Jules Verne
Das Testament eines Excentrischen. Erster Band
Jules Verne

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XI. Jovita Foley in tausend Aengsten

Ihrer gelosten Nummer nach war Lissy Wag die fünfte in der Reihe der Abreisenden. Neun Tage sollten also vergehen zwischen dem, wo Max Real Chicago verlassen hatte, und dem, wo sie von der Hauptstadt von Illinois aufbrechen sollte.

Mit welcher Ungeduld verbrachte sie aber diese endlose Woche, oder richtiger, verbrachte sie Jovita Foley an ihrer Statt. Es gelang ihr gar nicht mehr, sie zu beruhigen. Ihre Freundin aß nicht mehr, sie schlief, ja sie lebte fast gar nicht mehr. Die Reisevorbereitungen waren schon am Tage nach dem ersten Würfeln, dem 1. Mai, gleich von früh acht Uhr an begonnen worden, und zwei Tage später nöthigte sie Lissy Wag, sie nach dem Saale des Auditoriums zu begleiten, wo im Beisein einer wie früher zahlreichen und erregten Zuschauermenge zum zweitenmal gewürfelt werden sollte. Weiter wiederholte sich dasselbe Schauspiel am 5. und am 7. Mai zum dritten- und zum viertenmale. Noch achtundvierzig Stunden, dann sollte sich das Schicksal der beiden Freundinnen entscheiden, denn man trennte sie schon gar nicht mehr von einander: die beiden jungen Mädchen bildeten nur eine einzige Person.

Das ist indeß dahin zu verstehen, daß Jovita Foley die Lissy Wag sozusagen ganz in sich aufgehen ließ. Letzterer fiel nur noch die Rolle des klugen und vernünftigen Mentors zu, auf den man nie hören mag.

Der von Herrn Marshall Field seiner zweiten Kassiererin und seiner ersten Verkäuferin gewährte Urlaub hatte natürlich schon am 16. April, am Tage nach der Testamentsverlesung, seinen Anfang genommen. Die beiden Damen waren seitdem nicht mehr verpflichtet, im Magazin der Madison Street zu erscheinen. Schon dieser Umstand erschien der Klügeren von beiden doch etwas bedenklich, denn sie fragte sich, ob ihr Principal wohl so lange auf ihre Dienste verzichten werde, wenn ihre Abwesenheit sich über Wochen, vielleicht über Monate ausdehnte.

»Wir haben unrecht gethan,« sagte Lissy Wag wiederholt.

»Ja doch, ja,« antwortete Jovita Foley, »und wir werden fortfahren, unrecht zu thun, so lange das nöthig erscheint.«

Nach diesen Worten lief das nervöse, leicht erregbare Mädchen unablässig in der kleinen Wohnung in der Sheridan Street hin und her. Sie öffnete den einzigen Mantelsack, der die Leibwäsche und die Kleidungsstücke für die Reise enthielt und überzeugte sich, daß nichts für ein längeres Verweilen in der Fremde Nothwendiges vergessen war; dann fing sie an zu rechnen und zählte das vorräthige Geld . . . alle ihre in Gold und Silber umgewechselten Ersparnisse, die die Hotels, die Eisenbahnen und Wagen und allerlei Unvorhergesehenes zum großen Leidwesen Lissy Wag's verschlingen würden. Sie schwatzte darüber auch mit allen Hausgenossen, deren es in den siebzehn Stockwerke hohen Bienenstöcken Chicagos ja immer so viele giebt. Sie fuhr mit dem Personenaufzug hinunter und wieder hinauf, wenn sie aus den Zeitungen oder von den Ausrufern auf der Straße eine Neuigkeit aufgeschnappt hatte.

»Ah, meine Beste,« begann sie eines Tages, »abgefahren ist er, jener Herr Max Real, doch wo mag er stecken? . . . Er hat sich nicht einmal über den von ihm nach Kansas einzuschlagenden Weg geäußert!«

Thatsächlich hätten auch die feinsten Spürhunde der Localchronik die Fährte des jungen Malers nicht verfolgen können, und von diesem war auf weitere Nachrichten, vor dem 15., eine Woche, nachdem Jovita Foley und Lissy Wag die weiten Gebiete der Union zu durchmessen begonnen hatten, gar nicht zu rechnen.

»Nun, wenn ich offenherzig sprechen soll,« sagte Lissy Wag, »ist von allen unsern Partnern dieser junge Mann der, für den ich mich am meisten interessiere.«

»Weil er Dir glückliche Reise gewünscht hat, nicht wahr?« antwortete Jovita.

»Auch weil er mir der Begünstigung durch das Glück am würdigsten zu sein scheint.«

»Natürlich nach Dir, Lissy?«

»Nein, vor mir.«

»Ich verstehe. Gehörtest Du nicht selbst zu den ›Sieben‹,so würden Deine besten Wünsche ihn begleiten . . .«

»Das thun sie auch jetzt!«

»Nun ja, kann ja sein. Da Du aber auch selbst und obendrein mit mir, Deiner vertrautesten Freundin, an der Partie betheiligt bist, möchte ich Dich doch ersuchen, statt für jenen Max Real den Himmel für mich um Beistand anzuflehen. Lass' Dir übrigens gesagt sein, daß niemand weiß, wo er ist . . . vielleicht befindet er sich nicht weit vom Fort Riley, wenn nicht unterwegs ein Unfall . . .«

»O, das wollen wir nicht hoffen, Jovita!«

»Natürlich nicht hoffen, meine Liebe, beileibe nicht hoffen!«

Mit ähnlichen, in ihrem Munde ironischen Worten pflegte Jovita Foley meist auf solche Reden der ängstlichen Lissy Wag zu antworten.

