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Am 11. Mai um acht Uhr morgens hatte der Commodore Urrican erfahren, wie viel Augen bei dem ihn angehenden sechsten Würfeln gefallen waren, und fünfundzwanzig Minuten nach neun Uhr dampfte er schon von Chicago ab.
Er hatte, wie man sieht, keine Zeit verloren und durfte auch keine verlieren wegen der Verpflichtung, sich nach Verlauf von vierzehn Tagen am südlichsten Ende der Halbinsel von Florida zu befinden.
Neun durch vier und fünf Augen – einer der besten Würfe der Spielpartie! Mit einem Sprunge wurde der glückliche Spieler dadurch nach dem dreiundfünfzigsten Felde versetzt. Freilich war es nach der von William J. Hypperbone beliebten Eintheilung der Landkarte der Staat Florida, der für jenes Feld galt, derjenige Staat, der in der Nordamerikanischen Republik am weitesten im Südosten lag.
Die Freunde Hodge Urrican's – richtiger seine Parteigänger, denn Freunde hatte er eigentlich nicht, wenn auch gewisse Leute grade auf den Sieg eines so schlecht beleumundeten Mannes hofften – wollten ihn beim Verlassen des Auditoriums beglückwünschen.
»Aber ich bitte Sie, warum denn?« antwortete er in dem mürrischen Tone, der der Unterhaltung mit ihm einen so eignen Reiz verlieh. »Warum wollen Sie mich mit Ihren Glückwünschen belasten, während ich erst im Abreisen bin? Das wird für mich nur eine Gepäcküberfracht zur Folge haben!«
»Commodore,« wendete einer der Anwesenden ein, »fünf und vier ist ein vortrefflicher Anfang . . .«
»Ein vortrefflicher . . . freilich . . . vor allem für Leute, die grade in Florida etwas zu thun haben!«
»Bedenken Sie, Commodore, daß Sie über alle Ihre Mitbewerber sofort einen großen Vorsprung gewinnen.«
»Ich denke, das ist auch nicht mehr als recht und billig, da ich erst als letzter abreisen kann.«
»Ja, doch von dem Ihnen zugewiesenen Felde, Herr Urrican, brauchen Sie nur noch beim Würfeln zehn Augen zu erhalten, um das Endziel zu erreichen, und damit hätten Sie die Partie mit zwei Schlägen entschieden.«
»Ja freilich, meine Herren! . . . Doch wenn ich neun Augen erhielte, wäre das auf dem nächstfolgenden Wurf schon unmöglich, und wären es mehr als zehn, so müßte ich sogar – wer weiß, wie weit? – wieder zurückgehen.«
»Immerhin, Commodore, jeder andre würde an Ihrer Stelle sehr zufrieden sein.«
»Wohl möglich . . . ich bin es aber nicht!«
»Bedenken Sie doch . . . vielleicht winken Ihnen sechzig Millionen Dollars bei Ihrer Rückkehr!«
»Die hätt' ich ebensogut eingesackt, wenn das dreiundfünfzigste Feld ein dem unsern benachbarter Staat gewesen wäre!«
Das war ja gewiß richtig, doch hatte Urrican, obwohl er es nicht zugeben wollte, den fünf andern Partnern gegenüber einen entschiedenen Vorsprung. Von diesen konnte unbedingt keiner das letzte Feld durch den nächsten Wurf erreichen, was dem Commodore doch durch zehn Augen möglich war.
Hodge Urrican verschloß sein Ohr nun einmal vor der Stimme der Vernunft, und selbst wenn er nach einem der Nachbarstaaten von Illinois, nach Indiana oder Missouri, gewiesen worden wäre, hätte er auf jene Stimme doch nicht gehört.
Murrend und heimlich wetternd war der Commodore Urrican nach seinem Hause in der Randolph Street zurückgekehrt. Turk, der natürlich mit ihm ging, machte seinem Groll in so heftigen Ausfällen Luft, daß sein Herr ihm Schweigen gebieten mußte.
