Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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I. Eine ganze Stadt in freudiger Erregung

Ein Fremder, der am Morgen des 3. April 1897 in der Hauptstadt von Illinois angekommen wäre, hätte sich mit Recht als einen Günstling des Gottes der Reisenden betrachten können. An diesem Tage hätte sich sein Taschenbuch gewiß mit merkwürdigen Notizen gefüllt, die Stoff für Aufsehen erregende Zeitungsartikel geliefert hätten. Und wäre er schon einige Wochen vorher in Chicago gewesen und noch einige Monate nachher da geblieben, so wäre er zweifellos von der Aufregung, der inneren Unruhe, von dem Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung, von den fieberhaften Anfällen wie von der Bestürzung in der großen Stadt, die sozusagen ganz aus Rand und Band gerathen war, auch selbst mit angesteckt worden.

Von acht Uhr morgens an wälzte sich eine ungeheure, immer zunehmende Menschenmenge in der Richtung nach dem zweiundzwanzigsten Quartiere hin. Eins der reichsten, liegt es im Verlaufe der Breitengrade zwischen der North Avenue und der Division Street, in dem der Längengrade zwischen North Halsted Street und Lake Shore Drive am Ufer des Michigansees. Bekanntlich werden die Straßen der modernen Städte in den Vereinigten Staaten meist in der Richtung der Längen- und Breitengrade angelegt, und die Städte erhalten dadurch die Regelmäßigkeit eines Schachbretts.

»Oho!« rief ein städtischer Polizist, der seinem Dienste an der Beethoven Street und der North Wells Street oblag, »will denn die ganze Stadtbevölkerung jenes Quartier überfallen?«

Der Polizist war ein hochgewachsener Mann und, wie die meisten seiner Berufsgenossen, irischer Herkunft. Diese Leute sind übrigens tüchtige Wächter der Ordnung, wenn sie auch den größten Theil eines Gehalts von tausend Dollars zur Stillung ihres unlöschbaren, bei Eingebornen der Grünen Erinsinsel ja ganz natürlichen Durstes aufwenden.

»Das wird ein einträglicher Tag für die Taschendiebe!« antwortete einer seiner Kameraden – ein ebenso großer, ebenso ewig durstiger, echter Irländer wie er.

»Na,« meinte der erste, »da mag nur jeder seine Taschen hübsch selbst zuhalten, wenn er sie bei der Rückkehr nach Hause nicht geleert sehen will; wir können doch nicht Alle hüten . . .«

»Und heute,« fuhr der zweite fort, »wird es, denk' ich, ohnehin schon genug damit zu thun geben, daß wir den Damen zum Überschreiten der Fahrbahnen den Arm bieten!«

»Ich wette doch auf ein Hundert Ueberfahrene!« setzte sein Kamerad hinzu.

Glücklicherweise hat man in Amerika die vortreffliche Gewohnheit, sich selbst zu schützen und nicht erst Hilfe von den Behörden zu erwarten, die eine solche doch nicht immer leisten könnten.

Welche Ueberfluthung bedrohte aber jenes zweiundzwanzigste Quartier, wenn auch nur die Hälfte der Chicagoer Bevölkerung dort zusammenströmte! Die Hauptstadt des Staates zählte zu jener Zeit nicht weniger als siebzehnhunderttausend Einwohner, wovon etwa ein Fünftel aus den Vereinigten Staaten stammte, während nahezu fünfhunderttausend Deutsche und fast ebenso viele Irländer waren.

Engländer und Schotten gab es darunter fünfzigtausend, Canadier gegen vierzigtausend, Skandinavier ziemlich hunderttausend, Böhmen und Polen ebenso viele. An Juden rechnete man fünfzehntausend und an Franzosen vielleicht zehntausend, eine unter diesem Völkergemisch fast verschwindend kleine Menge.

Uebrigens bedeckt die Stadt, wie Élisée Reclus berichtet, noch nicht einmal das ganze Gebiet, das die Gesetzgeber ihr am Gestade des Michigansees zugemessen haben und das eine Ausdehnung von vierhunderteinundsiebzig Quadratkilometern, oder etwa die gleiche Größe wie das Departement der Seine hat. Ihre Einwohnerschaft hat sich also nur genügend zu vermehren – und das ist nicht unmöglich, nein, sogar recht wahrscheinlich – um die ganze Fläche von vierundsiebzigtausend Hektaren zu bevölkern.