Diese noch mehr erregend, fuhr sie dann fort:

»Du sprichst mir niemals von jenem abscheulichen Tom Crabbe; der ist mit seinem Kornak doch auch unterwegs . . . nach Texas, wenn ich nicht irre. Begleiten denn Deine Wünsche dieses Krustenthier nicht ebenfalls?«

»Ich habe nur den Wunsch, Jovita, daß uns das Geschick nicht nach einem so entfernten Lande verschlägt.«

»Bah, was wäre dabei, Lissy?«

»Bedenke Jovita, wir sind nur zwei Frauen, und ein unsrer Heimat benachbarter Staat würde uns doch erwünschter sein . . .«

»Zugegeben, Lissy, wenn das Schicksal aber seine Galanterie nicht so weit treibt, auf unsre Schwäche Rücksicht zu nehmen, wenn es uns nach dem Atlantischen oder nach dem Großen Ocean schickt, vielleicht gar nach dem Golf von Mexiko . . . so heißt es, sich einfach dem Zwange fügen . . .«

»Und das werden wir thun, weil Du es willst, Jovita.«

»Nicht weil ich es will, sondern weil es geschehen muß, Lissy. Du denkst immer nur an die Abfahrt, nie an die Ankunft, an die großartige Ankunft im dreiundsechzigsten Felde – ich, ich denke dagegen Tag und Nacht daran und dann an die Rückkehr nach Chicago . . . wo uns die Millionen in der Casse des vortrefflichen Notars erwarten . . .«

»Ja, ja, die berühmten Millionen aus der Erbschaft . . .« meinte Lissy Wag lächelnd.

»Sieh, Lissy, sind denn die andern Partner nicht ohne so viele Bedenklichkeiten auf die Sache eingegangen? Befindet sich das Titbury'sche Ehepaar nicht auch bereits auf dem Wege nach Maine? . . .«

»Die armen Leute! Ich bedaure sie.«

»O, Du wirst mich zuletzt noch ganz erbittern!«

»Und Du, meine Liebe, wenn Du Dich nicht zu beruhigen vermagst, wenn Du fortfährst, Dich so nervös zu erregen, wie es schon seit einer Woche geschehen ist, Du wirst Dich schließlich krank machen, und dann bleib' ich daheim, um Dich zu pflegen.«

»Ich . . . krank werden? . . . Nein, bist Du närrisch! Die Nerven sind es ja, die mich aufrecht erhalten, mir Ausdauer verleihen, und nervös werde ich auf der ganzen Reise bleiben!«

»Leider magst Du recht haben, doch wenn Du dabei nicht bettlägerig wirst, dann bin ich es jedenfalls, die . . .«

»Du! . . . Du! . . . Nun, laß Dir ja nicht einfallen, krank zu werden!« rief das vortreffliche und zu leicht erregbare Mädchen, das sich Lissy Wag an den Hals warf.

»Dann werde Du ruhiger,« sagte Lissy Wag, indem sie ihre Küsse erwiderte, »und alles wird sich gut machen!«

Jovita Foley gelang es nur mit großer Anstrengung, sich zu bemeistern, so erschrocken war sie bei dem Gedanken, daß ihre Freundin am Tage der Abreise könnte das Bett hüten müssen.

Am Vormittage des 7. brachte Jovita Foley, als sie vom Auditorium nach Hause kam, die Nachricht mit, daß der vierte Partner, Harris T. Kymbale, für den sechs Augen geworfen worden waren, sich zuerst nach dem Staate New York und nach der Niagarabrücke, dann aber nach Santa-Fé in Neumexiko zu begeben habe.

Lissy Wag machte dazu nur die Bemerkung, daß der Berichterstatter der »Tribune« infolgedessen einen einfachen Einsatz zu erlegen habe.

»Das wird seine Zeitung in keine große Verlegenheit setzen,« erwiderte ihre Freundin.

»Nein, Jovita, uns würde es aber gar nicht gleichgiltig sein, wenn wir gleich zu Anfang oder auch im Verlaufe der Reise tausend Dollars opfern sollten!«

Die andre antwortete ihrer Gewohnheit nach darauf nur mit einer Bewegung des Kopfes, die offenbar bedeuten sollte: So etwas kommt nicht vor! . . . Nein, das ist ganz unmöglich!

Im Grunde beunruhigte sie das doch nicht wenig, obwohl sie davon nichts merken lassen wollte. Nacht für Nacht träumte sie in unruhigem Schlafe, der auch Lissy Wag's Schlummer störte, von der Brücke, dem Gasthause, dem Labyrinth, von dem Schachte und dem Gefängnisse, also von den gefährlichen Feldern, wo die Spieler einfache, doppelte oder gar dreifache Einsätze bezahlen mußten, um überhaupt an der Partie weiter theilnehmen zu können.

Endlich brach der 8. Mai an. Am nächsten Tage sollten sich die beiden jungen Reisenden auf den Weg machen. Mit den glühenden Kohlen, worauf Jovita Foley schon seit einer Woche stand, hätte man bequem eine Schnellzugslocomotive auf der Fahrt durch ganz Amerika heizen können.