Sein Herr? . . . Hodge Urrican war also Turk's Herr, obgleich Amerika einestheils die Aufhebung der Sclaverei verkündigt hatte, und anderntheils Turk trotz seines sonnengebräunten Gesichts doch nicht als Neger gelten konnte?
War dieser also ein Diener des alten Seebären? . . . Ja und nein.
Erstens bezog Turk, wenn er auch in Diensten beim Commodore stand, keinerlei Gehalt oder Lohn. Wenn er Geld brauchte – das war immer nur wenig – so verlangte er solches, und es wurde ihm gegeben. Man hätte ihn eher einen »Gesellschafter« nennen können, wie man ähnlich von derartigen Damen im Gefolge von Fürstinnen spricht. Die gesellschaftliche Kluft, die Hodge Urrican und Turk trennte, gestattete es indeß nicht, letzteren als Standesgenossen seines Herrn anzusehen.
Turk – sein richtiger Name – war ein früherer Seemann von der Bundesmarine, der immer, als Schiffsjunge, Leicht- und Vollmatrose und als Bootsmann, also von unten auf, in staatlichem Dienste gefahren war. Stets befand er sich dabei, was hier betont werden mag, auf denselben Schiffen wie Hodge Urrican, der im Laufe der Zeit Cadet, Officier, Capitän und schließlich Commodore wurde. Beide kannten sich also gründlich, und Turk war so ziemlich der einzige Mensch, mit dem der hitzköpfige Offizier sich noch leidlich vertragen konnte. Das erklärt sich vielleicht dadurch, daß jener noch aufbrausender war, als dieser, dessen Streitigkeiten er zu den seinigen machte, und daß er stets bereit war, denen übel mitzuspielen, die nicht das Glück hatten, ihm zu gefallen.
Bei den verschiedensten Fahrten befand sich Turk häufig in persönlicher Dienstleistung bei Hodge Urrican, der seine Eigenschaften zu schätzen wußte und dem er endlich unentbehrlich geworden war. Als der Commodore dann das Alter erreicht hatte, wo er aus dem activen Dienste scheiden mußte, ging auch Turk, dessen Capitulationszeit abgelaufen war, von der Marine ab, begab sich zu seinem früheren Vorgesetzten und trat unter den uns bekannten Verhältnissen in dessen Dienste. Jetzt versah er schon seit drei Jahren in dem Hause der Randolph Street den Posten eines Verwalters, der nichts zu verwalten hatte, oder also etwa den eines Ehren-Aufsehers.
Bisher sagten wir noch nicht – und keiner möchte das vermuthet haben – daß Turk eigentlich der sanftmüthigste, rücksichtsvollste und friedliebendste Mensch war, mit dem sich jedermann leicht vertragen konnte. Schon an Bord war er jedem Streite abhold, betheiligte sich nie an den Raufereien zwischen den Matrosen und erhob nie die Hand gegen irgend jemand, selbst wenn er seine Gläschen Whisky oder Gin, ohne sie ängstlich zu zählen, genossen hatte, und hielt sich immer stramm wie eine gut segelnde Fregatte mit sechzig Geschützen.
Es könnte deshalb auffallend erscheinen, daß er, ein so ruhiger, friedfertiger Mann, den ärgsten Hitzkopf der Welt jetzt an Heftigkeit übertraf oder diesen doch zu übertreffen sich den Anschein gab.
Turk bewahrte aber einmal für den Commodore trotz dessen Ungeselligkeit eine aufrichtige Zuneigung. Er glich sozusagen einem der getreuen Hunde, die nur noch wüthender bellen, wenn ihr Herr auf jemand böse wird. Wenn der Hund dabei aber nur seiner Natur gehorcht, so verleugnete Turk die seine vollständig, und doch hatte die Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit noch lauter und ingrimmiger als Hodge Urrican aufzutreten, der Sanftmuth seines Charakters keinen Eintrag gethan. Sein Zorn war nur Blendwerk, er spielte eine Rolle, freilich ganz vortrefflich, denn er hatte sich mit der Zeit in diese völlig eingelebt.
