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Am heutigen Abend und am nächsten Morgen riß man sich förmlich um die Zeitungen und kämpfte vor den Verkaufsständen von solchen, wenn für ein Exemplar auch der doppelte, der dreifache Preis gezahlt werden mußte. Achttausend Personen hatten ja nur der Verlesung des Testaments beiwohnen können, Hunderttausende von Amerikanern in Chicago und Millionen derselben in den Vereinigten Staaten war das nicht vergönnt gewesen.
Wenn die Leitartikel, die Interviews und Berichte der Blätter die Massen auch in hohem Maße befriedigten, so verlangte man doch allgemein und dringlich die Veröffentlichung eines Belegstückes, das zu dem Testamente gehörte.
Man wollte die Karte des Edeln Vereinigte Staatenspiels sehen, die William J. Hypperbone entworfen hatte und die sich völlig der für das Edle Gänsespiel gebrauchten anschließen sollte. Alle Welt fragte sich, wie das ehrenwerthe Mitglied des Excentric Club die fünfzig Staaten der Union geordnet habe, welche die seien, die einen längern oder kürzern Aufenthalt der reifenden Spieler, ein Wiederanfangen der ganzen Partie oder ein Zurückversetzen derselben mit Erlegung des einfachen, doppelten oder gar dreifachen Einsatzes bedingten.
Natürlich lag, noch mehr als dem Publicum, den »Sechsen« und deren persönlichen Freunden daran, hierüber zuverlässigen Aufschluß zu erhalten.
Dank dem Fleiß und Eifer Georges B. Higginbotham's und Meister Tornbrock's wurde die, der des Entschlafenen getreu nachgebildete Karte in weniger als vierundzwanzig Stunden gezeichnet, graviert, coloriert und gedruckt, so daß sogleich mehrere Millionen Exemplare zu zwei Cents über ganz Amerika verbreitet werden konnten. Der niedrige Preis machte sie allen Leuten zugänglich; jedermann konnte darauf, etwa durch hineingesteckte Nadeln, jeden Würfelfall bezeichnen und dem Verlaufe der merkwürdigen Spielpartie folgen.
Die fünfzig, damals die Republik der Vereinigten Staaten bildenden Einzelländer waren auf der Karte in folgender Ordnung numeriert:
Das war die Reihenfolge der Staaten in den dreiundsechzig Feldern, unter denen Illinois vierzehnmal vorkam.
Zunächst ist hierbei darauf hinzuweisen, welche die von William J. Hypperbone ausgewählten Staaten waren, wo einestheils Einsätze erlegt werden mußten und sich anderntheils vom Unglück verfolgte Spieler genöthigt sahen, entweder zu verweilen oder gar einen höchst beklagenswerthen Rückzug anzutreten.
Solcher Felder, hier Staaten, gab es sechs.
Der Staat Illinois, der auf der Karte vierzehnmal, nämlich auf dem fünften, neunten, vierzehnten, achtzehnten, dreiundzwanzigsten, siebenundzwanzigsten, zweiunddreißigsten, sechsunddreißigsten, einundvierzigsten, fünfundvierzigsten, fünfzigsten, vierundfünfzigsten, neunundfünfzigsten und auf dem dreiundsechzigsten Felde vorkam, entsprach den Feldern mit dem Bilde der Gans. Die Theilnehmer dürfen hier aber nicht verweilen, sondern ziehen um die Zahl der Augen, die sie durch den letzten Wurf erhalten hatten, weiter, bis sie auf ein Feld treffen, das nicht dem sympathischen Vogel vorbehalten war, um dessen Ehrenrettung William J. Hypperbone sich bemühte.
Bekam der Spieler beim ersten Würfeln freilich die Augenzahl neun, so würde er, von Gans zu Gans springend, sofort nach dem dreiundsechzigsten Felde gelangt sein. Da die Zahl neun nun mit zwei Würfeln nur auf zweierlei Weise erzielt werden kann, durch drei und sechs oder durch fünf und vier Augen, muß sich der Partner im ersten Falle nach dem sechsundzwanzigsten Felde (dem Staate Wisconsin), im zweiten nach dem dreiundfünfzigsten Felde (dem Staate Florida) begeben.
