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Der Birkenwald. – Von der Höhe des Steilufers. – Durch den Wald. – Ein Weg über den Creek. – Der Rio als Wegweiser. – Nachtlager. – Die Ajoupa. – Die bläuliche Linie. – Phann löscht seinen Durst.
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Briant, Doniphan, Wilcox und Service hatten das Lager des »Sloughi« um sieben Uhr Morgens verlassen. Die am wolkenlosen Himmel aufsteigende Sonne versprach einen jener schönen Tage, wie sie der October zuweilen den Bewohnern der gemäßigten Zone auf der nördlichen Halbkugel bescheert und an dem weder Hitze noch Kälte zu fürchten war. Wenn irgend ein Hinderniß ihr Fortkommen verzögerte, so konnte das nur vom Erdboden selbst ausgehen.
Anfangs zogen die jungen Forscher schräg über das Vorland, um nach dem Felsen des Steilufers zu gelangen. Gordon hatte ihnen empfohlen, Phann mitzunehmen, dessen Instinct ihnen gewiß von Nutzen sein konnte, und deshalb nahm das treue Thier an dem Zuge theil.
Eine Viertelstunde nach dem Aufbruche waren die vier Knaben schon unter dem Blätterdache des Waldes verschwunden, der bald durchmessen wurde. Auf den Bäumen flatterten verschiedene Vögel umher. Doniphan, der seinem Gelüste widerstand, ließ sie unbehelligt. Selbst Phann schien zu begreifen, daß sein weites Hin- und Herlaufen jetzt unnütz sei und hielt sich bei seinen Herren, ohne sich von diesen weiter zu entfernen, als es seine Rolle als Kundschafter bedingte.
Die nächste Absicht ging dahin, dem Fuße des Steilufers bis zu dem im Norden der Bai gelegenen Vorgebirge nachzugehen, wenn es, ehe sie ans Ende desselben kamen, unmöglich schien, die Höhe zu übersteigen. Dann wollte man auf die von Briant gemeldete Wasserfläche zu marschiren. Dieser Weg hatte, wenn er auch nicht der kürzeste war, doch den Vorzug der Sicherheit. Ein bis zwei Meilen Umweg genirte die kräftigen Knaben, welche gute Fußgänger waren, nicht im Geringsten.
Sobald er das Steilufer erreicht, erkannte Briant auch die Stelle wieder, wo er mit Gordon gelegentlich des ersten Ausfluges Halt gemacht hatte. Da sich in diesem Theile der Kalkwand kein Durchgang vorfand, mußten sie im Norden eine gangbare Stelle suchen, und wenn sie das auch zwang, bis zum Vorgebirge selbst zu gehen. Das nahm freilich einen ganzen Tag in Anspruch, doch man konnte eben nicht anders zu Werke gehen, im Fall sich das Steilufer an seiner Westseite überall unersteigbar erwies.
Briant setzte das seinen Kameraden auseinander, und auch Doniphan erhob dagegen, nachdem er mehrere vergebliche Versuche gemacht, die Abhänge der Böschung zu erklimmen, keinen weiteren Einspruch. Alle Vier folgten also den äußersten Gesteinslagen, an welche die letzte Reihe der Bäume fast heranreichte.
Eine Stunde etwa marschirte man so vorwärts und da man voraussichtlich bis zum Vorgebirge hinausziehen mußte, so sorgte sich Briant schon darüber, ob der Weg dahin wirklich frei sein würde. Hatte zu dieser vorgerückten Stunde die Fluth nicht den Strand schon wieder bedeckt? Das hätte den Verlust eines halben Tages bedeutet, wenn man warten mußte, bis die Ebbe die Klippenbank wieder trocken gelegt hatte.
»Beeilen wir uns,« sagte er, nachdem er ihnen mitgetheilt, wie nöthig es sei, der Fluth hier zuvorzukommen.
