Jules Verne
Die Eissphinx. Zweiter Band
Jules Verne

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XV. Die Eissphinx

Zwei Tage später befand sich keiner von den Ueberlebenden der beiden Goëletten mehr auf diesem Punkte der antarktischen Küste.

Es war am 21. Februar um sechs Uhr morgens, als das Boot, jetzt mit dreizehn Insassen, die kleine Bucht verließ und die Spitze von Halbrane-Land umschiffte.

Seit dem vorgestrigen Tage hatten wir über die Abfahrt verhandelt. Wurde sie endgiltig beschlossen, so durfte keinen Tag mehr gezögert werden, in See zu gehen. Noch einen Monat – doch höchstens einen Monat – war die Schifffahrt auf diesem Theile des Meeres zwischen dem sechsundachtzigsten und dem siebzigsten Breitengrade, d. h. bis zu der Stelle, die gewöhnlich durch den Packeiswall ziemlich ganz gesperrt war, im günstigsten Falle möglich. Gelang es uns, in dieser Zeit bis darüber hinauszukommen, so war Aussicht vorhanden, noch einen Walfänger zu treffen, der seine Fangperiode noch nicht geschlossen hatte, oder – wer weiß es? – einem französischen, englischen oder amerikanischen Schiffe zu begegnen, das an den Grenzen des südlichen Oceans eine Entdeckungsreise beendete. Nach Mitte März mußten diese Meerestheile von Seefahrern wie von Fischern verlassen sein, und dann konnten wir jede Hoffnung, von einem Schiffe aufgenommen zu werden, aufgeben.

Zuerst war die Frage aufgetaucht, ob es nicht rathsamer sei, da zu überwintern, wo wir es zu thun gezwungen gewesen wären, wenn William Guy nicht hierher kam, und sich häuslich für die sieben bis acht Monate einzurichten, so lange die Dunkelheit und die überaus strenge Kälte, die bald eintreten mußten, hier herrschten. Mit Anfang des kommenden Sommers, wenn das Meer erst wieder eisfrei geworden war, wäre das Boot dann nach dem großen Ocean zu gesteuert worden und wir hätten weit mehr Zeit gehabt, die tausend Seemeilen, die uns davon trennten, zurückzulegen. Wäre das nicht klug und weise gehandelt gewesen?

Doch so resigniert wir auch waren, wer hätte vor einer Ueberwinterung auf dieser Küste nicht zurückschrecken sollen, obgleich uns die Höhle hinreichenden Schutz bot und unser Leben, wenigstens was die Ernährung betraf, vollkommen gesichert erschien. Ja, resigniert . . . das ist man so lange, wie die Resignation von den Umständen erzwungen wird. Jetzt aber, wo sich die Gelegenheit von hier wegzukommen darbot, eine letzte Anstrengung zu scheuen, die uns eine baldige Heimkehr wenigstens möglich erscheinen ließ, nicht zu versuchen, was Hearne und seine Genossen unter weit ungünstigeren Verhältnissen gewagt hatten . . . nein, das wollte Keiner auf sich nehmen!

Das Für und Wider der Frage wurde sorgsamst erwogen. Nachdem jeder um seine Ansicht gefragt worden war, wurde ins Feld geführt, daß das Boot, wenn ein Hinderniß seine Fahrt unterbrechen sollte, schlimmsten Falles nach diesem Theil der Küste, dessen Gestaltung wir genau kannten, wieder zurückkehren könnte. Der Kapitän der »Jane« trat sehr nachdrücklich für eine sofortige Abfahrt ein, der auch Len Guy und Jem West trotz etwaiger Gefahren das Wort redeten. Ich stimmte gern ihrer Anschauung zu, der sich auch die Uebrigen ohne Widerspruch anschlossen.

Hurliguerly allein zeigte sich nicht recht einverstanden. Es erschien ihm unklug, das Gewisse für das Ungewisse hinzugeben. Drei bis vier Wochen hielt er für die Bootsfahrt zwischen Halbrane-Land und dem Polarkreise nicht für ausreichend. Und wie dann, wenn man gar etwa gegen die nach Norden laufende Strömung aufzukommen versuchen mußte? Kurz, der Hochbootsmann machte verschiedene Einwendungen geltend, die wohl Beachtung verdienten. Uebrigens war es aber nur Endicott, der sich auf seine Seite stellte, wohl mehr infolge der Gewohnheit, die Sachen aus dem nämlichen Gesichtswinkel wie er anzusehen. Nachdem jedoch Alles besprochen und wiederholt erwogen war, erklärte sich auch Hurliguerly bereit, mit abzufahren, da wir sonst ja Alle dieser Ansicht waren.