Selbstverständlich hatte Jovita Foley einen umfassenden Führer für alle Fahrten durch die Vereinigten Staaten gekauft, das beste und vollständigste der Guide-Books, das sie durchblätterte, durchlas und wieder durchlas, obgleich sie gar nicht in der Lage war, jetzt schon einen Reiseweg auszuwählen.

Um über alles Auskunft zu erhalten, genügte es übrigens, die Tagesblätter der Hauptstadt oder die Zeitungen jeder beliebigen andern Stadt einzusehen. Schon von Anfang an war ein Nachrichtendienst zwischen allen beim Würfeln herausgekommenen Staaten, besonders aber mit jeder der Ortschaften eingerichtet worden, die William J. Hypperbone als Ziele angegeben hatte. Post, Telephon und Telegraph arbeiteten ja zu jeder Stunde. Morgenzeitungen und Abendzeitungen enthielten mehr oder weniger zuverlässige, vielfach freilich, muß man sagen, mehr oder weniger phantastische Berichte. Es ist ja eine alte Erfahrung, daß der Leser einer einzeln gekauften Nummer und der Abonnent einer Zeitung in dem Punkte eines Sinnes sind, daß sie lieber falsche Neuigkeiten als gar keine aufgetischt sehen wollen.

Jene Nachrichten hingen übrigens, wie erklärlich, von den Partnern und von der Art ihres Verhaltens ab. Was Max Real betraf, so konnten alle Mittheilungen über ihn kaum ernst genommen werden, weil er über seine Pläne, mit Ausnahme seiner Mutter, niemand ins Vertrauen gezogen hatte. Da man weder von seinem Eintreffen in Omaha mit Tommy, ferner aus Kansas City und von seiner Schiffsreise auf dem »Dean Richmond« etwas gehört hatte, bemühten sich die Reporter vergebens, seine Fährte zu verfolgen, und man wußte nicht, was aus ihm geworden war.

Ein nicht weniger tiefes Geheimniß umgab Hermann Titbury. Daß er mit seiner Gattin am 5. abgereist war, unterlag keinem Zweifel, denn in seinem Hause in der Robey Street schaltete nur noch die Dienstmagd, jener weibliche Cerberus, von dem schon die Rede gewesen ist. Dagegen wußte man nicht, daß sie unter falschem Namen reisten, und deshalb blieben auch alle Bemühungen von Journalisten, sie unterwegs einmal zu erwischen, ganz vergebens. Wahrscheinlich hörte man von dem Ehepaar also nicht eher etwas, als bis Titbury in Calais nach der ihn betreffenden Depesche fragte.

Ueber Tom Crabbe hatte man weit vollständigere Nachrichten. Nach der ganz öffentlich erfolgten Abfahrt von Chicago waren Milner und sein Gefährte in den bedeutenderen, an ihrem Wege gelegenen Städten gesehen und interviewt worden, zuletzt in New Orleans, wo sie sich nach Galveston in Texas eingeschifft hatten. Die »Freie Presse« ließ es sich damals angelegen sein, daraufhinzuweisen, daß der Dampfer »Sherman« amerikanischer Nationalität, ein Stück des Mutterlandes sei, ein nicht unwichtiger Umstand, da es verboten war, auf einem fremden Schiffe zu fahren, selbst wenn sich dieses in den Gewässern der Union hielt.

Von Harris T. Kymbale fehlte es natürlich erst recht nicht an Nachrichten. Sie kamen so häufig wie der Regen im April, denn ihm kam es nie auf ein Telegramm, einen Artikel oder einen Brief an, den die »Tribune« abdruckte. So wußte jedermann, wie und wann er nach Jackson, später nach Detroit gekommen war, und alle Leser harrten mit Ungeduld auf eingehende Schilderungen des Empfangs, der ihm in Buffalo und an den Niagarafällen zutheil geworden sein mußte.

Jetzt war der 7. Mai. Uebermorgen sollte Meister Tornbrock im Beisein Georges B. Higginbotham's im Saale des Auditoriums den Ausfall des fünften Würfelfalls verkündigen. Noch sechsunddreißig Stunden, und Lissy Wag sollte wissen, was ihr beschieden war.

Man kann sich leicht vorstellen, mit welcher Ungeduld Jovita Foley diese beiden Tage verbracht hätte, wenn sie nicht die Beute einer noch weit ernsteren Beunruhigung gewesen wäre.

In der Nacht vom 7. zum 8. wurde nämlich Lissy Wag plötzlich von heftigen Beschwerden in der Luftröhre befallen, und als sich bei ihr starkes Fieber einstellte, mußte sie sich sogar entschließen, die im Nebenzimmer schlafende Freundin zu wecken.

Jovita Foley erhob sich sofort, ließ ihr die erste Pflege zutheil werden, reichte ihr erfrischendes Getränk und deckte sie hübsch warm zu.

»Es wird nichts zu bedeuten haben, liebe Freundin,« wiederholte sie, freilich in wenig zuversichtlichem Tone, »es geht gewiß bald vorüber . . .«

»Ich will es hoffen,« antwortete Lissy Wag, »denn das hieße wahrlich, zur unrechten Zeit krank werden.«

Das meinte auch Jovita Foley; sie dachte aber gar nicht daran, sich wieder niederzulegen, sondern wachte bei dem jungen Mädchen, deren Schlummer oft recht peinliche Unterbrechungen erlitt.

