er sich auf seinen einzigen Stuhl setzte und eine sorgsam gestopfte Pfeife anzündete.
Eine halbe Stunde später hielt er seine Maschine an, die er aber am nämlichen Tage und an den folgenden Tagen wiederholt in Tätigkeit setzte, wobei er, nach jedem Experiment, den Spiegel nach einem wenig von den früheren abweichenden Punkte am Himmel richtete. Das wiederholte er nun zehn Tage hintereinander mit größter Gewissenhaftigkeit.
Am zwanzigsten Tage hatte er eben seine Maschine in Tätigkeit gesetzt und seine getreue Pfeife angezündet, als sich der Erfinderteufel nochmals seines Gehirnes bemächtigte. Eine der Folgen seiner Theorie der dauernden Vernichtung der Materie, die er dem Bankier Lecoeur mit kurzen Worten auseinandergesetzt hatte, trat ihm plötzlich klar vor Augen. Mit einem Schlage, wie ihm das gewöhnlich widerfuhr, erkannte er das Prinzip einer elektrischen Batterie, die sich durch einander folgende Reaktionen – deren letzte die zersetzten Körper zu ihrem ursprünglichen Zustande zurückverwandelte – immer von selbst regenerierte. Eine solche Batterie mußte offenbar bis zum Verschwinden der zu ihrem Aufbau verwendeten Körper und bis zu ihrer vollständigen Umwandlung in Energie in Tätigkeit bleiben. Das war – praktisch betrachtet – das reine Perpetuum mobile.
»Sapperment! ... Ah ... vortrefflich!« stieß Zephyrin Xirdal, eine Beute lebhafter Erregung, hervor.
Er dachte nach, wie er das von jeher zu tun pflegte, d. h. er konzentrierte alle seine geistigen Kräfte unzersplittert auf einen einzigen Punkt. Ein so konzentrierter Gedanke, mit dem er die dunkeln Stellen eines Problems angriff, glich dann einem Lichtbüschel, worin alle Strahlen der Sonne vereinigt waren.
»Alles richtig, sagte er noch, seinen Gedanken lauten Ausdruck gebend, die Sache muß auf der Stelle probiert werden.«
Zephyrin Xirdal ergriff seinen Hut, stürmte die sechs Stockwerke hinunter und lief eiligst zu einem Tischler, dessen Werkstatt auf der andern Seite der Straße lag. Mit wenigen kurzen und bestimmten Worten erklärte er dem Manne, was er wünschte, nämlich ein Rad mit eiserner Achse und siebenundzwanzig Vertiefungen längs des Radkranzes, deren Größe er genau angab und die bestimmt waren, ebensoviele Glasbecher aufzunehmen, die bei der Umdrehung des Rades eine lotrechte Lage behalten sollten.
Nachdem er diese Bestellung ausgerichtet und noch dringend verlangt hatte, daß sie sofort ausgeführt würde, begab er sich fünfhundert Meter weiter zu einem Händler mit chemischen Apparaten, den er als zuverlässig kannte. Hier wählte er siebenundzwanzig Glasbecher aus, die ein Gehilfe in starkes Papier packte und mit festem Bindfaden umschnürte. Das Paket versah der Gehilfe dann noch mit einem bequemen hölzernen Handgriff.
Als das geschehen war, wollte Zephyrin Xirdal mit seinem Paket im Arme eben nach Hause zurückkehren, da stieß er vor dem Laden mit einem seiner wenigen Freunde, einem verdienstvollen Bakteriologen, zusammen.
Der in seine Gedanken versunkene Zephyrin Xirdal sah den Bakteriologen gar nicht, der Bakteriologe sah aber Zephyrin Xirdal.
»Heda, Xirdal! rief er erfreut und halboffenen Mundes lächelnd. Endlich trifft man dich einmal!
– Heda, kam es als Echo zurück, Marcel Leroux!
– In höchsteigener Person.
– Und wie geht es dir? Sehr erfreut, dich wiederzusehen, das glaubst du wohl.
– Mir? ... Mir geht es wie einem Menschen, der eben im Begriff ist, sich in einem Schnellzuge zu verstauen. Wie du mich hier siehst mit der Umhängetasche, die drei Taschentücher und einige andre Toilettenbedürfnisse enthält, bin ich auf der Flucht nach dem Seestrande, um mich da einmal acht Tage lang an frischer Luft satt zu trinken.
– Du Glückspilz! antwortete Zephyrin Xirdal.
– Na, das hängt doch nur von dir ab, es ebenso zu sein wie ich. Wenn wir uns ein bißchen zusammendrängen, wird im Zuge wohl noch Platz für uns beide sein.
– Das könnte stimmen! meinte Zephyrin Xirdal.
– Wenn du also in Paris nicht gerade zurückgehalten bist ...
– Keineswegs.
– Du hast jetzt also nichts Besondres vor? Keine unabgeschlossenen Experimente?«
Xirdal bemühte sich, sich zu besinnen.
»Nicht das geringste, versicherte er.
– Dann wollen wir unser Glück versuchen. Acht Tage Ferien werden uns ungeheuer wohltun. Und wie angenehm werden wir da die Stunden verschwatzen!
– Ohne zu rechnen, unterbrach ihn Xirdal, daß ich den Aufenthalt benutzen kann, einen noch dunkeln Punkt aufzuhellen, der mir bezüglich der Ebbe und Flut schon lange im Kopfe liegt. Gerade als ich dich traf, dachte ich daran, erklärte er mit rührender Offenherzigkeit.
– Also abgemacht?
– Abgemacht!
– Nun denn, vorwärts! ... Doch da fällt mir ein, wir werden ja erst noch deine Wohnung aufsuchen müssen, und ich weiß nicht genau, wann der Zug ...
– Nein nein, das ist unnötig, fiel Xirdal seiner Sache sicher ein, ich habe hier alles, was ich brauche.«
Der zerstreute junge Mann wies dabei auf das Paket mit den Glasbechern.
»Dann ist ja alles gut!« sagte Marcel Leroux erfreut.
Die beiden Freunde setzten sich in Gang und wendeten sich mit großen Schritten dem Bahnhofe zu.
»Du begreifst, lieber Leroux, angenommen, daß die Oberflächenspannung ...«
Einige Leute, die ihnen entgegenkamen, zwangen die beiden Freunde auseinander zu weichen, und so ging der Rest des eben angefangenen Satzes im Geräusche von Wagen verloren. Das störte aber Zephyrin Xirdal nicht, der seine Rede unbeirrt fortsetzte und sich dabei an alle Vorüberkommenden wendete, die darüber nicht wenig erstaunten. Der Redner bemerkte das freilich gar nicht und predigte, die Menschenwogen des Pariser Ozeans teilend, ruhig weiter.
Und während Xirdal, ganz eingenommen von seiner neuen Marotte, eiligst dem Zuge entgegenschritt, der ihn so weit von der Stadt wegführen sollte, schnurrte und hämmerte es in der Rue Cassette, in einem Zimmer einer sechsten Etage, leise in einem schwärzlichen, harmlos aussehenden Kasten, warf ein Metallspiegel ununterbrochen einen bläulichen Schein hinaus und drang der unbeugsame und doch so zarte Zylinder wirbelnden Staubes immer tiefer in den unbekannten Weltraum.
Sich selbst überlassen, setzte der Apparat, den Zephyrin Xirdal abzustellen vergessen hatte und an den er sich jetzt überhaupt nicht mehr erinnerte, blindlings seine dunkle und geheimnisvolle Arbeit fort.