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Der Sturm. – Ein verirrter Schooner. – Vier Knaben auf dem Verdeck des »Sloughi.« – Das Focksegel in Stücken. – Im Innern der Yacht. – Der halberstickte Schiffsjunge. – Land in Sicht durch den Morgennebel. – Die Klippenbank.
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In der Nacht des 9. März 1860 beschränkten die mit dem Meere fast zusammenfließenden Wolken die Sehweite bis auf wenige Fadenlängen.
Auf dem empörten Wasser, dessen Wogen, fahle Lichter werfend, einherstürmten, flog ein leichtes Fahrzeug fast segellos dahin.
Es war eine Yacht von hundert Tonnen – ein Schooner, mit welchem Namen man in England und Amerika solche Goëletten bezeichnet.
Dieser Schooner führte den Namen »Sloughi«; doch vergebens hätte man denselben am Achter des Fahrzeugs zu lesen gesucht, da die betreffende Tafelplanke durch irgend einen Zufall – durch Anprall der Wogen oder Collision – unter der Regeling zum größten Theil abgesprengt war.
Es war jetzt um elf Uhr Nachts. Unter den Breiten, wo sich das Schiff befand, sind die Nächte zu Anfang des März noch kurz. Das erste Tagesgrauen war etwa gegen fünf Uhr Morgens zu erwarten. Doch verminderten sich damit, daß die Sonne den Weltraum erleuchtete, die Gefahren, welche den »Sloughi« bedrohten? Blieb das gebrechliche Fahrzeug nicht noch immer der Gnade der ungeheueren Wogen anheimgegeben? Unzweifelhaft; nur die Besänftigung der hohlen See, das Abflauen des wüthenden Sturmes konnte dasselbe vor dem entsetzlichsten Schiffbruche bewahren, vor dem auf offenen Meere, fern von jedem Lande, auf dem die Ueberlebenden vielleicht hätten Rettung finden können.
Auf dem Hintertheile des »Sloughi« standen drei Knaben, der eine im Alter von vierzehn, die beiden andern in dem von dreizehn Jahren, und außerdem ein zwölfjähriger Schiffsjunge von Negereltern, am Steuerrade. Hier vereinigten sie ihre Kräfte, um den seitwärts anstürmenden Wellen, welche die Yacht querzulegen drohten, Widerstand zu leisten. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn das trotz ihres Entgegenstemmens sich drehende Rad schien sie jeden Augenblick über die Schanzkleidung schleudern zu können. Kurz vor Mitternacht brach auch einmal eine solche Wassermasse über die Seite der Yacht herein, daß es ein Wunder zu nennen war, als das Steuer derselben noch glücklich Stand hielt.
Die Knaben wurden zwar von dem Stoße umgeworfen, konnten sich aber sofort wieder erheben.
»Gehorcht es noch dem Steuer, Briant?« fragte einer derselben.
»Ja, Gordon,« antwortete Briant, der seinen Platz schon wieder eingenommen und offenbar die gewohnte Kaltblütigkeit bewahrt hatte.
Darauf wandte er sich an den Dritten.
»Fest halten, Doniphan, rief er, und auf keinen Fall den Muth verlieren! . . . Es gilt, außer uns auch noch Andere zu retten!«
Diese Worte wurden englisch gesprochen, doch verrieth der Tonfall bei Briant die französische Abkunft.
Dieser kehrte sich nachher nach dem Schiffsjungen um.
»Du bist doch nicht verletzt, Moko?«
»Nein, Herr Briant,« erklärte der Gefragte. »Doch lassen Sie uns darauf achten, die Yacht gerade gegen die Wellen zu halten, sonst laufen wir Gefahr versenkt zu werden!«
Eben wurde die Kappenthüre der nach dem Salon des Schooners hinabführenden Treppe hastig geöffnet.
»Briant! . . . Briant!« rief ein Kind von neun Jahren. »Was ist denn geschehen?«
»Nichts, Iverson, gar nichts,« erwidert Briant. »Geh' mit Dole wieder hinunter, aber recht schnell!«
»Ach, wir fürchten uns so sehr!« ließ sich das zweite, noch etwas jüngere Kind vernehmen.
»Und die Anderen?« fragte Doniphan.
»Die Andern auch!« versicherte Dole.