Die nöthigen Vorbereitungen wurden schnellstens erledigt, und so kam es, daß am 21. Februar früh sieben Uhr, Dank der übereinstimmenden Wirkung der Strömung und des Windes, die Spitze von Halbrane-Land schon fünf Seemeilen hinter uns lag. Im Laufe des Nachmittags verblaßten dann allmählich die Höhen, die diesen Theil des Ufers beherrschten und von deren höchsten Gipfel es uns möglich gewesen war, das Land an der Ostseite des Janesundes zu erkennen.

Unser Boot gehörte zu der Art von Fahrzeugen, die in der Inselgruppe von Tsalal zum Verkehr zwischen den einzelnen Inseln im Gebrauch waren. Wir wußten aus dem Berichte Arthur Pym's, daß diese Fahrzeuge entweder Flößen oder Flachbooten, oder auch Piroguen mit Balancier ähnlich und im allgemeinen recht tüchtiger Bauart waren. Zur ersteren Art gehörte das, das wir jetzt besetzt hatten. Es hatte bei vierzig Fuß Länge sechs Fuß Breite, gleiche Gestalt am Vorder- wie am Hintertheile – was jedes Wenden unnöthig machte – und wurde durch mehrere Paare Pagaien fortbewegt.

Ich muß hier besonders bemerken, daß zum Bau dieses Bootes kein einziges Stück Eisen verwendet war – weder Nägel noch Pflöcke oder gar ein Metallbeschlag am Vorder- oder Hintersteven, wenn von dieser Unterscheidung hier die Rede sein kann, da das Eisen den Tsalaliern völlig unbekannt war. Aus einer Lianenart zusammengedrehte Bänder, die wenigstens den Widerstand eines Kupferdrahtes hatten, sicherten den Zusammenhalt der Bordwände ebensogut wie die dichteste Vernietung. Die Stelle des Wergs in den Fugen vertrat ein Moos mit Harztheerüberzug, der durch die Berührung mit Wasser metallische Härte annahm.

Das war das Fahrzeug, dem wir den Namen »Paracuta« beilegten, den eines Fisches dieser Gegend, der grob aus Holz geschnitten am Dahlbord angebracht war.

Die »Paracuta« war mit soviel Gegenständen beladen, wie sie fassen konnte, ohne zu sehr die Passagiere zu belästigen, die darin Platz finden sollten – mit Kleidungsstücken, Decken, Hemden, Wolljacken, Unterbeinkleidern, Hosen aus grober Wolle und Wachstuchmützen, ferner mit einigen Segeln, Balken, Wurfankern, Rudern, Bootshaken und Instrumenten zur Sonnenhöhemessung, endlich mit Waffen und Schießbedarf, die wir vielleicht einmal nöthig haben konnten, mit Gewehren, Pistolen, Carabinern, Pulver, Rehposten und Kugeln. Die eigentliche Fracht bestand aus mehreren Fässern mit Süßwasser, Wisky und Gin, Mehlkisten, leicht gesalzenem Fleisch, gedörrtem Gemüse und einer ansehnlichen Menge Kaffee und Thee. Dieser waren noch ein kleiner Kochofen und einige Säcke Steinkohlen beigegeben, um den Ofen einige Wochen hindurch zu speisen. Gelang es uns freilich nicht, durch die Packeiswand zu kommen, und drohte uns eine Ueberwinterung inmitten des Eisfeldes, so mußten alle unsere Anstrengungen darauf gerichtet sein, Halbrane-Land noch einmal anzulaufen, wo die Fracht aus der Goëlette unsere Existenz noch für lange Monate sicher stellte.

Nun, wenn wir unser Ziel auch verfehlten, war das etwa ein Grund, auf jede Hoffnung zu verzichten? Nein; es liegt ja in der menschlichen Natur, sich an jeden Strohhalm zu klammern, wenn keine andere Aussicht auf Rettung vorliegt. Ich erinnerte mich an das, was Edgar Poë von dem »Engel des Bizarren« gesagt hat, »jenem Genius, der den Widerwärtigkeiten des Lebens vorsteht und dessen Function es ist, staunenerregende Zufälligkeiten herbeizuführen, die jedoch in der Logik der Thatsachen begründet sind.« Warum sollte uns dieser Engel in der Stunde der höchsten Gefahr nicht erscheinen?