» Bah,« erwiderte Wilcox, »da würden wir uns doch höchstens die Knöchel etwas naß machen!«
»Die Knöchel, dann die Brust und nachher die Ohren,« antwortete Briant. »Das Meer steigt hier mindestens um fünf bis sechs Fuß. Wahrlich, ich glaube, wir hätten besser gethan, geraden Weges auf das Vorgebirge loszugehen.«
»Das hättest Du vorschlagen müssen,« versetzte Doniphan. »Du, Briant, dienst uns hier als Führer, und wenn wir eine Verzögerung erleiden, so wirst allein Du die Verantwortung tragen!«
»Du sollst ja recht haben, Doniphan, doch laß' uns keinen Augenblick verlieren! – Wo ist denn Service?«
Er rief laut:
»Service! . . . Service!«
Der Knabe war nicht mehr da. Nachdem er sich mit seinem Freunde Phann entfernt, war er hinter einem Vorsprunge des Steilufers, etwa hundert Schritte zur Rechten, verschwunden.
Da ertönten, begleitet vom Gebell des Hundes, laute Ausrufe, so als ob Service sich in Gefahr befände.
In kürzester Zeit hatten Briant, Doniphan und Wilcox ihren Kameraden eingeholt, der vor einer, offenbar schon lange vorhandenen Einsturzstelle der Felswand wartete. Durch immer wieder einsickerndes Wasser oder überhaupt durch die Unbill der Witterung, welche im Laufe der Zeit die Kalkmasse lockerte, hatte sich hier eine Art Halbtrichter gebildet, der, mit dem Halse nach unten zu, von der oberen Kante der Steinwand bis zum Fuße derselben reichte. In der sonst fast senkrechten Mauer öffnete sich damit also eine halbkegelförmige Schlucht, deren innere Wände stärkere Neigungswinkel als solche von vierzig bis fünfzig Grad nirgends zeigten. Die Unregelmäßigkeiten derselben boten übrigens eine Reihenfolge von Stützpunkten, auf denen der Fuß Halt fand. Gewandte und gelenkige Knaben mußten also die Kammhöhe der Wand ohne große Beschwerde erklimmen können, wenn sie dabei nicht einen Nachsturz des Gesteines veranlaßten.
Die mögliche Aussicht hierauf hielt sie jedoch nicht zurück.
Doniphan schwang sich zuerst auf die am Grunde lagernden Blöcke.
»Warte! . . . Warte! . . .« rief Briant ihm zu. »Begehe keine Unklugheit!«
Doniphan hörte jedoch nicht auf diese Warnung, und da ihn seine Eigenliebe anspornte, es seinen Kameraden – vor Allen gerade Briant – vorauszuthun, hatte er sehr bald schon die Hälfte der Schlucht erklettert.
Seine Kameraden folgten ihm nach, vermieden aber die Stellen gerade unter ihm, um nicht von den Bruchstücken getroffen zu werden, welche von der Kalksteinmasse losbrachen und bis zum Erdboden unter öfterem Aufschlagen hinabrollten.
Alles lief gut ab, und Doniphan genoß die Befriedigung, den Fuß auf den Kamm des Steilufers zu setzen, während die Anderen erst nach ihm ebenda anlangten.
Doniphan hatte schon sein Fernrohr aus dem Etui gezogen und richtete es nach der Oberfläche der Waldungen, welche sich nach Osten hin bis über Sehweite hinaus fortsetzten.
Hier bot sich ihm das gleiche Rundgemälde von Himmel und Grün, das Briant von der Höhe des Vorgebirges aus gesehen hatte – nur in etwas beschränkterer Ausdehnung, da letzteres das Steilufer noch um hundert Fuß überragte.
»Nun,« fragte Wilcox, »Du siehst nichts?«
»Ganz und gar nichts!« versicherte Doniphan.
»So laß' mich einmal hindurch sehen,« sagte Wilcox.
Doniphan reichte das Fernrohr dem Kameraden, während sein Gesicht eine unverholene Befriedigung widerspiegelte.
»Ich kann nicht die geringste Wasserlinie entdecken,« sagte Wilcox, das Fernrohr senkend.