»Nun geht nur Alle hinunter,« ermahnte Briant. »Schließt Euch fest ein, sucht Eure Lagerstätten auf und macht die Augen zu, dann werdet Ihr keine Furcht mehr spüren. Gefahr ist nicht vorhanden.«
»Achtung! . . . Wieder eine große Welle!« rief Moko.
Ein gewaltiger Anprall erschütterte das Hintertheil der Yacht. Diesmal schlug die See glücklicherweise nicht über, denn wenn das Wasser in größerer Menge durch die Treppenthür gedrungen wäre, hätte sich die noch weiter belastete Yacht bei dem starken Seegange schwerlich wieder aufrichten können.
»Macht doch, daß Ihr hineinkommt!« rief Gordon. »Hinunter, oder ihr bekommt's mit mir zu thun!
»Geht, geht hinunter, Ihr Kleinen!« setzte Briant in freundlicherem Tone hinzu.
Die beiden Köpfe verschwanden gerade in dem Augenblicke, wo ein anderer am Treppenausgange erscheinender Knabe sagte:
»Du bedarfst unser nicht, Briant?«
»Nein, Baxter,« antwortete dieser. »Du magst mit Cross, Webb, Service und Wilcox bei den Kleinen bleiben. Wir Vier sind uns genug.«
Baxter schloß wieder sorgfältig die Thür.
»Die Anderen fürchteten sich auch!« hatte Dole gesagt.
Aber befanden sich denn ausschließlich Kinder auf diesem vom Orcan verschlagenen Schooner? – Ja, nichts als Kinder. – Und wie viele waren es? – Fünfzehn, unter Einrechnung Gordons, Briants, Doniphans und des Schiffsjungen. – Durch welche Zufälligkeiten diese allein mit ihrem Schiffe abgesegelt waren, werden wir später erfahren.
Und auf der Yacht befand sich kein erwachsener Mann? Kein Capitän, um diese zu führen? Kein Seemann zur Bedienung des Segelwerkes und der Takelage? Kein Steuermann, um bei diesem Sturme das Steuer zu handhaben? – Nein, kein einziger!
Ebenso hätte keine lebende Seele an Bord genau angeben können, an welchem Orte auf dem Ocean der »Sloughi« sich befinde . . . Welcher Ocean war es überhaupt? . . . Der ausgedehnteste von allen, das Stille Weltmeer, das sich über 140 Längengrade von der Landmasse Australiens und den Küsten Neuseelands bis zur Küste von Südamerika erstreckt.
Was mochte hier vorgegangen sein? War die Besatzung des Schooners durch einen Unfall verunglückt? Hatten malayische Seeräuber sie entführt und an Bord die jungen Passagiere, deren ältester kaum vierzehn Jahre zählte, ihrem Schicksale überlassen? Eine Yacht von hundert Tonnen erfordert mindestens einen Capitän, einen Obersteuermann und fünf bis sechs Leute, und von diesem zur Führung des Schiffes unentbehrlichen Personal war ein Schiffsjunge allein übrig! . . . Woher endlich kam dieser Schooner, aus welchem australischen Gebiete oder welchem oceanischen Archipel? – Und wohin war er bestimmt? Auf diese Fragen, welche jeder Schiffer gestellt hätte, wenn ihm der »Sloughi« in diesen einsamen Meerestheilen begegnet wäre, würden die Kinder wohl haben Antwort geben können; es war jedoch weder ein Segel in Sicht, noch einer jener transatlantischen Dampfer, deren Reiserouten sich auf den Meeren Oceaniens kreuzen; ebensowenig eines der unter Segel oder Dampf laufenden Kauffahrteischiffe, welche Europa, wie Amerika, zu Hunderten nach den Häfen des Großen Oceans entsendet. Doch hätte auch eines jener mächtigen Fahrzeuge, durch seine Dampfmaschine oder seine große Besegelung gegen den Sturm ankämpfend, sich in dieser Gegend gezeigt, so würde es doch nicht in der Lage gewesen sein, der von der rollenden See gleich einem Spielballe umhergeworfenen Yacht Hilfe zu leisten.
Inzwischen wachten Briant und seine Gefährten so gut sie konnten darüber, daß der Schooner nicht nach der einen oder der andern Seite abgedrängt wurde.