Am nächsten Tage, schon beim Morgengrauen, wußte das ganze Haus, daß die fünfte Partnerin sehr leidend sei. Es war sogar nöthig gewesen, nach einem Arzte zu schicken, und auf diesen wartete man um neun Uhr immer noch.

Kaum war das Haus von der Sachlage unterrichtet, da kannte sie bald auch das Häuserviereck, dann der Stadttheil und schnell auch die ganze Stadt, denn die Nachricht verbreitete sich mit der Schnelligkeit des elektrischen Stromes, die traurigen Nachrichten ja ganz besonders eigen ist.

Zu verwundern war das übrigens nicht. Miß Wag war die Berühmtheit des Tages, die Persönlichkeit, der sich nach der Abfahrt Harris T. Kymbale's alle Augen zuwandten. Auf sie, die einzige Heldin neben den andern sechs Helden des Match Hypperbone, vereinigte sich die allgemeine Aufmerksamkeit in den weitesten Kreisen.

Und jetzt war Lissy Wag krank . . . vielleicht ernstlich erkrankt, grade am Tage vorher, an dem sich ihr Schicksal für die nächste Zeit entscheiden sollte.

Kurz nach neun Uhr erschien endlich der ersehnte Arzt, Dr. M. P. Pughe. Er erkundigte sich zuerst bei Jovita Foley nach dem allgemeinen Gesundheitszustande des jungen Mädchens.

»O, der ist ganz ausgezeichnet,« erhielt er zur Antwort.

Der Arzt nahm nun neben Lissy Wag's Bette Platz, betrachtete sie aufmerksam, ließ sich ihre Zunge zeigen, fühlte nach dem Pulse und beklopfte und behorchte sie als Sachverständiger. Am Herzen, an der Leber und dem Magen ließ sich keine Störung erkennen. Nach gewissenhafter Untersuchung – die er mit zwei Dollars zu berechnen pflegte – erklärte der Arzt:

»Der Fall wird nicht viel zu bedeuten haben, wenn keine ernsten Complicationen hinzutreten.«

»Sind solche Complicationen zu fürchten?« fragte Jovita Foley, die jene Erklärung wenig befriedigte.

»Ja und nein,« antwortete Dr. M. P. Pughe. »Nein, wenn die Krankheit sich schnell bekämpfen läßt . . . ja, wenn das nicht gelingt und sie eine Entwickelung gewinnt, wogegen alle Arzneimittel ohnmächtig bleiben . . .«

»Sie können aber doch sagen,« fuhr Jovita, von dieser ausweichenden Antwort noch mehr beunruhigt, fort, »welche Krankheit hier vorliegt?«

»Gewiß, und mit voller Sicherheit.«

»Dann bitte ich darum, Herr Doctor!«

»Nun, meine Diagnose lautet: einfache Bronchitis. Der untere Theil der Lungen ist auch leicht erkrankt . . . es ist etwas Rasseln vorhanden . . . das Brustfell ist aber nicht mit ergriffen. Vorläufig ist also keine Pleuresie zu fürchten. Freilich kann . . .«

»Kann was? . . .«

»Freilich kann die Bronchitis zur Pulmonie, zur Lungenentzündung, ausarten und diese zu einer Lungencongestion. Das ist es, was ich die ernsten Complicationen nenne!«

Der Arzt verschrieb nun die gebräuchlichen Medicamente, Aconittinctur, beruhigenden Syrup, warme Aufgüsse und empfahl vor allem strengste Ruhe. Mit dem Versprechen, gegen Abend wiederzukommen, ging er eiligen Schrittes fort, überzeugt, daß sein Empfangszimmer von Reportern schon belagert wäre.

Ob die möglichen Complicationen nun einträten oder nicht . . . wer konnte das wissen?

Dieser unbestimmten Aussicht gegenüber war Jovita Foley nahe daran, den Kopf zu verlieren. In den nächsten zwei Stunden schien ihr Lissy Wag zwar schwer leidend, aber doch etwas ruhiger zu sein. Da verkündigte ein starkes Frösteln einen zweiten Fieberanfall, der Puls schlug unregelmäßig und schneller und die Erschöpfung nahm offenbar zu.

Geistig mindestens ebenso angegriffen, wie die Kranke körperlich, verließ Jovita Foley ihren Sessel gar nicht mehr. Immer behielt sie die Freundin im Auge, trocknete ihre heiße Stirn, flößte ihr einige Löffel Thee ein und überließ sich daneben nur trostlosen Grübeleien über ein so unerhört erscheinendes Unglück.

»Nein,« sagte sie für sich, »nein, Tom Crabbe und Titbury haben am Tage vor ihrer Abfahrt natürlich ebensowenig eine Bronchitis bekommen wie Kymbale und Max Real! Auch dem Kommodore Urrican würde ein solches Unglück nicht widerfahren sein! Meine arme Lissy aber, die immer so kerngesund war, muß es treffen! Und morgen . . . schon morgen wird zum fünftenmale gewürfelt! . . . Wenn wir dadurch nun sehr weit weggeschickt würden, wenn eine Verzögerung von nur fünf oder sechs Tagen uns hinderte, rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, oder wenn gar der 20. herankäme, ohne daß wir abreisen könnten . . . wenn es dann zu spät ist, es überhaupt noch thun zu können . . . und wir von der Partie ausgeschlossen würden, ohne auch nur bei deren Anfang betheiligt gewesen zu sein . . .«

Wenn! . . . Wenn! . . . Dieses unglückselige Bindewort erregte alle Hirnfasern Jovita Foley's und machte ihr die Schläfe klopfen.