»Das ist sehr erklärlich,« antwortete Doniphan, »da es nach dieser Seite hin überhaupt keine gibt. Du kannst ja hindurchsehen, Briant, und ich glaube, Du erkennst dann Deinen Irrthum . . .«
»Das wäre nutzlos,« erwiderte Briant; »ich weiß, daß ich mich nicht getäuscht habe.«
»Das ist doch etwas stark! . . . Wir können Beide nichts erblicken . . .«
»Sehr natürlich, weil unser Standpunkt hier niedriger ist als das Vorgebirge, und weil die Sehweite dadurch verkürzt wird. Wären wir auf der Höhe, wo ich damals stand, so würde die bläuliche Linie in der Entfernung von sechs bis sieben Meilen sichtbar sein. Dann würdet Ihr deutlich erkennen, daß sie die von mir angegebene Lage hat und daß es unmöglich ist, sie mit einer flachen Wolkenschicht zu verwechseln.
»Das ist leicht gesagt! . . .« warf Wilcox ein.
»Und auch leicht bewiesen,« antwortete Briant gelassen. »Ziehen wir nur über die Hochfläche des Steilufers, dann durch die Wälder hin, und gehen wir immer weiter, bis wir die Stelle erreichen . . .«
»Ah, sehr schön,« unterbrach ihn Doniphan, »das könnte uns weit weg führen, und wer weiß, ob sich's der Mühe lohnte . . .«
»So bleib' Du hier, Doniphan,« sagte Briant, der, Gordon's Rathe folgend, trotz des bösen Willens des Kameraden seine Ruhe bewahrte. »Bleib' hier zurück; Service und ich werden allein gehen . . .«
»Nein, wir gehen mit!« rief Wilcox. »Auf, Doniphan, und vorwärts nun!«
»Wenn wir erst gefrühstückt haben!« meinte Service.
In der That empfahl es sich, vor dem Wiederaufbruch einen stärkenden Imbiß einzunehmen.
Das war nach einer halben Stunde abgethan, und dann zogen die Knaben weiter.
Die erste Meile wurde schnell zurückgelegt, da der Rasenboden keine Hindernisse bot. Da und dort zeigten sich kleine steinige Erhebungen mit Moos und Flechten überzogen. Durch Zwischenräume von einander getrennt, erhoben sich auch einzelne Gruppen von Gebüsch, hier baumartige Farren oder Lycopoden, dort Haidekraut, Berberitzensträucher, Stechpalmen mit stacheligen fleischigen Blättern, oder Buschhaufen einer anderer Berberitzenart mit sehr zähen Blättern, welche sich selbst noch in sehr hohen Breiten reichlich vermehrt.
Als Briant mit seinen Gefährten die ebene Fläche überschritten, konnten sie auch nur mit Mühe an der anderen Seite des, hier fast ebenso hohen und wie nach der Bai zu schroff abfallenden Steilufers hinunter gelangen. Ohne das halbausgetrocknete Bett eines Bergbaches, dessen vielfache Windungen die Steilheit des Abhanges etwas ermäßigten, wären sie wohl genöthigt gewesen, hier oben bis zum Vorgebirge hin zu wandern.
Im Walde selbst gestaltete sich das Fortkommen auf dem von üppig wuchernden Pflanzen und hohem Grase bedeckten Boden weit beschwerlicher. Manchmal sperrten umgestürzte Bäume den Weg, oder war das Unterholz so dicht, daß sie sich erst mit der Axt Bahn brechen mußten. Die Knaben arbeiteten sich hier in der nämlichen Weise vorwärts, wie die Pioniere der Cultur in den Urwäldern der Neuen Welt. Jeden Augenblick gab es hier Aufenthalt, der die Arme mehr ermüdete als die Beine und das Fortkommen so verzögerte, daß der vom Morgen bis zum Abend zurückgelegte Weg kaum mehr als drei bis vier Meilen betrug.
Es schien in der That, als sei noch kein menschliches Wesen durch diese üppigen Waldungen vorgedrungen, wenigstens fand sich davon keine Spur. Der schmalste Pfad hätte ja hingereicht, dafür den Beweis zu erbringen; doch nirgends war ein solcher zu entdecken. Das Alter oder irgend ein Orcan, aber nicht des Menschen Hand, hatte diese mächtigen Bäume gefällt. Das an manchen Stellen niedergetretene Gras deutete nur auf das Vorüberkommen mittelgroßer Thiere, von denen jetzt noch einige entflohen, ohne daß die Art derselben zu bestimmen gewesen wäre. Jedenfalls waren sie nicht besonders zu fürchten, da sie sich so eilig über Schußweite in Sicherheit brachten.