Ein solcher begünstigter Theilnehmer gewann damit augenscheinlich einen großen Vorsprung gegenüber seinen Mitbewerbern. Dieser Vortheil war indeß mehr ein scheinbarer als ein wirklicher, weil es ja darauf ankommt, das letzte Feld durch einen an Augenzahl genau passenden Wurf zu erreichen und der Spieler um so viele Felder wieder zurückgehen muß, als er etwa zu viele Augen bekam.
Endlich ist nicht zu vergessen, daß jeder Partner, wenn ein andrer ihn einholte, diesem sein Feld überlassen, auf dessen zuletzt innegehabtes zurückweichen und außerdem noch einen einfachen Einsatz bezahlen mußte. Hiervon wurde er nur dann nicht betroffen, wenn er das betreffende Feld schon am Tage vor der Ankunft des zweiten Spielers verlassen hatte. Diese Ausnahme war von dem Testator in Hinblick auf die durch jede Ortsveränderung bedingten Verzögerungen zugestanden worden.
Nun gab es aber auch noch eine zweite, sicherlich recht interessante Frage, die durch Betrachtung der Karte allein nicht zu beantworten war.
Welches war in jedem Staate der Ort, wohin sich jeder der Spieler zu begeben hatte? War das die officielle Hauptstadt (der Regierungssitz), die durch ihre Bedeutung am meisten hervorragende Stadt, oder vielleicht eine geographisch oder geschichtlich merkwürdige Oertlichkeit?
Lag nicht die Vermuthung nahe, daß der Verstorbene auf Grund seiner vielfachen Reisen den durch irgend etwas berühmten Orten den Vorzug gegeben habe? Eine dem Testamente angefügte Bemerkung enthielt zwar diese Ortsbestimmungen, der Einzelne durfte darüber aber nichts erfahren, außer was ihm, nachdem für ihn gewürfelt war, telegraphisch mitgetheilt wurde. Diese Depesche hatte der Notar Tornbrock an jeden Teilnehmer dahin abzulassen, wo dieser sich entsprechend dem Verlaufe des Spiels zur Zeit grade befinden sollte.
Selbstverständlich veröffentlichten die amerikanischen Zeitungen diese Nebenbestimmungen und erinnerten dabei daran, daß die Regeln des Edeln Gänsespiels in voller Strenge eingehalten werden müßten.
Was die Zeitbewilligung dafür betraf, daß sich die Spieler von einem Orte nach dem ihnen gemeldeten nächsten begaben, so war diese mehr als hinreichend, wenn auch an jedem zweiten Tage einmal gewürfelt werden sollte. Da es sich um sieben Spieler handelte, hatte jeder siebenmal zwei, also vierzehn Tage Zeit, und so viel brauchte er nicht, wenn die Depesche ihn auch von einem Ende der Union zum andern, z. B. von Maine nach Texas oder von Oregon nach dem äußersten Süden von Florida zu gehen vorschrieb. Jener Zeit war das ganze Bundesgebiet schon von einem engmaschigen Schienennetz bedeckt, und unter Benutzung der Fahrpläne und Verkehrskarten konnte man sehr schnell überallhin gelangen.
Das waren die Vorschriften, woran nicht zu mäkeln war. Hier hieß es entweder – oder, biegen oder brechen.
Die Betreffenden beugten sich.
Natürlich thaten das nicht alle mit dem nämlichen Eifer. In dieser Beziehung kamen dem Commodore Urrican nur Tom Crabbe – oder vielmehr John Milner – und etwa Hermann Titbury gleich. Max Real und Harris T. Kymbale betrachteten die Geschichte mehr vom touristischen Standpunkte, der eine, um Vorwürfe für Bilder zu wählen, der andre, um Stoff für Zeitungsartikel zu sammeln. Jovita Foley aber erklärte Lissy Wag in Bezug auf diese Angelegenheit folgendes:
»Ich werde, liebe Lissy, Herrn Marshall Field darum ersuchen, daß er Dir und auch mir einen Urlaub bewilligt, denn ich werde Dich unbedingt bis zum dreiundsechzigsten Felde begleiten . . .«
»Die ganze Geschichte ist ja eine Tollheit!« antwortete das junge Mädchen.