Er that also alles rein aus Liebe zu seinem Herrn und in der Absicht, diesen zu zähmen, indem er ihn überbot, und durch die Folgen, die sein – Turk's – Jähzorn haben könnte, zu erschrecken. Bemühte sich Hodge Urrican nämlich, Turk zu besänftigen, so wurde er schließlich selbst dadurch ruhiger. Sprach der eine davon, einem, dem er übel wollte, tüchtig die Wahrheit zu sagen, so war der andre schon bereit, den Betreffenden zu ohrfeigen, und ihn todt auf dem Platze zu lassen, wenn der Commodore diesen blos mit einer Ohrfeige bedrohte. Dann bemühte sich der Commodore, Turk Vernunft beizubringen, und auf diese Weise verhinderte der brave Diener oft Auftritte, die für seinen Herrn nicht ohne Nachtheil abgelaufen wären.
Und als Hodge Urrican bei der letzten Gelegenheit, als er nach Florida geschickt wurde, den Notar verklagen wollte, als ob der Meister Tornbrock diesen Ausfall des Würfelns verschuldete, behauptete Turk mit lauter Stimme, daß der elende Actenwurm betrogen habe, und schwur darauf, daß er ihm beide Ohren abreißen und seinem Herrn daraus ein Sträußchen binden werde.
Solcher Art war also – geschickt genug, niemals sein Spiel durchschauen zu lassen – der originelle Kauz, der am heutigen Morgen den Commodore Urrican nach dem Centralbahnhofe von Chicago begleitete.
Der Abfahrt des sechsten Partners wohnte, wie bereits erwähnt, eine ansehnliche Menge bei, und wenn sich darunter auch keine Freunde des Reisenden befanden, so waren es doch Leute, die es wagten, ihr Geld auf seinen Kopf zu riskieren. Durften sie nicht hoffen, daß ein so gewalthätiger Charakter nicht auch fähig wäre, die Glücksgöttin seinem Willen zu beugen?
Fragte man nun nach dem Reisewege, den der Commodore gewählt hätte, so lautete die Antwort, daß das natürlich der kürzeste und der war, der am wenigsten Verzögerungen befürchten ließ.
»Jetzt höre, Turk,« hatte er bei der Rückkehr in das Haus in der Randolph Street gesagt, »höre und mach' die Augen auf!«
»Ich höre und sehe, Herr Urrican.«
»Was ich Dir hier vorlege, ist die Karte der Vereinigten Staaten . . .«
»Richtig . . . die Karte der Vereinigten Staaten.«
»Jawohl . . . hier ist Illinois mit Chicago darin . . . da ist Florida . . .«
»O, ich weiß schon,« antwortete Turk, der ein leises Knurren hören ließ. »Seiner Zeit sind wir dort viel umhergefahren und haben dabei manchen Strauß bestanden, Herr Commodore!«
»Du begreifst, Turk: Handelte es sich nur darum, nach Thallahassee, dem Regierungssitz Floridas, oder nach Pensacola, selbst nach Jacksonville zu gehen, so wäre das leicht und schnell auszuführen, wenn wir die richtigen, aneinander anschließenden Bahnzüge wählten . . .«
»Leicht genug und schnell auszuführen,« wiederholte Turk.
»Wenn ich mir da vorstelle,« fuhr der Commodore fort, »daß Lissy Wag, das alberne Ding, nur von Chicago nach Milwaukee zu fahren brauchte . . .«
»Die Elende!« knurrte Turk.
»Und daß dieser Hypperbone . . .«
»O, wenn der nicht todt wäre, Commodore!« rief Turk, der mit der Faust umherfuchtelte, als wollte er dem unseligen Verstorbenen den Gnadenstoß versetzen.