Dem ungeduldigen Doniphan zuckte zwar schon die Hand, nach der Flinte zu greifen und den Flüchtlingen eine Kugel nachzusenden, doch siegte in ihm die Vernunft, so daß eine Einmischung Briant's unnöthig wurde, um jenen an Begehung der Unklugheit zu hindern, durch einen Schuß ihre Gegenwart zu verrathen.
Begriff Doniphan auch, daß er seiner Lieblingswaffe hier Schweigen gebieten mußte, so hätte es doch nicht an Gelegenheit gefehlt, sie ein Wort sprechen zu lassen. Bei jedem Schritte flatterten hier Rebhühner, von der Sippe der sogenannten Tinamus und von vorzüglichem Geschmack, in die Höhe, oder Uferschwalben glitten pfeilschnell dahin; ferner zeigten sich Krammetsvögel, wilde Gänse und Kraniche in großer Menge, ohne das andere Geflügel zu rechnen, das man hier hundertweise hätte erlegen können.
Für den Fall eines längeren Verbleibens in dieser Gegend versprach die Jagd also hinreichende Nahrungsmittel zu liefern. Davon überzeugte sich Doniphan vom Beginn dieses Ausfluges an, bereit, sich später für die ihm jetzt aufgezwungene Zurückhaltung gebührend zu entschädigen.
Die Baumarten des Waldes gehörten vorwiegend verschiedenen Sorten von Birken und Buchen an, welche ihre Aeste mit den zartgrünen Zweigen wohl bis auf hundert Fuß emporstreckten. Unter den andern Bäumen fanden sich schön gewachsene Cypressen, Myrtaceen mit röthlichem und überaus festem Holze und Gruppen jener prächtigen, »Winters« genannten Gewächse, deren Rinden einen, dem des Zimmets nahekommenden Wohlgeruch verbreiten.
Es war zwei Uhr, als ein nochmaliger Halt gemacht wurde, und zwar inmitten einer ganz schmalen, von einem seichten Rio – wofür man in Nordamerika die Bezeichnung »creek« gebraucht – durchströmten Lichtung. Das vollkommen klare Wasser dieses Creek floß langsam über ein schwärzliches Felsenbett hin. Wenn man seinen friedlichen und wenig tiefen Lauf betrachtete, der weder abgestorbenes Holz noch welkes Gras mit sich führte, so konnte man wohl annehmen, daß seine Quellen nicht weit von hier zu suchen wären. Ueber die in demselben verstreuten Steine hinweg konnte man ihn leicht überschreiten; ja, an einer Stelle schienen solche flache Steine so ordnungsgemäß aneinander geschichtet, daß das auf den ersten Blick auffallen mußte.
»Das sieht ja merkwürdig aus!« sagte Doniphan.
In der That bildete das ganze eine Art chaussirten Weges von einem Ufer zum andern.
»Man könnte es für eine Brücke halten,« meinte Service, der schon daran ging, sie zu überschreiten.
»Halt! . . . Achtung!« rief ihm da Briant zu. »Wir müssen die Anordnung dieser Steine erst näher besichtigen!«
»Es ist doch ganz unmöglich,« fügte Wilcox hinzu, »daß sie der reine Zufall so aneinander gefügt hätte . . .«
»Nein,« pflichtete ihm Briant bei; »mir scheint es, als habe hier Jemand einen gangbaren Weg über den Rio herstellen wollen. Doch, sehen wir näher zu!«
Man prüfte nun sorgsam die einzelnen Bestandtheile dieser schmalen Chaussee, welche das Wasser nur um wenige Zolle überragte und während der Regenzeit überschwemmt sein mußte.