Jedenfalls wälzten sich an dem genannten Tage Neugierige aus den drei Stadttheilen heran, die der Chicagofluß mit seinen zwei Armen – dem nord- und dem südwestlichen – bildet, aus der North Side wie aus der South Side, die von manchen Reisenden die eine als die Vorstadt Saint-Germain, die andere als die Vorstadt Saint-Honoré der großen Stadtgemeinde von Illinois angesehen werden. Natürlich fehlte es auch nicht an Zufluß aus dem von den beiden Armen des Wasserlaufs im Westen gebildeten Winkel her. Wer auch in einem weniger eleganten Stadttheile wohnte, wollte deshalb doch nicht darauf verzichten, die Volksmasse vermehren zu helfen, nicht einmal die Leute aus den elenden Baracken in der Umgebung der Madison Street und der Clark Street, wo Böhmen, Polen und Italiener neben vielen, dem Himmlischen Reiche entflohenen Chinesen hausen.

Diese ganze Völkerwanderung strebte also lärmend und schreiend dem zweiundzwanzigsten Quartiere zu, dessen vierundzwanzig Straßen auf keinen Fall ausreichten, die Fluthwelle einer solchen Volksmasse aufzunehmen.

Alle Classen der Einwohnerschaft waren in dem unruhigen Menschenknäuel vertreten. Da sah man Beamte aus dem Federal Building und aus der Post Office, Angestellte aus dem Court House, höhere Mitglieder aus dem County Hotel, Municipalräthe aus der City Hall, Personal aus der ungeheuern Karawanserai des Auditoriums, dessen Fremdenzimmer nach Tausenden zählen, Handlungsgehilfen aus den großen Modewaarengeschäften und Bazaren, wie aus denen der Herren Marshall Field, Lehmann und W. W. Kimball, Arbeiter aus den Schweineschmalz- und Margarinefabriken, die eine vorzügliche Butter, das Pfund zu 10 Cents (etwa 41 Pfennige) herstellen, neben solchen aus den Wagenbauwerkstätten des allbekannten Pullmann, die aus ihrer weit entfernten Vorstadt hergekommen waren, ferner Angestellte des Großverkaufshauses Montgomery, Ward und Comp., dreitausend Arbeiter Mac Cormick's, des Erfinders der berühmten Garbenbindemaschine, neben andern von den Hochöfen und Walzwerken, wo Bessemerstahl im Großen fabriciert wird; weiter die Leute aus den Werkstätten J. Mac Gregor Adams, die Nickel, Zinn, Zink und Kupfer bearbeiten und Gold und Silber raffinieren, die Arbeitskräfte aus den Schuhfabriken, wo man so weit vervollkommnete Hilfsmaschinen benützt, daß ein Halbstiefel in einer Minute hergestellt werden kann, und endlich die achtzehnhundert Mann der Firma Elgin, die täglich zweitausend Taschenuhren liefert.

Dieser schon etwas langen Liste wäre noch das Personal hinzuzufügen, das bei den Elevatoren Chicagos, des allergrößten Getreidemarktes der Erde, beschäftigt ist. Dazu kommen ferner die Angestellten und Beamten der dortigen Eisenbahnen, die auf siebenundzwanzig Bahnlinien und mit dreizehnhundert Zügen täglich hundertfünfundsiebzigtausend Personen nach der Stadt befördern, die der durch Dampf oder Elektricität getriebenen Straßenbahnwagen, der Seilbahnen und andrer, mit einem Tagesverkehr von zwei Millionen Fahrgästen, endlich die große Zahl von Seeofficieren, Matrosen u. s. w. eines mächtigen Hafenplatzes, dessen Handelsverkehr an einem einzigen Tage sechzig Schiffe in Anspruch nimmt.