»Beruhige Dich, Turk, er ist nun einmal todt! Warum ist er aber auf den verrückten Gedanken gekommen, von ganz Florida den entlegensten Punkt zu wählen, das Schwanzende der Halbinsel, die in den Mexikanischen Golf eintaucht?«
»Ein Schwanzende, mit dem er bis aufs Blut geprügelt zu werden verdiente!« erklärte Turk.
»Ja, wir müssen unsern Reisesack bis nach Key West, nach dem zu den Pine Islands gehörigen Eilande schleppen! Ein Eiland, sogar nur ein elender »Knochen«, wie die Spanier sagen, höchstens gut genug, einen Leuchtthurm zu tragen – und doch ist darauf eine Stadt entstanden . . .«
»Schlechtes Fahrwasser dort, Herr Commodore,« antwortete Turk, »und was den Leuchtthurm angeht, so haben wir den oft genug gepeilt, ehe wir in die Straße von Florida einliefen.«
»Nun also,« fuhr Hodge Urrican fort, »ich meine, es wird das Beste, das Kürzeste und auch das Sicherste sein, die erste Hälfte der Reise zu Lande und die zweite zur See zurückzulegen . . . das heißt, neunhundert Meilen (1448 Kilometer) bis Mobile und von da aus fünf- bis sechshundert (800 bis 960 Kilometer) bis Key West.«
Turk erhob keinen Einspruch, der auch bei diesem verständig entworfenen Plane nicht angebracht gewesen wäre. Binnen sechsunddreißig Stunden konnte Hodge Urrican mittelst Schnellzugs in Mobile sein, und dann blieben ihm noch reichlich zwölf Tage für die Ueberfahrt nach Key West übrig.
»Und wenn wir da nicht ankämen,« erklärte der Commodore, »müßten die Schiffe überhaupt nicht mehr auf dem Wasser schwimmen . . .«
»Oder das Meer müßte kein Wasser mehr haben!« antwortete Turk mit einem für den Mexikanischen Meerbusen höchst bedrohlichen Tone.
Natürlich waren diese beiden Möglichkeiten kaum zu befürchten.
Von der Frage, in Mobile ein zur Abfahrt nach Florida segelfertiges Schiff anzutreffen, war gar nicht die Rede. Im dortigen Hafen herrscht ein reger Verkehr durch viele ein- und auslaufende Schiffe, und andrerseits ist Key West, dank seiner Lage zwischen dem Golf von Mexiko und dem Atlantischen Ocean, gleichsam eine Station für alle jene Fahrzeuge.
Dieser Reiseweg fiel zum Theile mit dem Tom Crabbe's zusammen. War der Champion der Neuen Welt im Becken des Mississippi bis New Orleans im Staate Louisiana hinunter gefahren, so sollte der Commodore diesem bis Mobile im Staate Alabama folgen. In dem betreffenden Hafen angelangt, war dann der erstere in westlicher Richtung nach der Küste von Texas gesegelt, während der letztere sich in östlicher Richtung nach der Küste von Florida zu begeben hatte.
Mit einem sehr großen Koffer belastet, hatten sich Hodge Urrican und Turk also um neun Uhr morgens nach dem Bahnhofe begeben. Ihre Reisekleidung – Matrosenkittel, Gürtel, Schuhe und Mütze – verrieth noch die ehemaligen Seeleute. Außerdem war jeder mit einem sechsschüssigen Derringer-Revolver ausgerüstet, der in einer besondern Beinkleidtasche des echten Amerikaners niemals fehlt.
Uebrigens vollzog sich ihre Abfahrt in üblicher Weise unter den Hurrahrufen der Anwesenden, nur gestört durch einen lebhaften Wortwechsel zwischen dem Bahnhofsvorsteher und dem Commodore, der sich wegen einer Verzögerung des Zugsabgangs um dreiundeinehalbe Minute bitter beklagte.