Gegen drei Uhr ließ der Fiebersturm nach. Lissy Wag erwachte aus tiefer Erschöpfung, das Aushusten der Kranken schien etwas kräftiger zu werden. Als sie die Augen öffnete, sah sie Jovita Foley über sich geneigt.

»Nun,« fragte diese begierig, »wie befindest Du Dich? . . . Etwas besser, nicht wahr? . . . Was kann ich Dir geben?«

»Etwas zu trinken,« bat Miß Wag mit schwacher, durch das Luftröhrenleiden veränderter Stimme.

»Hier, meine Beste . . . ein heilsames Getränk . . . aus schwefelhaltigem Mineralwasser mit warmer Milch! . . . Nachher, der Arzt hat es so verordnet, erhältst Du einige Pastillen . . .«

»Ich nehme alles, was Du willst, meine gute Jovita!«

»Dann wird sich die Sache ganz allein machen! . . .«

»Ja, ja . . . ganz allein . . .«

»Du scheinst jetzt weniger zu leiden zu haben?«

»Ach, Du weißt wohl, liebe Freundin,« antwortete Lissy Wag, »wenn das Fieber nachgelassen hat, fühlt man sich wie zerschlagen und doch etwas wohler . . .«

»Das ist der Anfang der Genesung!« jubelte Jovita Foley. »Morgen wird es nicht wieder auftreten!«

»Der Genesung . . . schon jetzt? . . .« murmelte die Kranke, die zu lächeln suchte.

»Jawohl . . . schon jetzt. Wenn der Arzt wiederkommt, wird er bestimmen können, wann Du wieder aufstehen darfst.«

»Unter uns, liebe Jovita, gesteh' es nur, ich habe doch keine guten Aussichten.«

»Keine guten Aussichten . . . Du? . . .«

»Ja . . . ich; das Schicksal hat fehlgegriffen, als es Dich nicht an meine Stelle setzte. Morgen wärst Du im Auditorium gewesen . . . wärst an demselben Tage abgefahren . . .«

»Ich wäre abgefahren und hätte Dich in einem solchen Zustande zurückgelassen? . . . Niemals!«

»Ich hätte Dich schon dazu gezwungen!«

»Nun, um alles das handelt es sich ja nicht,« erwiderte Jovita Foley. »Ich bin eben die fünfte Partnerin nicht . . . ich nicht die zukünftige Erbin des seligen Hypperbone . . . das bist Du allein! . . . Ueberlege Dir nur recht, meine Liebe! Es ist noch nichts verloren, wenn sich unsre Abreise auch um achtundvierzig Stunden verzögert. Da haben wir immer noch dreizehn Tage für die Reise . . . und in dreizehn Tagen kann man von einem Ende der Union bis zum andern gelangen!«

Lissy Wag wollte darauf nicht antworten, daß sich ihre Krankheit um eine Woche oder – wer wußte es? – vielleicht über die vorgeschriebenen vierzehn Tage hinaus hinziehen könnte.

»Ich verspreche Dir, Jovita,« begnügte sie sich zu sagen, »daß ich mich bemühen werde, so schnell wie möglich gesund zu werden.«

»Mehr verlange ich auch gar nicht . . . Doch nun genug mit dem Plaudern. Du darfst Dich nicht überanstrengen. Versuche ein wenig zu schlummern. Ich bleibe an Deiner Seite sitzen.«

»Du wirst Dich zuletzt selbst noch krank machen!«

»Ich? . . . Darüber sei nur ruhig. Uebrigens haben wir freundliche Nachbarn, die im Nothfall gewiß an meine Stelle träten. Schlaf' nur ganz ruhig, meine Lissy!«

Nachdem sie' mit ihrer Freundin noch einen Händedruck gewechselt hatte, wendete sich das junge Mädchen um und schlummerte bald recht sanft ein.

Was Jovita Foley noch nebenbei beunruhigte und erregte, war die Beobachtung, daß die Straße am Nachmittage eine in diesem stillen Stadttheile ganz ungewohnte Belebtheit zeigte. Hier herrschte ein Lärmen, das selbst in dem von den Freundinnen bewohnten neunten Stockwerk die Ruhe der Miß Wag zu stören drohte. Geschäftige Leute blieben vor der Nummer neunzehn stehen und stellten an jedermann laute Fragen. Wagen auf Wagen kamen angerasselt und rollten dann eiligst nach den reichen Quartieren der Stadt wieder davon.

»Nun, wie steht es?« fragten die einen.

»Nicht grade gut,« antworteten die andern.

»Man spricht von einem Schleimfieber . . .«

»Nein, von einer typhösen Erkrankung . . .«

»O, das arme Ding! . . . Es giebt doch wirklich Menschen, die besondres Pech haben!«

»Nun, sie ist doch immerhin eine, die zu dem Match Hypperbone mit gewählt wurde.«

»Ein rechtes Glück, wenn man nicht daran theilnehmen kann!«

»Und wenn Lissy Wag auch im Stande wäre, rechtzeitig abzufahren, wer sagt, daß sie auch die Anstrengungen so vielfacher Reisen auszuhalten vermöchte?«

»Oho, vollkommen . . . wenn sich die Partie nach wenigen Zügen entscheidet, was ja nicht ausgeschlossen ist.«

»Wenn sie aber monatelang dauert? . . .«

»Weiß man denn jemals, wie der Zufall spielt?«

So schwirrten Reden und Gegenreden hundertfach durcheinander.