»Was thun wir nun? . . .« fragte da Doniphan.
»Alles, was uns mit Gottes Hilfe möglich sein wird, uns zu retten,« antwortete Briant.
In der That verdoppelte der Sturm jetzt seine Gewalt. Der Wind wehte »fuderweise«, wie die (französischen) Seeleute zu sagen pflegen, und wiederholt schien es, als müsse der »Sloughi« bei dem schauerlichen Unwetter in Trümmer gehen. Seit achtundvierzig Stunden rhedelos, der Großmast vier Fuß über den Deckbalken abgebrochen, hatte man kein Schönfahrsegel hissen können, um das Schiff sicherer zu regieren. Der nur seiner Oberbramstange beraubte Fockmast stand zwar vorläufig noch fest, doch war jede Minute zu befürchten, daß er, wenn die Wanten (Strickleitern) desselben rissen, sich auf das Deck herabsenken würde. Vorn flatterten und klatschten die Fetzen des kleinen Klüversegels so laut wie der Knall einer Feuerwaffe. Als einziges Segelwerk war nur das Focksegel übrig, welches aber ebenfalls zu zerreißen drohte, da die Knaben nicht Kraft genug hatten, durch ein eingezogenes Reff seine Oberfläche zu verkleinern. Kam es auch noch dazu, so konnte der Schooner nicht mehr im Striche des Windes gehalten werden; die Wogen rollten dann von der Seite her über ihn herein, brachten ihn zum Kentern und zum Sinken, und damit verschwanden seine Passagiere im schauerlichen Abgrunde.
Und bisher war nach der offenen See zu keine Insel entdeckt worden, keine Linie festen Landes im Osten aufgetaucht! Sich mit einem Schiffe auf den Strand zu setzen, ist ein entsetzliches Rettungsmittel, und doch würden diese Kinder es weniger gefürchtet haben, als das Wüthen des grenzenlosen Meeres. Jedes beliebige Ufer hätten sie trotz etwaiger Untiefen, Klippen, trotz des darauf stürmenden Wogenschwalles und der Brandung, welche unaufhörlich gegen die Felsmauern donnert, als winkende Rettung begrüßt, als festes Land unter den Füßen an Stelle des Oceans, der sie jeden Augenblick zu verschlingen drohte.
Auch nach einem Lichte, auf das sie hätten zusteuern können, spähten sie vergebens . . .
Kein freundlicher Schein durchdrang das tiefe Dunkel der Nacht.
»Der Fockmast ist gebrochen!« rief Doniphan.
»Nein; nur das Segeltuch hat sich von den Saumtauen losgerissen,« erklärte der Schiffsjunge.
»Wir müssen uns desselben entledigen,« meinte Briant. »Gordon, bleib' Du mit Doniphan am Rade, und Du, Moko, hilfst mir!«
Wenn Moko als Schiffsjunge einige nautische Kenntnisse besitzen mußte, so gingen diese auch Briant nicht vollständig ab. Da er auf seiner Fahrt von Europa nach Oceanien den Atlantischen und den Stillen Ocean durchschifft, hatte er sich mit der Führung eines Schiffes einigermaßen vertraut gemacht. Das erklärt es, weshalb die anderen Knaben, welche davon gar nichts verstanden, Moko und ihm die Sorge, den Schooner zu führen, hatten überlassen müssen.
In einem Augenblicke waren Briant und der Schiffsjunge unerschrocken nach dem Vordertheil der Yacht geeilt. Um deren Drehung zu verhüten, mußten sie dieselbe von dem Focksegel befreien, dessen unterer Theil eine Art Tasche bildete und durch Abfangen des Windes den Schooner so bedenklich nach seitwärts neigte, daß dieser fast die Wellenkämme berührte. Kam es aber erst so weit, so konnte dieser sich nicht wieder aufrichten, wenn nicht der Fockmast nach Sprengung seiner metallenen Puttings gekappt wurde; wie hätten Kinder das indeß ausführen können?