Dann flog die Waggonschlange mit Windeseile dahin und führte die Passagiere schnell durch den südlichen Theil von Illinois. Von Kairo, fast an der Grenze von Tennessee, aus hatte Tom Crabbe dann die nach New Orleans führende Linie benutzt, während der sechste Partner und sein Begleiter auf die übergingen, die der Grenze von Mississippi und Alabama folgt und in Mobile endigt. Die bedeutendste Stadt, die sie dabei berührten, war Jackson in Tennessee, das nicht mit den gleichnamigen Städten in den Staaten Mississippi, Ohio, Kalifornien und Michigan zu verwechseln ist. Jenseits der Station State Line überschritt hierauf der Zug am Nachmittag des 12. die Grenze von Alabama, etwa hundert Meilen (160 Kilometer) von seinem Endziele.
Der Leser kann sich ja denken, daß der Commodore Urrican nicht reiste, um zu reisen, sondern um in kürzester Frist und wenigstens zum bestimmten Zeitpunkte an dem ihm vorgeschriebenen Platze einzutreffen. Jede Anwandlung, die einen Touristen unterwegs aufhält, war ihm also fremd. Die Merkwürdigkeiten des Landes, die sich bietenden Aussichten, die Dörfer, Städte und alles dergleichen, hatten für einen alten Seebären auch wirklich keinen Reiz – und mit Turk lag das nicht anders.
Um zehn Uhr abends hielt der Zug im Bahnhof von Mobile; er hatte die lange Strecke ohne den geringsten Unfall zurückgelegt. Es verdient hier hervorgehoben zu werden, daß Hodge Urrican auch nicht ein einzigesmal Gelegenheit gefunden hatte, auf die Maschinenführer, die Heizer, die Conducteure oder sonstige Bahnbeamte, ja nicht einmal auf seine Reisegenossen zu schelten.
Uebrigens verheimlichte er gar nicht, wer er wäre, und der ganze Zug wußte, daß er in der aufbrausenden Persönlichkeit den sechsten Partner des Match Hypperbone beförderte.
Der Commodore ließ sich nach einem nahe dem Hafen gelegenen Hotel führen. Heute war es zu spät, nach einem Schiffe Umschau zuhalten. Morgen wollten Hodge Urrican mit Tagesanbruch sein Zimmer und Turk das seinige verlassen, und wenn sich ein Schiff fand, das zur Abfahrt nach der Straße von Florida fertig war, wollten sie noch am nämlichen Tage weiterreisen.
Beim Sonnenaufgang am nächsten Tage trotteten beide zusammen schon über die Quais von Mobile.
Montgomery ist die officielle Hauptstadt von Alabama, des Staates, der seinen Namen dem gleichnamigen Strome entlehnt hat. Er zerfällt in zwei Gebiete, ein gebirgiges, wo die letzten Verzweigungen der Appalachenberge nach Südwesten zu auslaufen, und eines mit weiten Ebenen, das im südlichen Theile viele Sümpfe aufweist. Früher betrieben die Bewohner hier fast ausschließlich den Anbau von Baumwolle; jetzt werden, dank den bequemen Verkehrswegen, auch viele Kohlen- und Eisengruben ausgebeutet.
Doch weder Montgomery noch Birmingham, eine gewerbfleißige Stadt im Innern, können einen Vergleich mit dem zweiunddreißigtausend Einwohner zählenden Mobile aushalten. Dieses erhebt sich auf einer Terrasse im Hintergrunde der für Seeschiffe jederzeit bequem zugänglichen Bai, nach der es den Namen angenommen hat. Die Stadt selbst mit ihren niedrigen, im Handelsviertel besonders dicht stehenden Häusern erscheint selbst bezüglich ihrer Einrichtungen für die Schifffahrt, für ihre Ausfuhr von Cigarren, Baumwolle und Gemüsen, etwas beengt. Sie hat aber Vorstädte, die sich weitläufig zwischen üppigem Grün ausdehnen.
Der Commodore Urrican hatte nicht ohne Grund angenommen, daß es ihm an Gelegenheit, zur See nach Key West zu gelangen, hier gar nicht mangeln könne. Im Hafen von Mobile laufen ja jährlich wenigstens fünfhundert Schiffe ein.