»O, das gerade Gegentheil,« erwiderte Jovita Foley, »und da Du es bist, die die sechzig Millionen Dollars des ehrenwerthen Herrn Hypperbone gewinnen wird . . .«
»Ich? . . .«
»Ja, ja, Du, Lissy. Du trittst mir dann für meine Bemühungen die Hälfte davon ab.«
»Alles . . . wenn Du es wünschest . . .«
»Angenommen!« rief Jovita Foley im größten Ernste.
Es versteht sich wohl, daß Frau Titbury ihrem Hermann auf allen seinen Kreuz- und Querzügen folgen sollte, obgleich das die doppelte Ausgabe verursachte. Würde es ihnen nicht ausdrücklich untersagt, zusammen zu reisen, so wollten sie es thun. Das schien für beide Theile besser zu sein.
Uebrigens drang Frau Titbury darauf, ebenso wie sie es durchgesetzt hatte, daß Herr Titbury seine Rolle als Partner übernahm, denn solches Hin- und Herfliegen von Ort zu Ort im Verein mit den dabei unumgänglichen Ausgaben erschreckten das ebenso furchtsame wie geizige Männchen gewaltig. Die herrschsüchtige Kate hatte aber einmal ihren Kopf aufgesetzt, und Hermann mußte wohl oder übel gehorchen.
Ganz ähnlich lag es mit Tom Crabbe, dem sein Traineur ebenfalls nicht von der Seite weichen wollte und der, das konnte man glauben, jenen schon tüchtig herumschleppen würde.
Ob der Commodore Urrican, Max Real und Harris T. Kymbale allein oder in Begleitung eines Dieners reisen wollten, darüber hatten sich die Genannten noch nicht ausgesprochen. Eine Testamentsklausel, die ihnen verboten hätte, einen Begleiter mitzunehmen, gab es nicht. Sie hatten also freie Wahl und konnten auch auf den einen oder den andern wetten, wie man auf Rennpferde zu wetten pflegt.
Wir brauchen hier wohl nicht besonders hervorzuheben, daß die posthume Excentricität William J. Hypperbone's in der Neuen und sogar in der Alten Welt ein ungeheures Aufsehen erregt hatte.
Bei der Speculationswuth der Amerikaner war nicht zu bezweifeln, daß sie ungeheure Summen auf den Ausgang der aufregenden Partie verwetten oder sich mit solchen daran mittelbar betheiligen würden.
Auf die eignen Hilfsmittel gestützt, konnten freilich nur Hermann Titbury und Hodge Urrican, beide sehr reiche Leute, und etwa John Milner, der durch die Ringkämpfe Tom Crabbe's viel Geld verdiente, darauf rechnen, daß sie unterwegs, wegen Nichterlegung der Einsätze, nicht aufgehalten würden. Ihrem Mitarbeiter Harris T. Kymbale erbot sich die »Tribune« – das war ja eine unschätzbare Reclame für das Blatt – den notwendigen Credit zu eröffnen.
Max Real bekümmerte sich blutwenig um diese finanzielle Verpflichtung, die er werde erfüllen oder nicht erfüllen können. Das wollte er erst im eingetretenen Fall beurtheilen.
Was Lissy Wag anging, so suchte Jovita Foley deren Bedenken zu zerstreuen.
»Fürchte Dich nur nicht, meine Liebe, wir verwenden alle unsre Ersparnisse auf die Kosten der Reise.«
»Damit werden wir nicht weit kommen, Jovita . . .«
»Sehr weit, Lissy!«
»Wenn wir aber in die Lage kommen, Einsätze zahlen zu müssen . . .«
»Das kommt nicht vor . . . wir haben nur zu gewinnen!« erklärte Jovita Foley so bestimmten Tones, daß Lissy Wag es vorzog, ihr nicht weiter zu widersprechen.