Unter diesen schwierigen Umständen bewiesen Briant und Moko eine wirklich erstaunliche Geschicklichkeit. In der Absicht, an Leinwand so viel wie möglich zu behalten, um den »Sloughi« während der Dauer des Sturmes vor dem Winde zu erhalten, bemühten sie sich – und zwar mit Erfolg – das Hißtau der Raa zu lösen, welche sich nun bis auf vier bis fünf Fuß über dem Deck herabsenkte. Nach Lostrennung einzelner Fetzen des Focksegels mittels Messer, wurden dessen untere Ecken durch einige Hilfsbrassen an den Pflöcken der Schanzkleidung befestigt, wobei die zwei muthigen Knaben freilich zwanzigmal in Gefahr kamen, von Sturzseen weggespült zu werden.
Unter dieser bis aufs äußerste verminderten Segelfläche konnte dem Schooner wenigstens die Richtung gesichert werden, die er jetzt schon lange Zeit einhielt. Schon der Druck des Windes an seinem Rumpf allein genügte übrigens, ihn mit der Schnelligkeit eines Torpedobootes dahinzujagen. Das war von Wichtigkeit, weil es darauf ankam, schneller als die nachrollenden Wogen fortzutreiben, um von zu schweren Sturzseen über Hackbord frei zu bleiben.
Nach Durchführung ihrer Aufgabe kehrten Briant und Moko wieder zu Gordon und Doniphan zurück, um diese beim Steuern zu unterstützen.
Eben jetzt öffnete sich die Thür der Treppenkappe zum zweiten Male. Ein Kind steckte den Kopf heraus. Es war Jacques, der um drei Jahre jüngere Bruder Briants.
»Was willst Du, Jacques?« fragte ihn sein Bruder.
»Komm! Komm schnell!« erwiderte Jacques. »Im Salon steht Wasser!«
»Ist das möglich?« rief Briant erschreckt.
Eilenden Schrittes lief er nach der Kappe und sprang die Treppe hinunter.
Den Salon erleuchtete nur ganz nothdürftig eine Hängelampe, welche bei dem Stampfen des Schiffes heftig schwankte. Beim Scheine derselben erblickte man etwa zehn Kinder auf den Polsterbänken oder den Lagerstätten des »Sloughi.« Die kleinsten derselben – und es waren solche von acht bis neun Jahren darunter – hatten sich in ihrer Todesangst dicht an einander gedrängt.
»Es ist keine Gefahr vorhanden!« rief ihnen Briant, der sie zunächst beruhigen wollte, zu. »Wir sind ja da! Fürchtet Euch nicht!«
Darauf mit einer Signallaterne den Fußboden des Salons ableuchtend, mußte er sich überzeugen, daß eine gewisse Menge Wasser in der Yacht von einem Bord zum anderen hin und wieder fluthete.
Jetzt galt es festzustellen, woher dieses Wasser kam und ob es wohl gar durch einen Sprung in der Seitenwand eingedrungen war.
Vor dem Salon befand sich das große Zimmer und weiterhin der Speisesaal, dann die Wohnung und darüber das Wachhaus der Mannschaft.
Briant durchsuchte alle diese Räumlichkeiten und erkannte, daß das Wasser weder ober-, noch unterhalb der Schwimmlinie eingedrungen sein könne. Dasselbe war vielmehr nur durch das Aufbäumen des Vorderstevens hiehergeschleudert worden und rührte von Spritzseen her, welche, über das Vordertheil schlagend, teilweise durch die zur Mannschaftswohnung führende Treppenkappe Eingang nach dem Innern gefunden hatten. Von dieser Seite drohte also keine eigentliche Gefahr.
Briant beruhigte seine Leidensgefährten, als er wieder durch den Salon kam, und nahm auch selbst mit größter Zuversicht seinen Platz am Steuerrade wieder ein. Der sehr solid gebaute und erst unlängst frisch gekupferte Schooner zog kein Wasser und versprach auch dem Anprall der Wogen Widerstand zu leisten.
Es war jetzt ein Uhr Nachts, und während schwere Wolken die Dunkelheit noch verschlimmerten, entfesselte sich der Orcan zur schlimmsten Wuth. Die Yacht flog dahin, als wäre sie völlig in Wasser eingetaucht. Scharf drang dann und wann der Schrei eines Sturmvogels durch die Luft. Von deren Erscheinen konnte man jedoch keineswegs auf die Nähe eines Landes schließen, denn man begegnet denselben oft mehrere hundert Seemeilen von der nächsten Küste. Uebrigens außer Stande, gegen den Sturm aufzukommen, folgten die Vögel diesem vielmehr selbst ebenso wie der Schooner, dessen Schnelligkeit keine menschliche Kraft zu hemmen vermocht hätte.