Man hätte blind sein müssen, unter dieser bunten Menge die Direktoren, Redacteure, Berichterstatter, Feuilletonisten und Hilfskräfte nicht zu bemerken, die an den hundertvierzig Tages- und Wochenblättern Chicagos thätig sind – und taub sein müssen, die Rufe der Börsenmänner, der Bulls oder Haussiers und der Bears oder Baissiers, nicht zu hören, die hier ebenso auftraten, als ob sie am Board of Trade oder am Wheat Pit, der Getreidebörse, handelten und feilschten. Und um diese lärmende Menge bewegte sich ferner das gesammte Personal der National- und der Staatsbanken, der Corn Exchange Calumet Merchants'-Loane and Trust Co, der Fort Dearborn Oakland Prairie-State American Trust and Savings, der Chicago City Guarantee Co of North America, der Dime Savings Northern Trust Co u. s. w. u. s. w.

Wie hätte man bei diesem riesenhaften öffentlichen Aufzuge die Schüler der Kollegien und Universitäten übersehen können, die der Northwestern University, des Union College of Law, der Chicago Manueltraining-school und vieler andrer Institute, wie hätte man die Künstler der dreiundzwanzig Theater und Casinos vergessen können, die vom Großen Opernhause, wie die von Jacobs' Clark Street Theater, die vom Auditorium und vom Lyceum – wie ferner vergessen können die Leute der neunundzwanzig erstclassigen Hôtels, die Kellner und Hilfswärter der unzähligen und zuweilen so großen Restaurants, daß sie binnen einer Stunde fünfundzwanzigtausend Gäste befriedigen können – wie die Packer und Fleischer des Great Union Stock Yard, die für Rechnung der Firmen Armour, Swift, Nelson, Morris und noch vieler andrer jährlich zwei Millionen Rinder und Schweine für je zwei Dollars abschlachten. Darf man sich da wundern, daß die »Königin des Westens« unter den gewerb- und handeltreibenden Städten der Vereinigten Staaten den zweiten Platz, gleich hinter New-York, einnimmt, wenn ihr jährlicher Geschäftsumsatz den Werth von dreißig Milliarden erreicht?

Wie alle großen amerikanischen Städte erfreut sich Chicago einer ebenso unbeschränkten wie rein demokratischen Freiheit. Die Decentralisation ist hier vollständig durchgeführt; was veranlaßte sie aber – um bei dem eben gebrauchten Worte zu bleiben – sich heute so auffallend um die La Salle Street zu centralisieren?

Strömte die Bevölkerung in lärmender Menge vielleicht nach der City Hall zusammen? Handelte es sich um eine alles mit sich fortreißende Speculation, die man hier als Boom zu bezeichnen pflegt, um eine Versteigerung von Grund und Boden, die die Geister übermäßig erregte? Handelte es sich um eine jener Wahlschlachten, die die Volksmenge erhitzen, um ein Meeting, bei dem conservative Republikaner und liberale Demokraten sich in der Nachbarschaft des Federal Building bekämpfen sollten? Oder stand es in Frage, eine neue Worlds Columbian Exposition feierlich zu eröffnen und im Schatten des Lincoln-Parks längs der Midway Plaisance den Pomp von 1893 wiederholt zu entfalten?

Nein, hier sollte eine ganz andere Feierlichkeit vor sich gehen, deren Charakter ein recht trauriger gewesen wäre, wenn die daran Betheiligten sich nicht hätten den Bestimmungen der Person, der jene galt, fügen müssen, Bestimmungen, die dahin gingen, daß dabei allgemeine Freude herrschen sollte.

Zur Stunde war die La Salle Street völlig leer, dank den Polizisten, die an deren beiden Enden in großer Zahl aufgestellt waren. Der Zug, der sie durchmessen sollte, war folglich durch nichts gehindert, sich vorschriftsmäßig zu bilden und zu bewegen.

Wird die La Salle Street von den reichen Amerikanern auch nicht ebenso bevorzugt, wie die Avenuen der Prairie, von Calumet oder von Michigan, wo sich nur prächtige Wohnpaläste erheben, so ist sie doch eine der verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Sie trägt den Namen eines Franzosen, Robert Cavelier de La Salle, eines der ersten Reisenden, die von 1679 an das Gebiet der Seen erforschten – einen Namen, der in den Vereinigten Staaten mit Recht berühmt ist.

Nahe der Mitte der La Salle Street hätte ein Beobachter, dem es geglückt wäre, die Doppelreihe von Polizisten zu durchbrechen, an der Ecke der Goethe Street einen mit sechs Pferden bespannten Wagen vor einem Prachtbau von Wohnhause stehen sehen. Vor und hinter diesem Wagen wartete ein gut geordnetes zahlreiches Gefolge nur auf das Zeichen zum Aufbruch.