Konnte man deshalb aber sagen, daß es die Hand des Menschen gewesen sei, welche diese Steinplatten quer durch den Creek gelagert, um das Ueberschreiten des Wasserlaufes zu erleichtern? – Nein; es war dagegen wohl mit mehr Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die Gewalt der Strömung zur Zeit des Hochwassers sie hier nach und nach zusammengehäuft und damit eine natürliche Brücke gebildet hatte. So erklärte sich wenigstens auf einfachste Weise das Vorhandensein dieses Steges, und nach genauester Besichtigung nahm auch Briant mit seinen Kameraden diese Anschauung an.
Hierzu muß bemerkt werden, daß das rechte Ufer ebensowenig wie das linke andere Spuren erkennen ließ und nichts darauf hindeutete, daß der Fuß eines Menschen jemals diese Lichtung betreten habe.
Der Creek selbst strömte nach Nordosten, also nach der der Bai entgegengesetzten Seite. Mündete er also wohl in das Meer, welches Briant vom Gipfel des Vorgebirges gesehen zu haben behauptete?
»Wenn dieser Rio,« bemerkte dazu Doniphan, »nicht nur der Nebenarm eines größeren Flusses ist, der selbst nach Westen zu verläuft.«
»Das werden wir bald sehen,« antwortete Briant, der es für zwecklos erachtete, über diesen Gegenstand weiter zu verhandeln. »So lange er jedoch ohne allzu große Umwege die Richtung nach Osten beibehält, find' ich es am besten, ihm nachzugehen.«
Die vier Knaben brachen wieder auf, nachdem sie den Creek auf jener Naturbrücke überschritten, um weiter stromaufwärts sich dazu nicht etwa unter ungünstigeren Verhältnissen gezwungen zu sehen.
Es war leicht genug, dem Uferrande zu folgen, bis auf wenige Stellen, wo gewisse Baumgruppen ihre Wurzeln in dem murmelnden Wasser badeten, während ihre Zweige sich von Ufer zu Ufer verstrickten. Machte der Creek auch zuweilen einen scharfen Bogen, so ergab der Compaß doch eine allgemeine Richtung desselben nach Osten. Seine Mündung mochte von hier noch ziemlich weit entfernt sein, da die Strömung weder an Schnelligkeit, noch das Bett an Breite zunahm.
Gegen fünfeinhalb Uhr mußten Briant und Doniphan zu ihrem Leidwesen erkennen, daß der Lauf des Creek sich entschieden nach Norden richtete. Folgten sie ihm auch noch ferner als Leitfaden, so wurden sie offenbar weit ab und nach einer, ihrem Ziele nicht entsprechenden Richtung weggeführt. Sie beschlossen also in Uebereinstimmung, von dem Ufer abzuweichen und durch die dichtesten Birken und Buchen einen geraden Weg nach Osten zu einzuschlagen.
Doch welche Schwierigkeiten brachte das mit sich! Inmitten des hohen, ihre Köpfe zuweilen überragenden Grases mußten sie sich wiederholt anrufen, um zusammen zu bleiben.
Da nach eintägiger Wanderung noch nichts die Nähe einer größeren Wasserfläche verrieth, wurde Briant allgemach etwas unruhig. Sollte er doch das Opfer einer Augentäuschung gewesen sein, als er von der Höhe des Vorgebirges den Horizont betrachtete? . . .
»Nein, nein! . . . wiederholte er sich. Ich habe mich nicht getäuscht! . . . Das kann nicht sein! . . . Das ist nicht der Fall!«
Doch wie dem auch sein mochte, jedenfalls war um sieben Uhr Abends die Grenze des Waldes noch nicht erreicht und die Dunkelheit schon zu groß, um noch weiter vorwärts zu dringen.
Briant und Doniphan beschlossen Halt zu machen und die Nacht unter dem Schutze der Bäume zu verbringen. Ein gutes Stück Corn-beef mußte den Hunger stillen, und unter dicken Decken würde man von der Kälte nichts zu leiden haben. Außerdem würde sie nichts gehindert haben, mit dürren Zweigen ein Feuer anzuzünden, wenn diese zum Schutze gegen Raubthiere sehr empfehlenswerthe Maßregel sich hier nicht wegen der Möglichkeit verboten hätte, daß der Schein desselben etwaige Eingeborne heranlocken könnte.