Selbstverständlich war der größte Theil der Ladung der »Halbrane« in der Höhle zurückgelassen worden, wo die Vorräthe, gegen Witterungsunbill geschützt, zur Verfügung von Schiffbrüchigen lagerten, wenn jemals solche an diese Küste verschlagen werden sollten. Eine Stange, die der Hochbootsmann auf dem nächsten Hügel aufgestellt hatte, mußte dann ihre Aufmerksamkeit hierher lenken. Und doch, welches Schiff würde sich nach unsern zwei Goëletten wohl bis über diese Breiten hinunterwagen?

Hier die Liste der Personen, die auf der »Paracuta« eingeschifft waren: Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant Jem West, der Hochbootsmann Hurliguerly, der Kalfatermaat Hardie, die Matrosen Francis und Stern, der Koch Endicott, der Mestize Dirk Peters und ich – alle von der »Halbrane«; ferner der Kapitän William Guy und die Matrosen Roberts, Covin und Trinkle von der »Jane«, zusammen dreizehn . . . die Unglückszahl.

Vor der Abfahrt hatten es sich Jem West und der Hochbootsmann angelegen sein lassen, einen Mast nahe der Grenze des vordern Drittels unsers Fahrzeugs zu errichten. Dieser durch ein Stag und Wanten gehaltene Mast konnte ein ziemlich großes Segel tragen, das übrigens aus dem Marssegel der Goëlette geschnitten war. Da die »Paracuta« in der Mitte sechs Fuß breit war, konnte dieses Nothsegel auch ein wenig zum Umlegen nach jeder Seite eingerichtet werden.

Diese Ausrüstung gestattete freilich noch nicht, dicht am Winde zu segeln. Mit dem Winde im Rücken oder halb von der Seite mußte das Segel uns aber doch eine hinreichende Fahrgeschwindigkeit sichern, um, bei einem Mittel von dreißig Seemeilen in vierundzwanzig Stunden, binnen fünf Wochen die tausend Meilen zurückzulegen, die uns vom Packeis trennten. Auf diese Geschwindigkeit konnten wir ohne Ueberschätzung gewiß rechnen, wenn Wind und Strömung die »Paracuta« nach Nordosten weiter trieben. Uebrigens hatten wir die Pagaien zur Verfügung, wenn der Wind uns fehlen sollte, und vier Paar derselben, von acht Mann gehandhabt, mußten dem Fahrzeug immerhin noch eine gewisse Geschwindigkeit verleihen.

Von der auf die Abfahrt folgenden Woche habe ich nichts Besonderes zu berichten. Die Brise stand immer aus Süden und zwischen den Ufern des Janesundes machte sich keine ungünstige Gegenströmung bemerkbar.

So weit wie möglich und so lange die Küste von Halbrane-Land nicht zu weit nach Westen zurückwich, hatten sich die beiden Kapitäne verständigt, ihr in der Entfernung von wenigen Kabellängen zu folgen. Sie bot uns ja eine Zufluchtsstätte, wenn unser Fahrzeug etwa durch irgend welchen Unfall unbrauchbar wurde. Und doch, was wäre jetzt, fast zu Winters Anfang, auf dem trostlos öden Lande wohl aus uns geworden? . . . Ich glaube, es war besser, daran gar nicht zu denken.

Während der ersten acht Tage hatte die »Paracuta«, da die Pagaien nachhalfen, wenn der Wind einmal zu sehr abflaute, nichts von der mittleren Geschwindigkeit verloren, die sie einhalten mußte, um in so kurzer Zeit den Großen Ocean zu erreichen.

Das Aussehen des Landes änderte sich nicht – immer derselbe unfruchtbare Erdboden, schwärzliche Felsblöcke, sandige Strandflächen, nur da und dort mit etwas Feigenmoos darauf, und steile, kahle Höhen, das war Alles, was wir erblickten. Die Meerenge selbst führte schon etwas Eis, schwimmende Triften und hundertfünfzig bis zweihundert Fuß lange »Packs«, die einen länglich und eckig, die andern ziemlich rund, und daneben einzelne Eisberge, die unser Boot leicht überholte. Beunruhigend erschien es nur, daß alle diese Massen nach dem Packeis zu trieben, dessen Durchgänge – die zur jetzigen Jahreszeit noch offen sein mußten – sie zu versperren drohten.