Die erste Hälfte des Gefolges umfaßte mehrere Compagnien Miliz in Paradeuniform unter dem Befehle ihrer Officiere, ein Musikchor von nicht weniger als hundert Mann und eine Sängerabtheilung von gleicher Stärke, die ihre Töne wiederholt mit den Accorden jenes Orchesters mischen sollten.

Den Wagen bedeckten Draperien von leuchtendem, mit Gold- und Silberstickereien noch gehobenem Roth, von dem in Diamanten die Buchstaben W I H hervorglänzten. Dazu kamen eine Unmenge Sträuße oder eigentlich ganze Haufen von Blumen, die überall, mit Ausnahme einer Stadt, welche man ganz allgemein Garden City nennt, recht selten gewesen wären. Vom Obertheile des Gefährtes, das würdig gewesen wäre, inmitten eines nationalen Festes zu prangen, hingen bis zur Erde Guirlanden herab, die von sechs Personen, von dreien auf jeder Seite, gehalten wurden.

Wenige Schritt weit dahinter zeigte sich eine Gruppe von etwa zwanzig Personen, darunter James J. Davidson, Gordon S. Allen, Harry B. Andrews, John J. Dickinson, Thomas R. Carlisle u. a. vom Excentric Club in der Mohawk Street, dessen Vorsitzender Georges B. Higginbotham war; ferner Mitglieder der Clubs Calumet aus der Michigan Avenue, des Hyde Park aus der Washington Avenue, Columbus aus der Montroe Street, der Union League vom Custom House Place, der Irischen Amerikaner aus der Dearborn Street – und der vierzehn übrigen, in der Stadt bestehenden Clubs.

Chicago ist, wie Vielen bekannt sein dürfte, das Hauptquartier der Division des Missouri und der gewöhnliche Standort ihres Commandanten. Es versteht sich nun von selbst, daß dieser Commandant, der General James Morris, nebst seinem Stabe und den Officieren der im Pullmann Building gelegenen Bureaux sich der vorher genannten Gruppe angeschlossen hatte. Weiter folgten: der Gouverneur des Staates, John Hamilton, der Bürgermeister und seine nächsten Beamten, die Mitglieder des Stadtrathes, die Grafschaftsverwalter, die eigens von Springfield hergekommen waren, aus der officiellen Hauptstadt von Illionis, wo alle Verwaltungs- und Regierungsämter ihren Sitz haben, und auch die Oberbeamten des Federal Court, die im Gegensatze zu vielen andern Staatsdienern nicht durch allgemeine Abstimmung erwählt, sondern unmittelbar vom Präsidenten der Union ernannt werden.

Am Schlusse dieses Gefolges drängten sich eine Menge Kaufleute, Industrielle, Ingenieure, Lehrer, Advocaten, Gerichtsanwälte, Aerzte, Zahnärzte, Coroner (Kronbeamte für die Leichenschau), Sachwalter und Grafschaftsbeamte, denen sich noch eine unübersehbare Volksmenge anschließen sollte, sobald der Aufzug die La Salle Street ganz verlassen hätte.

Um aber das Ende des Zuges gegen den Ansturm der Masse zu sichern, hatte der General Morris starke Abtheilungen Cavallerie mit gezogenem Säbel aufgestellt, und lustig flatterten deren Standarten im frischen Morgenwinde.

Diese lange Beschreibung der civilen und militärischen Theilnehmer, aller der Gesellschaften und Vereine, die zu dieser außergewöhnlichen Feierlichkeit herangezogen waren, muß hier noch durch eine besonders kennzeichnende Einzelheit vervollständigt werden: alle Theilnehmer, kein einziger ausgenommen, trugen eine Blume im Knopfloch, eine Gardenia, die ihnen der schwarzgekleidete, auf der Vortreppe des Hauses stehende Haushofmeister überreicht hatte.