Höchst wahrscheinlich wurden weder Lissy Wag noch Max Real die Objecte der amerikanischen Speculanten, da die Nichtzahlung eines Einsatzes sie zu Gunsten ihrer Mitbewerber von der Partie ausschloß.
Was bei dem oder jenem vielleicht zum Vortheile Max Real's sprechen konnte, war der Umstand, daß es ihm durch das Los beschieden war, zuerst abzureisen. Der Commodore Urrican geberdete sich wegen seines »Pechs« wie ein Wahnsinniger. Er konnte nun einmal nicht darüber hinwegkommen, daß ihm nach Max Real, Tom Crabbe, Hermann Titbury, Harris T. Kymbale und Lissy Wag erst die Nummer sechs zugefallen war. Und doch war das, wie hier wiederholt sei, von gar keiner ernsten Bedeutung. Der zuletzt Abreisende konnte ja alle seine Partner mit einem Schlage überholen, wenn er durch fünf und vier Augen beim ersten Würfeln sogleich nach dem dreiundfünfzigsten Felde, nach dem Staate Florida, versetzt würde. Denn so wunderbar kann ja der Verlauf des Spieles sein, das man – wir folgen hier der Legende – der feinen und dichterischen Veranlagung der alten Hellenen verdankt.
Offenbar wollte die von Anfang an sehr erregte Allgemeinheit nichts von den Schwierigkeiten und noch weniger von den Anstrengungen der bevorstehenden Reise wissen. Sicherlich war es möglich, daß die ganze Sache in wenigen Wochen abgemacht war, sie konnte sich aber auch Monate, ja Jahre hindurch hinziehen. Die Mitglieder des Excentric Club, die Zeugen oder Theilnehmer der von William J. Hypperbone täglich veranlaßten, oft endlosen Partien gewesen waren, konnten darüber aus Erfahrung sprechen. Sich bei solcher Ueberanstrengung und mit der vorgeschriebenen Schnelligkeit von einem Orte zum andern zu begeben, legte die Gefahr nahe, daß einige der Partner durch Erkrankung aufgehalten werden und gezwungen sein könnten, selbst die besten Aussichten auf Erreichung des Zieles zu Gunsten eines energischeren oder vom Zufall mehr begünstigten Theilnehmers unbenutzt zu lassen.
Um eine derartige Möglichkeit kümmerte sich zunächst freilich niemand. Alle konnten es kaum noch erwarten, daß die Sache in Gang käme, um dann, wenn die »Sechs« unterwegs waren, an allem, was ihnen zustieß, theilzunehmen, sie im Geiste zu begleiten oder ihnen gar wirklich zu folgen, wie es oft Herrenradfahrer thun, wenn sie mit Berufsfahrern bei deren Rennen durch Amerika Schritt zu halten suchen.
Wie lief den Hôtelwirthen der von den Reisenden berührten Staaten da schon im voraus das Wasser im Munde zusammen!
Ueberlegte sich das Publicum auch nicht die Hindernisse jeder Art, die sich vor den Spielern aufthürmen konnten, so tauchte bei einigen von diesen jetzt doch ein übrigens recht nahe liegender Gedanke auf. Warum sollten sie denn nicht untereinander ein Abkommen treffen – ein Abkommen, wonach der Gewinner sich verpflichtete, seinen Gewinn mit denen, die das Schicksal nicht begünstigt hatte, zu theilen, oder wenigstens, wenn er etwa die Hälfte des ungeheuern Vermögens für sich behielt, doch die andre Hälfte den minder Glücklichen abzutreten? Dreißig Millionen Dollars für ihn und der Rest für die Verlierenden, das erschien ja annehmbar. In jedem Falle gesichert zu sein, fünf Millionen einzuheimsen – diese Aussicht schien praktischen und nicht abenteuersüchtigen Leuten einer ernsten Erwägung werth zu sein.