Es giebt aber Menschen, die das Verhängniß nirgends schont, die ihrem schlimmen Geschick niemals entgehen können, und diesmal hatte Hodge Urrican alle Ursache, in hellem Zorn aufzulodern.
In Mobile herrschte bei seiner Ankunft grade ein Ausstand, ein allgemeiner Ausstand der Hafenarbeiter, der am Tage vorher ausgebrochen war und wenigstens mehrere Tage anzudauern drohte. Von den zum Auslaufen daliegenden Schiffen konnte keines in See gehen, ehe nicht eine Verständigung mit den Rhedern erzielt war, und diese zeigten sich fest entschlossen, die Forderungen der Ausständigen abzuweisen.
So wartete denn der Commodore am 13., 14. und 15. Mai vergeblich, daß ein Schiff seine Ladung beendigt hätte und abfahren könnte. Die Frachtstücke lagerten auf den Quais, die Kesselfeuer waren gelöscht, die Baumwollenballen füllten die Docks, kurz, die Schifffahrt hätte nicht schlimmer gehemmt sein können, wenn die Bai von Mobile plötzlich fest zugefroren wäre. Dieser abnorme Zustand konnte die ganze Woche, vielleicht noch länger anhalten . . . Was war nun zu thun?
Die Parteigänger des Commodore Urrican riethen ihm sehr vernünftigerweise, sich nach Pensacola, einer der wichtigsten Städte des an Alabama grenzenden Staates Florida zu begeben. Fuhr er mit dem Schnellzuge nach der Nordgrenze von Alabama zurück und von da wieder hinunter nach der Küste, so konnte er Pensacola in etwa zwölf Stunden erreichen.
Hodge Urrican – die eine gute Seite mußte man ihm lassen – war ein Mann des schnellen Entschlusses, der keiner langen Ueberlegung bedurfte und dann kein Schwanken kannte. Am Morgen des 16. bestieg er also mit Türk aufs neue die Bahn und kam am Abend in Pensacola an.
Noch blieben ihm neun Tage, mehr Zeit, als es bedurfte, sogar mit einem Segelschiffe von Pensacola nach Key West überzufahren.
Florida, eine in den Golf von Mexiko vorspringende Halbinsel, mißt etwa vierhundert Meilen (644 Kilometer) in der Breite und dreihundertfünfzig Meilen (564 Kilometer) in der Länge. Diese größte Breite findet sich im nördlichen Theile am Fuße der Halbinsel, wo diese dicht unterhalb Alabamas und Georgias bis zum Atlantischen Ocean reicht. Wenn Thallahassee die Hauptstadt, der Sitz der Regierung ist, so hält Pensacola wieder Jacksonville, der bedeutendsten Stadt, so ziemlich die Wage. Durch ein Netz von Schienenwegen mit dem Innern der Union verbunden, ist Pensacola mit seinen zwölftausend Einwohnern in erfreulichstem Aufschwunge begriffen, von größter Bedeutung für den nach einer Fahrgelegenheit spähenden Commodore Urrican war es aber, daß hier im Jahre gegen zwölfhundert Seeschiffe verkehren.
Dennoch verfolgte ihn das Unglück weiter. Ein Ausstand herrschte zwar in Pensacola nicht, dafür war aber kein einziges Schiff segelfertig, den Hafen – wenigstens nach Südosten hin – weder nach den Antillen noch nach dem Atlantischen Ocean zu verlassen und folglich war auch an ein Anlaufen Key Wests nicht zu denken.
»Nein,« murrte Hodge Urrican, die Lippen zusammenbeißend, »nein, entschieden, das geht so nicht weiter!«
»Und da ist keiner, den man dafür am Kragen nehmen könnte,« antwortete sein Begleiter, der sich wüthend rings umsah.