Ueberdies machte auch das Haus selbst einen festlichen Eindruck. Seine Armleuchter und hellglänzenden elektrischen Lampen wetteiferten mit den lebhaften Strahlen der Aprilsonne; die weit offenen Fenster zeigten die vielfarbigen Tapeten der Innenräume. Die Dienerschaft in Festtagstracht stand auf den Marmorstufen der Ehrentreppe. Die Prunkgemächer waren wie zu einem großen Empfange vorbereitet, die Speisezimmer mit Tafeln besetzt, worauf die massiv silbernen Aufsätze und das herrliche Porzellan der Chicagoer Millionäre prangten und krystallne Karaffen voll edeln Weines und Champagners der besten Marken funkelten.

Endlich schlug es auf der City Hall neun Uhr. Fanfaren ertönten am Anfange der La Salle Street. Drei einstimmig ausgebrachte Hurrahs erschütterten die Luft. Auf ein Zeichen des dienstthuenden Polizeiofficiers setzte sich der Zug mit entfalteten Bannern in Bewegung.

Zuerst erklangen aus den mächtigen Instrumenten des Orchesters die belebenden Takte des »Columbus March« von Professor John K. Paine in Cambridge. Langsam und gemessen wand sich der Zug die La Salle Street hinauf. Fast gleichzeitig rückte der Wagen mit dem Sechsgespann an, von dem jedes Pferd kostbare Schabracken trug und mit Federbusch und Aigrette geschmückt war. Die Blumenguirlanden in den Händen der sechs Auserwählten, die nur ein launenhafter Zufall zu solchen gemacht hatte, spannten sich gleichmäßig an.

Dann setzten sich die militärischen, civilen und städtischen Behörden, die den Reiterabtheilungen folgten, in bester Ordnung in Gang.

Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß in der La Salle Street alle Fenster, Balkons und vielfach sogar die Dächer von Zuschauern jedes Alters, die meist schon seit dem letzten Abend warteten, voll besetzt waren.

Als die ersten Reihen des Gefolges das Ende der Straße erreicht hatten, schwenkten sie ein wenig nach links ab, um nach der den Lincoln-Park begleitenden Alleestraße zu gelangen. Welch unglaubliches Gewühl von Menschen herrschte da innerhalb der zweihundertfünfzig Acres dieser Anlage, die im Osten von den rauschenden Wellen des Michigan benetzt wird – in dieser Schmuckwaldung mit ihren schattigen Alleen, ihren Buschgruppen, Rasenflächen, bewaldeten Dünen, ihrer Winston-Lagune, mit den zum Andenken Grant's und Lincoln's errichteten Monumenten, dem Paradefelde und in dem davon umschlossenen zoologischen Garten, wo die Raubthiere heulten und brüllten und die Affen hastig hin und her sprangen, wie um sich der Erregung in der Volksmenge in ihrer Art anzupassen! Da der Park an Wochentagen sonst so gut wie menschenleer ist, hätte sich ein Fremdling fragen können, ob heute vielleicht Sonntag wäre. O nein, es war Freitag – der traurige, widerwärtige Freitag – der dieses Jahr auf den 3. April fiel.

Nun, heute bekümmerten sich die Neugierigen nicht darum, tauschten ihre Bemerkungen beim Vorüberkommen des Zuges aus und bedauerten daneben gewiß, nicht selbst daran theilnehmen zu können.

»Das steht fest,« meinte einer, »die Feier ist ebenso schön, wie die bei der Eröffnung unsrer Weltausstellung!«

»Gewiß,« antwortete ein andrer, »der Zug kann sich getrost mit dem vom 24. October auf der Midway Plaisance messen.«

»Und die Sechs, die unmittelbar neben dem Wagen gehen!« rief ein Schiffer vom Chicagoflusse.

»Ja, die mit gefüllter Tasche zurückkommen werden!« setzte ein Arbeiter aus der Cormick'schen Werkstatt hinzu.

»Die haben jeder das Große Los gewonnen!« erklärte ein dicker Brauer, dem das Bier aus allen Poren schwitzte. »Ich gäbe gleich mein Gewicht in Gold darum, könnt' ich jetzt an ihrer Stelle sein!«

»Und dabei würden Sie nichts verlieren!« versicherte ein kräftiger Schlächter aus den Stock Yards.

»Das ist ein Tag, der jenen hübsche Werthpapiere in ganzen Haufen einbringt!« ließ sich eine Stimme neben den beiden vernehmen.