Selbstverständlich stellten sich zahlreiche Neugierige – vielleicht an Wetten betheiligte, jedenfalls aber viele Journalisten – an Jovita Foley's Wohnung ein. Trotz ihrer Bitten weigerte sie sich aber, die Leute zu empfangen. Infolgedessen tauchten desto mehr einander widersprechende Nachrichten über die Krankheit auf, die durch Uebertreibung entstanden oder völlig falsch waren, und verbreiteten sich mit Windeseile in der ganzen Stadt. Jovita Foley blieb aber fest; sie trat nur ans Fenster, um den tollen Lärm auf der Straße zu verwünschen. Eine Ausnahme machte sie nur mit einem Angestellten des Hauses Marshall Field, dem sie übrigens die beruhigendsten Mittheilungen machte . . . es handle sich um einen Rheumatismus . . . einen einfachen Rheumatismus.

Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags, als der Lärm sich verdoppelte, steckte sie einmal den Kopf zum Fenster hinaus und erkannte unter der erregten Menschenmenge . . . wen? . . . Hodge Urrican. Ihn begleitete ein Mann von etwa vierzig Jahren, anscheinend ein kräftiger, untersetzter Seemann, der sehr heftig gesticulierte. Man hätte ihn für noch aufbrausender und grimmiger als den schrecklichen Commodore selbst halten können.

Theilnahme für seine jugendliche Partnerin konnte es schwerlich sein, die ihn heute hierher gelockt hatte, als er vor dem Hause in der Sheridan Street auf und ab stampfte und dessen Fenster mit den Blicken verschlang. Jovita Foley bemerkte auch noch ganz deutlich, daß der ihn begleitende, noch unruhigere Mann die Hände ballte, als ob er sich gar nicht mehr zu beherrschen wüßte.

Unter den Nahestehenden verlautete da, daß die Krankheit Lissy Wag's nur auf ein unbedeutendes Unwohlsein hinauslaufe.

»Welcher Schwachkopf hat das behauptet?« fuhr er wüthend auf.

Der betreffende »Schwachkopf« unterließ es, aus Furcht, es könne ihm übel mitgespielt werden, sich zu erkennen zu geben.

»Schlecht . . . schlecht geht es mit ihr!« erklärte der Commodore Urrican.

»Und wird noch immer schlechter!« setzte sein Begleiter hinzu. »Wer nur das Gegentheil zu behaupten wagt . . .«

»So fasse Dich doch, Turk!«

»Ich . . . mich fassen?« entgegnete Türk, dessen Augen in Tigerwuth aufflammten. »Das mag leicht sein für Sie, Commodore, für den geduldigsten Menschen auf Gottes Erdboden! Mich aber, wenn ich solch dummes Zeug höre, mich bringt's außer Rand und Band, und wenn ich mich einmal nicht mehr halten kann . . .«

»Nun ja, doch nun genug!« befahl Hodge Urrican, der seinen Begleiter am Arme schüttelte, als wolle er ihn ausreißen.

Wenn man solche Reden hörte, mußte man fast glauben – früher hätte es niemand für möglich gehalten – daß hienieden noch ein Mensch existierte, neben dem der Commodore Hodge Urrican der reine Engel der Sanftmuth wäre.

Beide waren übrigens nur hierher gekommen in der Hoffnung, schlechte Nachrichten zu erhalten und sich zu vergewissern, daß das Match Hypperbone nur zwischen sechs Partnern ausgespielt werde.

Das sagte sich auch Jovita Foley, die große Mühe hatte, nicht auf die Straße hinunter zu stürzen. Sie verspürte das größte Verlangen, die beiden Männer zu behandeln, wie sie es verdienten, selbst auf die Gefahr hin, von dem Tiger in Menschengestalt zerfleischt zu werden.

Infolge dieser Verhältnisse waren die Mittheilungen der bedeutendsten Blätter, die um sechs Uhr abends erschienen, voll der seltsamsten Widersprüche.

Nach den einen hatte sich das Unwohlsein Lissy Wag's schon nach den ersten ärztlichen Verordnungen gehoben, und die Abfahrt des jungen Mädchens würde sich nicht um einen Tag verzögern.

Nach andern zeigte die Krankheit wenigstens keinen ernsten Charakter; nur verlangte sie eine gewisse Zeit der Ruhe, und Miß Wag werde vor Ende der Woche nicht abreisen können.

Grade die dem jungen Mädchen sonst günstig gestimmten Zeitungen, der »Chicago Globe« und der »Chicago Evening«, schienen am besorgtesten zu sein. Sie sprachen von einer Konsultation der »Leuchten der Wissenschaft«, von einer vorzunehmenden Operation . . . Miß Wag habe den Arm gebrochen – sagte die eine – ein Bein gebrochen – berichtete die andre. Endlich war sogar ein anonymer Brief an den Notar Tornbrock, den Testamentsvollstrecker des Heimgegangenen, geschrieben worden, der ihm meldete, daß die fünfte Partnerin auf den ihr möglicherweise zufallenden Theil der Erbschaft verzichte.

Die »Chicago Mail«, deren Redacteure die Sympathien und Antipathien des Commodore Urrican theilten, verstiegen sich selbst bis zu der Erklärung, daß Lissy Wag zwischen vier Uhr fünfundvierzig und vier Uhr siebenundvierzig Minuten des Nachmittags den letzten Seufzer ausgehaucht habe.