Eine Stunde später hörte man an Bord wieder etwas zerreißen. Der Rest des Focksegels war in Stücken gegangen und die Leinwandfetzen flatterten gleich riesigen Möven durch die Luft davon.
»Nun haben wir kein Segel mehr,« rief Doniphan, »und ein anderes zu setzen ist ganz unmöglich.«
»Thut nichts!« antwortete Briant. »Verlass' Dich darauf, daß wir doch noch ebenso schnell vorwärts kommen.«
»Eine schöne Antwort!« erwiderte Doniphan. »Wenn das Deine Art und Weise zu manövriren ist . . .«
»Achtung auf die Wellen von rückwärts!« unterbrach ihn Moko. »Festgehalten oder wir werden weggeschwemmt . . .«
Er hatte den Satz kaum beendet, als mehrere Tonnen Wasser über das Hackbord hereinstürzten. Briant, Doniphan und Gordon wurden gegen die Treppenkappe geschleudert, wo sie sich zum Glück noch anklammern konnten. Der Schiffsjunge dagegen war verschwunden mit der Wassermasse, welche sich in brodelndem Schwall von hinten nach vorne über den »Sloughi« ergoß und dabei einen Theil des Mastwerkes, die beiden Boote und die Jolle – obwohl diese ganz hereingeholt waren – sowie mehre Schiffsbalken und das Compaßhäuschen mit fortriß. Da jedoch gleichzeitig die Schanzkleidung streckenweise zerstört war, konnte das Wasser schnell wieder abfließen, was die Yacht vor dem Untergange durch diese ungeheuere Überlastung bewahrte.
»Moko! . . . Moko!« rief Briant, sobald er wieder ein Wort sprechen konnte.
»Ist er etwa ins Meer geschleudert worden?« fragte Doniphan.
»Nein; doch man sieht und hört nichts von ihm,« erklärte Gordon, der sich über die Regling hinausgebeugt hatte.
»Wir müssen ihn retten – ihm eine Rettungsboje oder Stricke zuwerfen!« antwortete Briant.
Und mit lauter Stimme, welche während einiger ruhigerer Secunden kräftig wiederhallte, rief er noch einmal:
»Moko! . . . Moko.«
»Hierher! . . . Zu Hilfe!« erklang die Antwort des kleinen Negers.
»Er liegt nicht im Meere,« sagte Gordon. »Seine Stimme kommt vom Vordertheile des Schooners her.«
»Ich werde ihn retten!« rief Briant.
Sofort tastete er sich über das Deck hin unter steter Vorsicht, den Blöcken und Rollen auszuweichen, welche lose an den herabgelassenen Raaen hingen, und sich festklammernd, um bei den Bewegungen des Schiffes auf dem schlüpfrigen Verdeck nicht umgeworfen zu werden.
Noch einmal hörte er die Stimme des Jungen, dann war Alles still.
Mit größter Anstrengung war es Briant gelungen, die Treppenkappe des Volkslogis zu erreichen.
Er rief laut . . .
Keine Antwort.
War Moko etwa durch eine neue heftige Schiffsbewegung über Bord geschleudert worden, nachdem er den letzten Schrei ausgestoßen? In diesem Falle mußte der unglückliche Bursche schon weit von ihnen, weit hinter dem Winde treiben, denn die Wellenbewegung konnte ihn nicht mit gleicher Schnelligkeit wie der Sturm den Schooner mit fortgetragen haben; dann war er verloren . . .
Nein; eben drang wieder ein schwacher Hilferuf bis zu Briant, der nach dem Gangspill eilte, in dessen Fuß das Ende des Bugspriets eingelassen war. Hier fand er einen sich umherwindenden Körper. –
Der Schiffsjunge war es, halb eingeklemmt zwischen die an der Spitze zusammenlaufende Schanzkleidung. Ein Hißtau, das er mit aller Kraft von sich abzudrängen suchte, schnürte ihm den Hals zu. Erst zurückgehalten durch dieses Hißtau, als die gewaltige Woge ihn wegspülte, war er jetzt nahe daran, durch dasselbe erwürgt zu werden.