»Ja, ihr Glück ist gemacht!«

»Und welch ein Glück!«

»Für jeden zehn Millionen Dollars . . .«

»Sie wollen sagen, zwanzig Millionen . . .«

»Eher nahe an fünfzig als zwanzig!«

So wie die wackern Leute nun einmal im Zuge waren, wären sie bald auch noch bis zur Milliarde gekommen – ein Wort, das in den Vereinigten Staaten übrigens gang und gäbe ist. Wohl zu bemerken, beruhten indeß alle diese Behauptungen auf grundloser Annahme.

Doch siehe da: Will der Zug etwa gar seinen Weg um die ganze Stadt nehmen?

Wenn ein derartiger Spaziergang im Programme vorgesehen war, dann reichte freilich der ganze Tag dazu nicht aus.

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls kam die lange Kolonne unter gleichmäßigen Freudenbezeugungen und unter den rauschenden Klängen des Orchesters und den Vorträgen der Sänger, die eben, begrüßt mit donnernden Hipps und Hurrahs der Zuschauer, das Lied »To the Son of Art« angestimmt hatten, vor dem Eingange zum Lincoln-Park da an, wo die Fullerton-Avenue endigt. Sie wendete sich nun nach links und schlängelte sich, etwa zwei (amerikanische) Meilen weit, nach Westen bis zum nördlichen Arme des Chicagoflusses hin. Zwischen den von Menschen vollgestopften Fußwegen war noch Platz genug für eine ungehinderte Bewegung des merkwürdigen Zuges.

Nach Ueberschreitung der Brücke erreichte er über die Brand Street hinweg die prächtige, belebte Straße, die auf eine Strecke von elf Meilen den Namen Boulevard Humboldt führt und erst nach Westen, dann nach Süden zu verläuft. Von der Ecke des Logan Square aus verfolgte der Zug diese Richtung, nachdem zahlreiche Polizisten den Fahrdamm von der fünffachen Reihe sich drängender Zuschauer gesäubert hatten.

Von hier aus rollte der Wagen nach dem Palmer Square zu und erschien vor dem Parke, der ebenfalls den Namen des berühmten deutschen Gelehrten trägt.

Es war jetzt Mittag. Im Humboldt-Parke wurde einmal Halt gemacht, was recht nothwendig erschien, denn noch war ein langer Weg zurückzulegen. Die Volksmenge konnte sich auf dem von plätscherndem Wasser erfrischten Gebiete, das über zweihundert Acres einnimmt, nach Belieben zerstreuen.

Als der Wagen still stand, stimmten die Musiker und die Sänger das »Star Spangled Banner« an, dem ein rauschender Applaus folgte, als wäre es in der Music Hall des Casinos vorgetragen worden.

Der westlichste Punkt, der im Programm für den Zug vorgeschrieben war, wurde gegen zwei Uhr erreicht und lag am Garfield-Parke. Man sieht, an Parken fehlte es der großen Stadt von Illinois eben nicht. Wenn man nur die fünfzehn größten in Rechnung zieht – der Jackson-Park bedeckt allein fünfhundertachtzig Acres – so umfassen diese zusammen eine mit Buschwerk, Dickichten, Blumenrabatten und Rasen bedeckte Fläche von zweitausend Acres (gleich 800 Hektar).

Als der Winkel am Boulevard Douglas überschritten war, wendete sich der lange Zug nach Osten dem Douglas-Parke zu, von hier mehr nach Südwesten über den mittleren Arm des Chicagoflusses und weiter am Canal von Michigan hin, der diesen flußaufwärts begleitet. Jetzt galt es noch, nach Süden zu die Western Avenue auf eine Strecke von drei Meilen (4800 Meter) zu überwinden, um nach dem Gage-Park zu gelangen.

Eben schlug es auf den Thürmen drei Uhr und es wurde rathsam, ein zweitesmal Halt zu machen, ehe die Rückkehr nach den eigentlichen Stadtquartieren angetreten wurde.

Diesmal wurde das Orchester scheinbar ganz toll; es spielte mit außerordentlichem Feuer die lebhaftesten Zweiviertelstücke, die rasendsten Allegros aus den Repertoiren eines Lecocq und Barney, eines Audran und Offenbach. Kaum glaublich erschien, daß unter dem Einflusse dieser Rhythmen von den öffentlichen Bällen nicht alle Welt zu tanzen begann. In Frankreich hätte man sich nicht bezwingen können.