Als Jovita Foley von diesen Mittheilungen Kenntniß erhielt, wäre sie bald selbst noch krank geworden. Der Doctor Pughe, der am Abend wiederkam, wußte sie aber in dieser Hinsicht zu beruhigen.

Auch bezüglich der Miß Lissy Wag wiederholte er, daß es sich nur um eine einfache Bronchitis handle. Es habe sich bisher kein Symptom der bösen Pneumonie oder der gefürchteten Lungencongestion gezeigt . . . wenigstens bis zur Stunde nicht . . . und es würden einige Tage der Ruhe genügen . . .

»Wieviel denn?«

»Vielleicht sieben bis acht Tage.«

»Sieben bis acht!«

»Und unter der Bedingung, daß sie sich keinem Luftzuge aussetzt.«

»Sieben bis acht Tage!« wiederholte die Unglückliche Jovita Foley, vor Verzweiflung die Hände ringend.

»Und das auch nur, wenn keine ernsten Complicationen eintreten!«

Die Nacht verlief nicht besonders gut. Das Fieber meldete sich wieder; der Anfall hielt bis zum Morgen an und löste sich in einem reichlichen Schweiß auf. Jedenfalls schien das Luftröhrenleiden aber etwas gemildert und der Auswurf ging ohne größere Anstrengung von statten.

Jovita Foley legte sich gar nicht nieder; sie verbrachte die endlos langen Stunden am Schmerzenslager ihrer armen Freundin. Keine Krankenwärterin hätte so viel Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Eifer entwickeln können. Uebrigens hätte sie ihren Platz auch keiner Fremden abgetreten.

Am nächsten Tage schlief Lissy Wag, die sich am frühen Morgen eine Zeitlang ziemlich beklemmt gefühlt hatte, bald wieder ein.

Es war nun der 9. Mai und im Saale des Auditoriums sollten zur Fortsetzung des Match Hypperbone zum fünftenmale die Würfel fallen.

Jovita Foley hätte zehn Jahre ihres Lebens darum gegeben, dabei gegenwärtig sein zu können. Doch, die Kranke verlassen? . . . Nein, daran war nicht zu denken. Da erwachte aber Lissy Wag schon wieder und redete ihre Freundin an.

»Meine gute Jovita,« sagte sie, »bitte unsre Nachbarin, daß sie kurze Zeit bei mir bleibt . . .«

»Du willst, daß . . .«

»Ich will, Du sollst nach dem Auditorium gehen. Es soll doch um acht Uhr geschehen, nicht wahr?«

»Ja, pünktlich um acht.«

»Nun sieh, zwanzig Minuten darauf kannst Du ja schon wieder zurück sein. Ich sähe Dich so gern dort, und da Du glaubst, daß ich Aussichten haben könnte . . .«

Ob ich das glaube! hätte Jovita Foley drei Tage vorher gewiß gerufen. Heute antwortete sie überhaupt nicht. Sie drückte einen Kuß auf die Stirn der Kranken und holte die Nachbarin, eine würdige Dame, die sofort auf dem Sessel am Bette Platz nahm. Dann eilte sie hinunter, warf sich in einen Wagen und ließ sich nach dem Auditorium fahren.

Um sieben Uhr vierzig Minuten stand Jovita Foley an der Thür des schon überfüllten Saales. Gleich beim Eintreten erkannt, wurde sie mit hundert Fragen bestürmt.

»Wie steht es mit Lissy Wag?«

»Ganz ausgezeichnet,« erklärte sie mit der Bitte, ihr Platz zu machen, damit sie nach der Bühne gelangen könne. Das geschah denn auch.

Da das Ableben des jungen Mädchens durch die Morgenblätter ausdrücklich bestätigt worden war, wunderten sich einige Anwesende nicht wenig, deren Busenfreundin hier, und nicht einmal in Trauerkleidung, erscheinen zu sehen.

Zehn Minuten vor acht Uhr betraten der Vorsitzende und die Mitglieder des Excentric Club, in ihrer Mitte Meister Tornbrock, die Bühne und nahmen vor dem Tische daselbst Platz.

Vor den Augen des Notars war die Landkarte ausgebreitet. Die Würfel lagen neben dem ledernen Becher. Noch fünf Minuten, und an der Uhr des Saales mußte es acht schlagen.

Da unterbrach eine dröhnende Stimme die nur langsam eintretende Ruhe.

An dem brummenden Basse erkannte man die Stimme als die des Commodore.

Hodge Urrican verlangte das Wort zu einer kurzen Bemerkung. Es wurde ihm zugestanden.

»Mir scheint es, Herr Präsident,« sagte er, jedes weitere Wort immer schärfer und lauter aussprechend, »mir scheint es, man dürfe, um dem Willen des Verstorbenen genau nachzukommen, heute als zum fünftenmale nicht würfeln, da die fünfte Partnerin gar nicht im Stande ist . . .«

»Jawohl . . . ganz richtig!« heulten mehrere aus der Gruppe, wo Hodge Urrican sich aufhielt, und mit noch durchdringenderer Stimme als die andern der aufbrausende Mann, der den Commodore gestern unter Jovita Foley's Fenstern begleitet hatte.

»Still, Turk, still!« herrschte ihn Hodge Urrican an, als wenn er zu einem Hunde spräche.