»Wir können aber unmöglich hier eine Woche vor Anker liegen!«
»Nein, wir müssen um jeden Preis absegeln, Herr Commodore!« erklärte Turk.
Ja, das war wohl richtig, doch wie war von Pensacola nach Key West zu kommen?
Hodge Urrican verlor keine Minute; er ging von Schiff zu Schiff, von Dampfer zu Segler, erhielt aber immer nur unbestimmte Versprechungen . . . Man werde ja abfahren . . . doch die Zeit, die Waaren einzuladen . . . alles regelrecht zu verstauen . . . u. s. w., also keine bestimmte Zusage, trotz des hohen Preises, den der Commodore für die Ueberfahrt bot. Da konnte er sich nicht enthalten, den verwünschten Schiffern und sogar dem Hafencapitän – wie man sagt – den Kopf zurecht zu stutzen, selbst auf die Gefahr hin, hier regelrecht hinter geschlossene Thüren zu kommen.
Kurz, es verliefen zwei Tage, bis zum Abend des 18., und jetzt blieb nur noch übrig, zu Lande zu versuchen, was sich zu Wasser nicht ausführen ließ. Doch welche Beschwerden – die mochten wohl noch angehen – welche Verzögerungen waren da zu fürchten!
Man stelle sich die Verhältnisse nur richtig vor. Erst galt es, Florida, natürlich mittelst Bahnzugs, fast in seiner ganzen Breite in westöstlicher Richtung über Tallahassee bis nach Live-Oak zu durchmessen, darauf wieder nach Süden zu fahren, um Tampa oder Punta Gorda mit Meerbusen von Mexiko zu erreichen, das heißt, etwa sechshundert Meilen (1000 Kilometer) mit Zügen zurückzulegen, die nicht einmal überall sofortigen Anschluß haben. Und das mochte noch angegangen sein, wenn die Bahnlinien nur bis zum südlichsten Punkte der Halbinsel hinuntergereicht hätten. Das war aber auch nicht der Fall. Fand sich dann kein segelfertiges Fahrzeug vor, so blieb noch eine lange Strecke übrig, die unter den mißlichsten Umständen überwunden werden mußte.
Dieser Theil von Florida, den die Gewässer des Golfs von Cedar West aus bespülen, ist eine traurige, kaum bewohnbare und wenig bewohnte Gegend. Es war sehr fraglich, ob hier Beförderungsmittel, Post- oder Karrenwagen oder wenigstens Pferde zu beschaffen sein würden, mit denen man in einigen Tagen bis zur Südspitze des Landes gelangen könnte. Doch vorausgesetzt auch, daß solche für theuern Preis zu erhalten waren, wie langsam, mühsam und selbst gefährlich mußte die Fahrt vorwärts gehen inmitten der grenzenlosen Urwälder, unter dem dichten Dache der düstern Cypressenhaine, die oft undurchdringlich und von dem stagnierenden Wasser der Bayous halb überschwemmt sind, durch die schwankenden Prairien mit Pistiagräsern, wo einem der Boden unter den Füßen zu schwinden scheint, durch die Dickichte riesiger Champignons, die bei jeder Berührung wie Feuerwerkskörper knallen, und durch das Labyrinth sumpfiger Strecken und kleiner Süßwasserseen, worin es von Alligatoren und Lamantins wimmelt und worin die furchtbarsten Vertreter der Familie der Schlangen, jene Trigonocephalen Hausen, deren Biß stets tödlich ist! Das ist das schreckliche Gebiet der Evergladen, nach dem sich die letzten Stämme der schönen, aber wilden Seminolen geflüchtet haben, die einst unter ihrem Häuptling Oiseola so unerschrocken gegen die Streitkräfte der Union kämpften. Nur diese Eingebornen vermögen hier genug zu finden, um in dem heißen und feuchten Klima zu leben oder doch zu vegetieren, einem Klima, das der Entwickelung von Sumpffiebern so günstig ist, die binnen wenigen Stunden die kräftigsten Menschen hinstrecken – und wären es selbst Commodore von dem Schlage eines Hodge Urrican!