Dazu herrschte trotz empfindlicher Kühle ganz prächtiges Wetter. In den ersten Apriltagen behält das Klima von Illinois meist noch seinen winterlichen Charakter und die Schiffahrt auf dem Michigansee und dem Chicagoflusse bleibt gewöhnlich von Anfang December bis Ende März unterbrochen.

Trotz der noch recht niedrigen Temperatur war die Luft so rein, die Sonne, die ihren Bogen am wolkenlosen Himmel beschrieb, sandte so glänzende Strahlen herab, als hätte sie sich selbst auf eine Festlichkeit eingerichtet – wie die Berichterstatter der officiösen Presse sich auszudrücken lieben – so daß voraussichtlich bis zum Abend alles nach Wunsch verlief.

Die Menge der Zuschauer verminderte sich übrigens keineswegs. Waren es keine Neugierigen aus den Quartieren des Nordens, so waren es solche aus denen des Südens, und die einen gaben den andern bezüglich unverhohlener Lebhaftigkeit und enthusiastischer Hurrahs, die den Zug überall begleiteten, in keiner Weise etwas nach.

In dem Gefolge hielten sich die einzelnen Gruppen noch immer ebenso zusammen, wie seit dem Aufbruche in der La Salle Street und ebenso wie das sicherlich noch am Ende des langen Weges der Fall zu sein versprach.

Vom Gage-Park aus rollte der Wagen auf dem Boulevard Garfield geradewegs nach Osten hin.

Am Ende dieses Boulevards zeigt sich in voller Pracht der Washington-Park, der dreihunderteinundsiebzig Acres groß ist.

Hier verdichtete sich die Menschenmenge noch weiter, ganz wie einige Jahre vorher, bei Gelegenheit der in der Nachbarschaft stattfindenden Ausstellung. Von vier bis halb fünf Uhr wurde nochmals eine Rast gemacht, und in dieser Pause ließen die Sänger unter dem lärmenden Beifall unzähliger Zuhörer das »In Praise of God« von Beethoven erschallen.

Dann ging der Marsch im Schatten des Parks weiter bis zu der Stelle, die mit der Midway Plaisance einst die große Worlds Columbian Fair in dem weiten Gebiete des Jackson-Parks unmittelbar am Strande des Michigansees umschlossen hatte.

Sollte sich der Wagen diesem für alle Zukunft berühmt gewordenen Platze zuwenden? Handelte es sich um eine Feierlichkeit zur Erinnerung an den verflossenen Glanz, etwa um eine Gedenkfeier, die durch alljährliche Wiederholung jene großen Tage der Annalen Chicagos vor dem Vergessenwerden bewahren sollte?

Nein, nach dem Vorbeiziehen am Washington-Park-Club durch die Cottage Greve Avenue, hielten die ersten Reihen der Milizen vor einem Park an, den in diesem volkreichen Quartiere verschiedene Eisenbahnen mit ihrem vielfachen stählernen Netz umsponnen haben.

Das fast zahllose Gefolge machte Halt und das Orchester ließ, ehe es im Schatten stolzer Eichen weiterschritt, einen der verführerischesten Walzer von Strauß erklingen.

Gehörte dieser Park vielleicht einem Casino und sollte die große Menge etwa nach einem Riesensaale geführt werden, um dort eine Art carnevalistisches Nachtfest zu begehen? . . .

Jetzt öffneten sich die Pforten weit, und den Polizisten gelang es nur mit größter Anstrengung, die heranstürmende Menge, die hier noch zahlreicher, noch lärmender und noch ausgelassener war, von dem Eindringen zurückzuhalten.

Von einer weiteren Milizenkette geschützt, gelang es, das zu verhindern, bis der Wagen nach einem etwa fünfzehn Meilen langen Wege um und durch die riesige Stadt sein Ziel erreicht hatte . . .

Dieser Park war kein Park . . . es war die Oakswoods Cemetry, der größte der elf Friedhöfe Chicagos . . . und der Wagen war ein Leichenwagen, der jetzt die sterblichen Ueberreste William J. Hypperbone's, eines der Mitglieder des Excentric Club, ihrer letzten Ruhestätte zuführte.

 


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