»Ich soll still sein . . .«

»Augenblicklich!«

Turk zwang sich unter dem flammensprühenden Blicke Hodge Urrican's zu schweigen.

»Wenn ich diesen Vorschlag mache,« fuhr der sechste Partner fort, »so geschieht das, weil ich ernste Gründe habe zu glauben, daß die fünfte Partnerin weder heute noch morgen wird abreisen können . . .«

»Nicht einmal in acht Tagen,« warf aus dem Hintergrunde einer der Anwesenden ein.

»Weder in acht Tagen, noch in vierzehn oder dreißig Tagen,« versicherte der Commodore Urrican, »einfach weil sie diesen Morgen fünf Uhr siebenundvierzig Minuten gestorben ist.«

Ein langanhaltendes Gemurmel folgte dieser Erklärung. Es wurde aber bald durch eine weibliche Stimme übertönt, die dreimal rief:

»Das ist nicht wahr . . . nicht wahr . . . nicht wahr! Ich selbst, Jovita Foley, habe Lissy Wag erst vor fünfundzwanzig Minuten lebend und ganz kräftig lebend verlassen!«

Das veranlaßte neues Geschrei, neue Proteste von Urrican und seinen Anhängern. Nach der so bestimmten Erklärung des Commodore konnte von Lissy Wag nicht mehr die Rede sein. Hätte sie nicht todt sein müssen, da er ihr Ableben verkündigte?

Doch wie dem auch sein mochte, es wäre schwierig gewesen, Hodge Urrican's Aussage zu bejahen. Nichtsdestoweniger bestand der halsstarrige Mann auf seinem Vorschlage und kleidete diesen nur in etwas andre Form ein.

»Zugegeben,« sagte er, »die fünfte Partnerin möge nicht todt sein, das ändert doch nichts an der Sache. Gegenüber den obwaltenden Umständen verlange ich, daß jetzt für mich achtundvierzig Stunden vor dem eigentlichen Termin gewürfelt werde, und daß das Ergebniß für den sechsten Partner zu gelten habe, der damit in die fünfte Stelle aufrückte!«

Erneute dröhnende Ausrufe und Fußgestampf folgte diesem Verlangen Hodge Urrican's, der von seinen Parteigängern unterstützt wurde, die es verdienten, unter seiner Flagge zu segeln.

Endlich gelang es Meister Tornbrock, die gröhlende Menge zu beruhigen, und allmählich trat erwartungsvolles Schweigen ein.

»Der Antrag des Herrn Hodge Urrican,« begann er, »stützt sich auf eine falsche Auslegung des Willens unsres Testators und widerspricht auch den Regeln des Edeln Vereinigte Staatenspiels. Wie der Gesundheitszustand der fünften Partnerin auch sein mag, selbst wenn er sich so weit verschlimmerte, sie aus den Reihen der Lebenden zu streichen, enthebt das mich als den Testamentsvollstrecker William J. Hypperbone's doch nicht der Pflicht, heute am neunten Mai das Auswürfeln des Feldes für Lissy Wag vorzunehmen. Hat sie sich nicht binnen vierzehn Tagen, todt oder nicht, an den ihr zugewiesenen Platz begeben, so geht sie ihres Anrechts verlustig und die Partie wird nur zwischen sechs Teilnehmern ausgespielt.«

Jetzt protestierte Hodge Urrican mit sinnloser Heftigkeit. Er erklärte mit wüthender Geberde, wenn es eine falsche Auslegung des Testaments gebe, so sei es die des Meister Tornbrock, obwohl der Excentric Club der Auffassung des Notars zustimmte. Als er diese herausfordernden Worte ausstieß, erschien der Commodore, so geröthet vor Wuth er auch aussah, doch noch ziemlich blaß neben seinem Begleiter, dessen Gesicht eine fast scharlachrothe Farbe angenommen hatte.

Gleichzeitig hatte Urrican das Gefühl, daß er Turk zurückhalten müsse, um ein Unglück zu verhüten.

So packte er denn diesen, grade als er fortstürmen wollte.

»Wohin willst Du? . . .« fragte er.

»Dorthin!« antwortete Turk, mit der Faust nach der Bühne weisend.

»Wozu?«

»Ich will diesen Tornbrock am Halse packen und ohne weiteres hinauswerfen.«

»Hier . . . Turk . . . hier!« befahl der Commodore Urrican.

Turk ließ ein dumpfes Brummen ertönen, wie das schlecht gezähmte Raubthier, das seinen Bändiger zu verschlingen trachtet.

Da schlug es acht Uhr.

Sofort folgte dem Geräusch im Saale ein tiefes Schweigen.

Jetzt ergriff Meister Tornbrock – vielleicht etwas erregter als gewöhnlich – den Würfelbecher mit der rechten Hand, legte mit der linken die Würfel hinein und schüttelte ihn, wobei er ihn mehrmals hob und senkte. Man hörte es, wie die kleinen Elfenbeinkuben an einander und an die Lederwand schlugen, und beim Umstürzen rollten sie über die Karte bis ans Ende des Tisches.

Meister Tornbrock ersuchte Georges B. Higginbotham und dessen Kollegen, die gewürfelte Zahl zu bestätigen, und rief darauf mit klarer Stimme:

»Neun, durch sechs und drei!«

Eine glückliche Zahl, denn die fünfte Partnerin kam damit sogleich nach dem sechsundzwanzigsten Felde, dem Staate Wisconsin.

 


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