Briant riß sein Messer heraus, und nicht ohne Mühe gelang es ihn, das Hanftau, welches den Schiffsjungen festhielt, zu durchschneiden.
Moko wurde nach dem Hintertheile zurückgeführt.
»Danke, Herr Briant, danke!« sagte er, sobald er die Sprache wiedererlangt hatte.
Dann nahm er seinen Platz am Steuerrade wieder ein, und alle Vier banden sich fest, um gegen die Wasserberge, welche sich hinter dem »Sloughi« aufthürmten, gesichert zu sein.
Entgegen der Annahme Briants, hatte sich die Geschwindigkeit der Yacht doch etwas vermindert, seitdem vom Focksegel gar nichts mehr übrig war – und darin lag eine neue Gefahr. Die jetzt schneller als jene laufenden Wellenberge konnten über das Hintertheil hereinbrechen und sie mit Wasser anfüllen. Doch war dagegen nichts zu thun und jedenfalls an das Aufhissen eines Segels gar nicht zu denken.
Auf der südlichen Halbkugel der Erde entspricht der März dem Monat September auf der nördlichen, und die Nächte sind noch nicht zu lang. Da es jetzt um die vierte Morgenstunde war, konnte es nicht mehr lange währen, bis der Horizont im Osten, also in der Richtung, nach der der »Sloughi« getrieben wurde, sich aufhellen mußte. Vielleicht nahm die Gewalt des Sturmes mit anbrechendem Tage etwas ab. Vielleicht kam auch ein Land in Sicht und das Loos dieser Kindergesellschaft entschied sich binnen wenigen Minuten. Wir werden das erfahren, wenn das Morgenroth erst die Tiefen des Himmels färbt.
Gegen viereinhalb Uhr glitt ein schwacher Lichtschein bis zum Zenith empor. Unglücklicher Weise beschränkte der Dunst in der Luft den Gesichtskreis auf kaum eine Viertelmeile. Man fühlte es fast, daß die Wolken mit ungeheurer Schnelligkeit dahineilten. Der Orcan hatte nichts an Kraft verloren, und weit hinaus verschwand das Meer unter dem Schaume der sich überstürzenden Wogenkämme. Kam der Schooner in horizontale Lage mit diesen, so wäre er, der jetzt einmal auf dem Scheitel einer Welle tanzte und dann in das Thal derselben hinuntergestürzt wurde, wohl zwanzigmal gekentert.
Die vier Knaben betrachteten unverwandt das Chaos der durcheinander wirbelnden Fluthen. Sie ahnten wohl, daß ihre Lage, wenn das Meer sich nicht bald beruhigte, eine verzweifelte werden mußte. Nimmermehr hätte der »Sloughi« noch weitere vierundzwanzig Stunden dem Anprall der Wogen, welche zuletzt doch die Treppenkappen wegreißen mußten, Widerstand leisten können.
Da ertönte auf's neue Moko's Stimme:
»Land!« rief er jubelnd. »Land!«
Durch einen Nebelspalt glaubte der Schiffsjunge vor ihnen im Osten die Umrisse einer Küste erkannt zu haben. Täuschte er sich nicht? Es ist oft gar so schwer, die schwachen Linien eines Landes zu unterscheiden, wenn von ferne gesehen die Wolkenschichten unmittelbar darauf lagern.
»Ein Land? . . .« hatte Briant geantwortet.
»Ja,« versicherte Moko. ». . . ein Land . . . dort im Osten!«
Er wies dabei nach einem Punkte am Horizont, den jetzt schon wieder wallende Nebelmassen verhüllten.
»Bist Du Deiner Sache sicher? . . .« fragte Doniphan.
»Ja! . . . Ja! . . . Ganz sicher,« behauptete der kleine Neger. »Wenn der Nebel wieder einmal zerreißt, so seht nur scharf dorthin, etwas nach rechts vom Fockmast . . . da . . . Achtung . . . da unten! . . .«
Die sich eben öffnenden Nebelmassen lösten sich allmählich von der Meeresfläche, um nach höheren Zonen aufzusteigen. Einige Augenblicke später war der Ocean auf die Strecke von mehreren Seemeilen vor der Yacht klar zu übersehen.
»Ja . . . Land! . . . Das ist Land! . . .« rief Briant.