Irgend welche Verletzung der Vorschriften des Erblassers war damit nicht verbunden; die Partie wurde auf jeden Fall in der von ihm geregelten Weise gespielt und dem Gewinner war es freigestellt, über seinen Gewinn nach Gutdünken zu verfügen.
Die Mitbewerber und sonstigen Interessierten wurden denn auch, auf Betrieb des einen von ihnen – offenbar des Klügsten – zu einem Zusammentreten eingeladen, wo der erwähnte Vorschlag besprochen werden sollte. Hermann Titbury war sofort bereit, ihn anzunehmen – man bedenke nur: fünf Millionen Dollars, die einem jeden garantiert wären! Bei dem ihr eignen Temperament einer alten Spielerin zögerte Frau Titbury anfänglich, ihrem Gatten die Erlaubniß, dem Vorschlage zuzustimmen, zu ertheilen, schließlich gab sie aber doch nach. Nach einiger Ueberlegung, denn er war ein etwas abenteuerlustiger Charakter, fügte sich auch Harris T. Kymbale jenem Vorschlage und ebenso Lissy Wag auf Anrathen ihres Chefs des Herrn Marshall Field und trotz des Widerspruchs der ehrgeizigen Jovita Foley, die entweder alles oder nichts haben wollte. Was John Milner betraf, so wünschte er gar nichts mehr, als daß das Abkommen, bei dem er von Tom Crabbe's Antheil auch nicht wenig zu erhalten hoffte, zu Stande käme, und wenn sich Max Real erst ein wenig bitten ließ, so lag das daran, daß bei Künstlern ja gewöhnlich eine Schraube etwas locker ist. Uebrigens ließ er sich, wenn es ihm auch nur darum zu thun war, Lissy Wag, für deren Lage er sich lebhaft interessierte, nicht entgegenzutreten, leicht genug bereit finden, das geplante schriftliche Abkommen zu unterzeichnen.
Um dieses aber in jedem Falle wirksam werden zu lassen, bedurfte es der Unterschrift aller Theilnehmer der Spielpartie. Fünf stimmten nun der Übereinkunft zu, den Starrsinn des sechsten vermochten jedoch die besten Vernunftgründe nicht zu beugen. Der Leser erräth wohl, daß es Hodge Urrican war, der keine Vernunft annehmen wollte. Er war vom Schicksal auserkoren, an dem Spiele teilzunehmen und wollte das auch bis zum Ende ausführen. Die Besprechung mußte abgebrochen werden, denn der Commodore blieb bei seinem unüberwindlichen Widerspruch, trotz der Drohung eines kräftigen Fauststoßes, den Tom Crabbe auf Anstiften John Milner's schon bereit war, ihm zukommen zu lassen und der ihm gewiß einige gesunde Rippen gekostet hätte. Ueberdies vergaß man noch eine Sache, daß nach dem Codicill nicht sechs, sondern sieben Spieler vorhanden waren; es kam doch der Unbekannte, jener von William J. Hypperbone gewählte X. K. Z. hinzu Wer war es? . . . Wohnte er in Chicago? . . . Hatte vielleicht Meister Tornbrock nähere Kenntniß von ihm? . . . Das Codicill bestimmte, daß der Name der geheimnißvollen Persönlichkeit nur genannt werden sollte, wenn diese die Partie gewönne. Das ließ den Geistern nun gar keine Ruhe übrig und verlieh der Geschichte ein neues Object der Neugier. Da dieser X. K. Z. das vorgeschlagene Abkommen gut zu heißen nun gar nicht im Stande war, konnte es also auch nicht zu einem völlig befriedigenden Abschlusse kommen, selbst wenn der Commodore Urrican seine Zustimmung dazu gegeben hätte.
Es blieb nun nichts anders übrig, als zu warten, wie die Würfel das erstemal fallen würden, und das sollte am 30. April im Theatersaale des Auditoriums bekanntgegeben werden.
Heute war der 24. April – sechs Tage dauerte es noch bis zu dem schicksalsschweren Termine. Was die nöthigen Reisevorbereitungen anging, so fehlte es dazu dem Commodore Urrican, der erst als Sechster aufbrechen sollte, nicht an Zeit, auch nicht den vier andern, Tom Crabbe, Hermann Titbury, Harris T. Kymbale und Lissy Wag, die alle noch vor ihm abreisen sollten.