»Es ist besser, wir vermeiden die Gefahr entdeckt zu werden,« bemerkte Doniphan.
Alle stimmten ihm zu und beschäftigten sich nur noch mit dem Abendessen. An Appetit fehlte es ihnen nicht. Nachdem sie von ihrem Reiseproviant gehörig zugelangt, wollten sie sich schon am Fuße einer großen Birke ausstrecken, als Service noch auf ein nur wenige Schritte entferntes Dickicht hinwies. Aus diesem Dickicht strebte – so weit sich das bei der Dunkelheit erkennen ließ – ein mittelhoher Baum empor, dessen untere Zweige wieder bis zur Erde herabreichten. Hier legten sich dann Alle, in ihre Decken gehüllt, auf einem Haufen trockener Blätter nieder. In ihrem Alter läßt der Schlaf sich nicht lange bitten; bald lagen sie denn auch in süßem Schlummer, während Phann, dem es eigentlich oblag zu wachen, es seinen Herren nachzuthun sich anschickte.
Ein- oder zweimal ließ der Hund wohl ein längeres Knurren vernehmen. Offenbar streiften einzelne Raub- oder andere Thiere durch den Wald; sie kamen aber bis in die unmittelbare Nähe des Lagers nicht heran.
Es war gegen sieben Uhr, als Briant und seine Kameraden erwachten. Die schrägen Strahlen der Sonne erleuchteten nur unbestimmt den Ort, wo sie die Nacht zugebracht hatten.
Service kroch zuerst aus dem Dickicht hervor, sofort aber schrie er wieder auf, oder ließ wenigstens Rufe des Erstaunens hören.
»Briant! . . . Doniphan! . . . Wilcox! . . . Kommt, kommt doch!«
»Was giebt es denn?« fragte Briant.
»Ja, was ist denn los?« ließ sich Wilcox vernehmen. »Mit seiner Gewohnheit gleich aufzuschreien, setzt uns Service immer in unnöthigen Schrecken! . . .«
»Schon gut! . . . Schon gut! . . .« antwortete Service. »Seht doch einmal nach, wo wir geschlafen haben!«
Es war das kein Dickicht, sondern eine Blätterhütte, welche die Indianer »Ajoupa« nennen und die sie aus verflochtenen Zweigen herstellen. Die Ajoupa hier mußte vor langer Zeit errichtet sein, denn Dach und Wände derselben hielten nur noch zusammen, weil sie sich an den Baum in der Mitte stützten, dessen Laubwerk die, denjenigen der Indianer Südamerikas ganz ähnliche Hütte neu überkleidete.
»Hier gibt es also doch Menschen? . . .« fragte Doniphan, schnell umherblickend.
»Ja, oder es hat mindestens solche gegeben,« antwortete Briant, »denn diese Blätterhütte hat sich nicht allein aufbauen können.«
»Damit erklärt sich auch das Vorhandensein des Steinplattensteges über den Creek!« bemerkte Wilcox.
»Nun, desto besser,« rief Service. »Leben hier Landesbewohner, so sind es brave Leute, da sie uns diese Hütte ganz speciell zum Uebernachten errichtet haben!«
In Wirklichkeit freilich war nichts ungewisser, als daß die Eingebornen dieses Landes gerade so »brave Leute« wären, wie Service sich äußerte. Offenkundig schien nur, daß Eingeborne diesen Theil des Waldes besuchten, oder vor mehr oder weniger langer Zeit besucht hatten. Diese Eingebornen konnten aber nur Indianer sein, wenn das Gebiet hier mit dem Festland der Neuen Welt zusammenhing, oder Polynesier, vielleicht gar Cannibalen, wenn es eine Insel war, die einem der Archipele Oceaniens angehörte. Diese letztere Möglichkeit barg natürlich schwere Gefahren in sich und machte die Lösung der schwebenden Frage desto dringlicher.
Briant wollte schon weiter wandern, als Doniphan vorschlug, jene Hütte genau zu durchsuchen, wenn dieselbe auch offenbar seit sehr langer Zeit verlassen sein mußte.