»Und ein sehr niedriges Land!« setzte Gordon hinzu, der die gemeldete Küste schärfer ins Auge gefaßt hatte.
Jetzt konnte kein Zweifel mehr aufkommen. Auf einer breiten Strecke des Horizontes zeichnete sich Land, ein Continent oder eine Insel, in deutlicher Linie ab. Dasselbe mochte fünf bis sechs Seemeilen von hier entfernt sein. Bei der Richtung, der er folgte und aus der abzuweichen der Sturm ihm gar nicht erlaubte, mußte der »Sloughi« binnen einer Stunde unbedingt auf dasselbe geworfen werden. Dabei war freilich zu befürchten, daß er zertrümmert wurde, vorzüglich wenn ihn Klippen aufhielten, bevor er den eigentlichen Strand erreichte. Hieran dachten die Knaben jedoch gar nicht. In dem Lande, welches so unerwartet sich ihren Blicken darbot, sahen sie nur das Heil, die winkende Rettung.
In diesem Augenblick begann der Wind wieder stärker zu wehen. Wie eine Feder davongetragen, stürmte der »Sloughi« auf die Küste zu, welche sich scharf wie ein Tintenstrich vom weißlichen Grunde des Himmels abhob. Hinter dem Strande erhob sich nämlich ein höheres Uferland, das aber nicht mehr als hundertfünfzig bis zweihundert Fuß aufsteigen mochte. Vor ihm dehnte sich ein gelblicher Strand aus, zur Rechten eingerahmt von abgerundeten Massen, welche einen Wald im Innern anzugehören schienen.
O, wenn der »Sloughi« dieses sandige Vorland erreichen konnte, ohne auf eine Klippenreihe zu stoßen, wenn die Mündung eines Flusses ihm Zuflucht bot – dann, ja, dann konnten seine jungen Passagiere noch heil und gesund davonkommen!
Während Doniphan, Gordon und Moko am Steuer blieben, hatte Briant sich nach dem Vorderdeck begeben und betrachtete das sich sichtlich nähernde Land; so schnell schossen sie dahin. Vergebens suchte er aber eine Stelle, wo die Yacht hätte unter günstigen Bedingungen anlaufen können. Hier zeigte sich weder die Mündung eines Flusses oder Baches, noch selbst ein flach ins Meer abfallender sandiger Strand, auf dem man mit einem Stoße festfahren konnte. Vor dem Strande hin nämlich streckte sich eine Reihe von Klippen, deren schwärzliche Häupter bei den auf und ab schwankenden Wogen auftauchten und wieder verschwanden und an welchen das Wasser fortwährend schäumend brandete. Hier mußte der »Sloughi« beim ersten Stoß in Stücken gehen.
Briant sagte sich da, daß es besser sei, im Augenblicke der Strandung alle seine Kameraden auf dem Deck zu haben. Er öffnete also die Thür der Kappe und rief hinunter:
»Alle, alle herauf!«
Sofort kam ein Hund herausgesprungen und ihm folgten zehn Kinder, die sich nach dem Hintertheile der Yacht drängten. Die kleinsten stießen beim Anblick der bergehohen Wellen ein entsetzliches Angstgeschrei aus.
Kurz vor sechs Uhr Morgens war der »Sloughi« bis an den Rand des Klippengürtels herangekommen.
»Jetzt festhalten!« rief Briant. »Tüchtig festhalten!«
Die Kleider halb abgelegt, hielt er sich bereit, denen zu Hilfe zu springen, welche der Wogenschlag etwa fortriß, denn sicherlich wurde die Yacht über die Klippen hin gewälzt.
Da machte sich ein erster Stoß fühlbar. Der »Sloughi« stampfte mit seinem Hintertheile auf einen Felsen, aber trotz der gewaltigen Erschütterung des ganzen Schiffsrumpfes drang doch kein Wasser durch dessen Plankenwand.
Von einer zweiten Welle gehoben, wurde er gegen fünfzig Fuß weiter getragen, diesmal ohne die Klippen zu streifen, welche an unzähligen Stellen emporstarrten. Endlich blieb er, nach Backbord geneigt, inmitten der kochenden Brandung liegen.
Wenn auch nicht im offenen Meere, so befand er sich doch noch eine Viertelseemeile vom Strande entfernt.