Grade der aber, der sich als erster auf den Weg machen sollte, schien sich über die Reise am wenigsten den Kopf zu zerbrechen. Der phantastische Max Real verrieth wenig oder gar nicht, daß er an die ganze Geschichte dachte. Frau Real, die nach ihrem Weggange von Quebec nun ebenfalls in dem Hause ihres Sohnes in der Halsted Street wohnte, ging die Angelegenheit offenbar mehr zu Herzen; sie ermahnte den jungen Maler deshalb, seine Vorbereitungen zu beschleunigen.
»Ich habe ja noch Zeit genug!« antwortete er darauf.
»O nein . . . nicht mehr viel Zeit, mein Kind!«
»Aber, liebe Mutter, was hat es denn nur für Zweck, sich in dieses thörichte Abenteuer einzulassen?
»Wie Max, Du wolltest die sich bietende Gelegenheit nicht beachten . . .«
»Ein vielfacher Millionär zu werden?«
»Ja freilich,« fuhr die vortreffliche Dame fort, die sich denselben Träumereien wie alle Mütter für ihre Söhne hingab.
»Morgen . . . liebe Mutter . . . übermorgen! . . . Doch nein . . . am Tage vor der Abfahrt!«
»Sage nur wenigstens, was Du auf die Fahrt alles mitnehmen willst.«
»Meinen Pinsel, meinen Farbenkasten, Malerleinwand . . . meinen Rucksack, wie ein Soldat.«
»Bedenke doch, daß Du nach dem äußersten Ende Amerikas verschlagen werden könntest.«
»Höchstens nach dem der Vereinigten Staaten,« erwiderte der junge Mann, »und nöthigenfalls mache ich eine Reise um die Erde mit nichts als einem Handkoffer!«
Eine weitere Antwort war ihm nicht zu entlocken, denn er kehrte jetzt schon nach seinem Atelier zurück. Frau Real beharrte aber dabei, ihn eine so schöne Gelegenheit, ein Vermögen zu erwerben, nicht verfehlen zu lassen.
Lissy Wag mangelte es nicht an Zeit, da sie erst zehn Tage nach Max Real abreisen sollte, worüber die ungeduldige Jovita Foley sich nicht wenig beklagte.
»Welches Unglück, meine arme Lissy,« rief sie wiederholt, »daß Du erst die Nummer fünf hast!«
»O, beruhige Dich nur darum, liebste Freundin,« antwortete das junge Mädchen, »diese Nummer fünf ist so gut . . . oder so schlecht wie die andern!«
»Sage so etwas nicht, Lissy! Solche Gedanken darfst Du nicht hegen . . . das könnte uns Unglück bringen!«
»Ich bitte Dich, Jovita, sieh mir einmal gerade ins Gesicht! . . . Könntest Du im Ernste glauben . . .«
»Glauben, daß Du gewinnen müßtest? . . .«
Ja.«
»Dessen bin ich sicher, meine Liebe, so sicher, wie daß ich noch meine vollen zweiunddreißig Zähne habe!«
Lissy Wag schlug darüber ein so lautes Lachen an, daß Jovita Foley ihr darüber fast ernstlich böse geworden wäre.
Über die Gemüthsverfassung des Commodore Urrican brauchen wir kaum vieles zu sagen. Er lebte eigentlich gar nicht mehr. Zehn Minuten nachdem für ihn die Würfel gefallen wären, wollte er von Chicago abreisen, wollte sich keinen Tag, keine Stunde irgendwo aufhalten, selbst wenn man ihn nach den äußersten Evergladen der Halbinsel Florida schickte.
Das Ehepaar Titbury dachte nur an die fast Strafgeldern gleichenden Einsätze, die im unglücklichen Falle zu bezahlen waren – daran noch mehr, als an den gezwungenen Aufenthalt im Gefängnisse zu Missouri oder im Schachte von Nevada. Doch wer weiß – vielleicht lächelte den Titbury's das Glück und hielt sie von jenen verderblichen Orten fern.