Möglicherweise fand sich hier irgendwelcher Gegenstand, ein Werkzeug, Instrument oder Geräth, dessen Ursprung man zu erkennen vermochte.
Das auf dem Boden der Ajoupa ausgebreitete Lager von trockenen Blättern wurde sorgfältig weggeräumt und in einer Ecke fand Service wirklich einen Scherben aus gebranntem Thon, der einem Napf oder einer bauchigen Flasche angehört haben mochte. Das war zwar ein neues Beweisstück von menschlicher Arbeit, es klärte sie aber über nichts auf. Sie mußten ihre Wanderung also weiter fortsetzen.
Gegen halb acht Uhr brachen die Knaben, den Compaß in der Hand, auf und zogen in gerader Richtung nach Osten über einen leicht abfallenden Erdboden hin. So wanderten sie zwei Stunden hindurch langsam, sehr langsam weiter, da sie sich durch das feste Gewirr von Büschen und Sträuchern wiederholt erst mit der Axt einen Weg bahnen mußten.
Endlich, kurz vor zehn Uhr, breitete sich vor ihren Augen ein anderer Horizont aus, als die endlose Waldfläche. Jenseits der letzteren lag eine mit Mastixbüschen, Thymian und Haidekraut bedeckte Ebene. Eine halbe Meile weiter im Osten umschloß dieselbe einen Streifen sandigen Landes, an welches sanft die Brandung des von Briant gesehenen und bis zu den Grenzen des Horizonts hinausreichenden Meeres anschlug . . .
Doniphan schwieg mäuschenstill. Es kostete dem ehrgeizigen Knaben nicht wenig, anzuerkennen, daß sein Kamerad sich nicht getäuscht hatte.
Briant, dem es übrigens nach gar keinem Triumphe dürstete, betrachtete inzwischen die Umgebung durch das Fernrohr.
Im Norden wendete sich die von den Sonnenstrahlen glänzend erleuchtete Küste etwas nach links hin.
Der Süden bot denselben Anblick, nur rundete sich hier das Gestade zu einem mehr vorspringenden Bogen ab.
Jetzt konnte Niemand länger zweifeln. Es war kein Festland, sondern eine Insel, auf welche der Sturm den Schooner geschleudert hatte, und sie mußten auf jede Hoffnung, von hier wieder wegzukommen, verzichten, wenn ihnen nicht von außen Hilfe wurde.
Nach der hohen See hinaus war kein weiteres Land in Sicht. Es schien, als ob diese Insel ganz vereinzelt und wie verloren in der ungeheueren Wasserwüste des Stillen Oceans liege.
Nachdem Briant, Doniphan, Wilcox und Service die sich bis zum Strande hinziehende Ebene überschritten, machten sie am Fuße eines niedrigen Sandhügels Halt. Sie wollten nur frühstücken, um dann durch den Wald zurückzukehren. Wenn sie sich recht beeilten, war es vielleicht möglich, den »Sloughi« vor Einbruch der Nacht wieder zu erreichen.
Während dieser übrigens recht traurigen Rast wechselten sie kaum einige Worte.
Endlich raffte Doniphan Rucksack und Flinte zusammen, erhob sich und sagte nur:
»Laßt uns aufbrechen!»
Alle Vier schickten sich denn nach einem letzten Blicke über das vor ihnen liegende Meer an, über die Ebene zurückzuziehen, als Phann noch einmal nach dem Saume des Strandes davonsprang.
»Phann! . . . Phann!« rief Service.
Der Hund lief aber, den feuchten Sand hinter sich aufwerfend, in großen Sätzen weiter. Dann gelangte er mit einem Sprunge in die kleinen Brandungswellen und begann hier begierig zu saufen.
»Er trinkt! . . . Er trinkt!« . . . rief Doniphan.
In einen Augenblicke hatte Doniphan den schmalen Sandstreifen hinter sich und kostete einige Tropfen des Wassers, mit dem Phann seinen Durst füllte . . . Es schmeckte nicht salzig!
Nur ein See war es, der sich bis zum östlichen Horizont hin ausdehnte – nicht das Meer.