Ja, wäre dieser Theil Floridas zu vergleichen gewesen mit dem, der sich im Osten bis zum neunundzwanzigsten Breitegrade hinzieht, hätte es sich nur darum gehandelt, von Fernandina nach Jacksonville und nach St. Augustin zu gehen, wo es weder an Flecken und Dörfern, noch an Verkehrswegen fehlt. Aber von Punta Gorda bis zum Cap Salle hinunterzuziehen . . .
Jetzt war der 19. Mai herangekommen, nur sechs volle Tage waren noch übrig. Daran, diesen Landweg einzuschlagen, konnte gar nicht gedacht werden.
An diesem Morgen wurde da der Commodore Urrican von einem jener halb amerikanischen, halb spanischen Schiffer angesprochen, die die Küstenfahrt längs der Halbinsel Florida betreiben.
Dieser Schiffer, namens Huelcar, legte, als er zu sprechen begann, die Hand an die Mütze.
»Nun, Herr Commodore, noch immer kein Schiff nach dem Süden Floridas? . . .«
»Nein,« antwortete Hodge Urrican, »wenn Sie eins wissen, erhalten Sie zehn Piaster als Belohnung.«
»Ich weiß eins.«
»Welches?«
»Mein eignes.«
»Ihr kleines Fahrzeug?«
»Ja, die ›Chicola‹, eine hübsche Goelette von fünfundvierzig Tonnen, die bei günstigem Winde ihre neun Knoten läuft und . . .«
»Ist es ein amerikanisches Schiff?«
»Gewiß!«
»Und bereit abzufahren?«
»Sofort bereit, wenn Sie es befehlen,« antwortete Huelcar.
Etwa fünfhundert Meilen (800 Kilometer) von Pensacola nach Key West – freilich in grader Linie – bei einer mittleren Geschwindigkeit von nur fünf Knoten, da man Umwege oder ungünstige Winde in Anschlag bringen mußte, die ließen sich ja in sechs Tagen recht gut zurücklegen.
Zehn Minuten später befanden sich Hodge Urrican und Turk schon an Bord der »Chicola«, die sie mit Kennerblicken musterten. Es war ein kleiner, flach gehender Küstenfahrer, eigentlich nur bestimmt, zwischen den Untiefen in der Nähe des Landes hinzusegeln, aber doch mit hinreichend breitem Rumpfe, um eine ziemlich große Segelfläche führen zu können.
Zwei Männer wie der Kommodore und der alte Bootsmann waren nicht die Leute dazu, sich vor den Gefahren des Meeres zu fürchten. Ueberdies hatte der Schiffer Huelcar diese Gewässer mit seiner Goelette befahren, war vielfach von Mobile durch die Straße von Florida nach den Bahamainseln gesegelt und hatte häufig in Key West angelegt.
»Wieviel verlangen Sie für die Ueberfahrt?« fragte der Commodore.
»Für den Tag je hundert Piaster.«
»Mit Verpflegung? . . .«
»Ja, natürlich!«
Das war immerhin theuer; Huelcar wußte die Sachlage auszunutzen.
»Wir fahren sofort ab,« befahl der Commodore.
»Sobald Ihr Koffer an Bord ist.«
»Wann tritt die Ebbe ein?«
»Eben jetzt; in einer Stunde sind wir auf offener See.«
Sich auf der »Chicola« einzuschiffen, war das einzige Mittel, nach Key West zu gelangen, wo der sechste Partner spätestens am Vormittage des 25. eingetroffen sein mußte.
Um acht Uhr schiffte sich Hodge Urrican nach Begleichung der Hotelrechnung schon ein. Fünfzig Minuten später glitt die Goelette aus der Bai hinaus, und zwar zwischen den Forts Mac Rae und Pickens, die einst von Spaniern und Franzosen errichtet worden waren. Von hier aus steuerte sie aufs hohe Meer hinaus.