Zum Schluß noch ein Wort über Tom Crabbe.
Der Boxer nahm, ohne sich um die Zukunft zu kümmern, täglich die gewohnten sechs Mahlzeiten ein und gedachte, an diesem löblichen Gebrauch auch im Verlaufe der Reise nichts zu ändern. Ein wie starker Esser er auch war, jedenfalls fand er, selbst in den unbedeutendsten Ortschaften, Gasthäuser, die seinen Bedarf allemal decken konnten. John Milner würde ja dabei sein und darüber wachen, daß ihm nichts abginge. Das mochte viele Kosten verursachen, bildete für den Champion der Neuen Welt aber auch eine ausgezeichnete Reclame, und vielleicht ließen sich unterwegs da und dort kleine Faustkämpfe veranstalten, aus denen der Kinnladenzertrümmerer jedenfalls mit Ehren und mit Gewinn hervorginge.
In Chicago und vielen andern Städten der Union hatten sich bereits Wettbureaus aufgethan, um über jeden einzelnen Partner besonders Buch zu führen. Natürlich konnten sie vor Beginn der großen Spielpartie noch nicht eigentlich in Thätigkeit treten. Und wenn die Ungeduld des Publicums schon zwischen dem 1. und dem 15. April – dem Tage der Testamentseröffnung – sehr groß gewesen war, so verminderte sie sich auch nicht zwischen dem 15. und 30. April, wo zum erstenmale die Würfel über die von William J. Hypperbone entworfene Karte rollen sollten. Alle Leute, die bei Pferderennen zu wetten liebten, konnten jetzt kaum noch die Stunde erwarten, um auf die »Sechs« – jetzt die »Sieben« – mehr oder weniger gewagte Wetten einzugehen, obwohl man hier gar keine Unterlagen für die Schätzung des möglichen Ausgangs benutzen konnte. Bei Rennpferden bieten solche Unterlagen ja z. B. die schon heimgebrachten Preise, die Abstammung von berühmten Hengsten und Stuten oder die Zuverlässigkeit der Zureiter. Hier aber konnte man nur die persönlichen, rein moralischen Eigenschaften der Partner gegeneinander abwägen.
Auf jeden Fall verhielt sich Max Real so seltsam, daß er sich die Gunst der Wettenden vollständig verscherzte. Wer würde es glauben, daß er am 29. April, also am Tage vor dem Termine, der für seine Abreise bestimmt war, Chicago verlassen hatte! Vor achtundvierzig Stunden war er, mit den Malgeräthen auf der Schulter, aufs Land hinausgegangen. Seine im höchsten Grade beunruhigte Mutter konnte nicht einmal sagen, wann er zurückkehren werde. Ah, wenn er irgendwo zurückgehalten würde, wenn er morgen nicht anwesend wäre, um auf den Aufruf seines Namens zu antworten, welche Befriedigung würde das dem sechsten Partner gewähren, der dadurch ja zum fünften aufrückte. Dieser Fünfte wäre dann nämlich Hodge Urrican, und dieser höchst merkwürdige Mann jubelte schon bei dem Gedanken, daß er in der Reihenfolge um eine Stelle vorrückte und nur fünf Mitbewerber zu bekämpfen hätte.
Noch am Morgen des 30. April hätte niemand sagen können, ob Max Real von seinem Ausfluge zurück sei, noch ob er sich im Saale des Auditoriums befinde.
Schlag zwölf Uhr schüttelte hier vor einer unruhigen Zuschauermenge Meister Tornbrock unter Aufsicht Georges B. Higginbotham's und umgeben von den Mitgliedern des Excentric Club den Würfelbecher mit fester Hand und ließ die beiden Würfel auf der Karte hinrollen . . .
»Vier und vier!« rief er laut.
»Acht!« antwortete mit einer Stimme der ganze Zuschauerkreis.
Die Zahl war die, mit der der Testator den Staat Kansas bezeichnet hatte.