Natürlich herrschte unter den dreizehn Passagieren der »Paracuta« das beste Einvernehmen. Wir hatten ja keine Meuterei eines Hearne zu fürchten und dabei fragten wir uns, ob das Schicksal die vom Segelmeister verführten Unglücklichen wohl begünstigt haben möge. Bei ihrem überladenen Boot, das jeder stärkere Wellenschlag umzuwerfen drohte, mußte ihre Fahrt ja mit größter Gefahr verknüpft sein. Und doch, wer weiß, ob Hearne nicht Glück hatte, während wir, die zehn Tage später abgefahren waren, vielleicht dem Verderben entgegengingen?

Ich möchte hier beiläufig erwähnen, daß Dirk Peters, je mehr er sich aus den Gegenden entfernte, wo er keine Spuren von seinem armen Pym entdeckt hatte, noch schweigsamer wurde als vorher – was ich kaum für möglich gehalten hätte – ja er antwortete mir nicht einmal, wenn ich das Wort an ihn richtete.

Da das Jahr 1840 ein Schaltjahr war, mußte ich in meine Aufzeichnungen den 29. Februar mit aufnehmen. Das war aber gerade der Geburtstag Hurliguerly's, und der Hochbootsmann erwartete, diesen Jahrestag an Bord unseres Fahrzeugs mit einigem Glanze gefeiert zu sehen.

»Das ist doch das Wenigste,« rief er lachend, »da ich ihn in vier Jahren ja nur einmal erleben und feiern kann!«

Wir tranken auf die Gesundheit des wackern Mannes, der zwar etwas schwatzhaft, dafür aber der verläßlichste und ausdauerndste von Allen war und der uns durch seinen unverwüstlichen Humor oft genug erheiterte. An diesem Tage ergab die Beobachtung 79°17' der Breite und 118°37' der Länge.

Man sieht hieraus, daß die beiden Ufer des Janesundes zwischen dem hundertachtzehnten und dem hundertneunzehnten Meridiane verliefen, und daß die »Paracuta« nur ein Dutzend Breitengrade zu durchsegeln hatte, um den Polarkreis zu erreichen.

Nach dieser Aufnahme der augenblicklichen Ortslage, die wegen der geringen Höhe der Sonne über dem Horizonte erhebliche Schwierigkeiten bot, hatten die beiden Brüder auf einer Bank die noch sehr unvollständige Karte des Antarktischen Polargebiets aufgeschlagen. Ich musterte sie zugleich mit ihnen, und wir suchten annähernd zu bestimmen, welche schon entdeckten Landstrecken in dieser Richtung lagen.

Man muß im Gedächtniß behalten, daß wir, nachdem unser Eisberg den Südpol passiert hatte, in die Zone der östlichen Länge übergetreten waren, die von Null Grad (in Greenwich) bis zu hundertachtzig Grad gezählt wird. Wir mußten also gänzlich darauf verzichten, nach den Falklandsinseln zurückzukommen und in den Gewässern der Sandwichs, Südorkneys und Südgeorgiens auf Walfänger zu treffen.

Aus unserer dermaligen Lage ließ sich etwa Folgendes schließen:

Der Kapitän William Guy konnte selbstverständlich von den nach der Abfahrt der »Jane« ausgeführten antarktischen Reisen nichts wissen. Er kannte nur die Cook's, Krusenstern's, Weddell's, Bellinghausen's und Morrell's, war aber in Unkenntniß über die weiteren Fahrten, wie über die zweite Morrell's und über die Kemp's, die die geographische Anordnung der Landmassen in diesen entlegenen Gegenden etwas näher kennen gelehrt hatten. Aus dem, was ihm sein Bruder mittheilte, erfuhr er, daß nach unserer eigenen Beobachtung ein breiter Meeresarm, der Janesund, die beiden Continente der Südpolargegend in zwei Hälften theilte.

Da warf der Kapitän Len Guy noch die Bemerkung ein, daß die »Paracuta«, wenn die Meerenge zwischen dem hundertachtzehnten und dem hundertneunzehnten Längengrade weiter verlief, nahe dem Punkte vorüberkommen müsse, nach dem man den magnetischen Südpol verlegte. An diesem Punkte vereinigen sich bekanntlich alle magnetischen Meridiane, und zwar liegt derselbe ziemlich genau dem nördlichen magnetischen Pole entgegengesetzt und über ihm stellt sich die Nadel des (Inclinations-)Compasses in eine senkrechte Richtung ein. Hierzu gehört die Bemerkung, daß die Lage dieses Pols jener Zeit noch nicht so genau bestimmt war, wie in unseren Tagen.Die Berechnungen Hanstein's verlegen den magnetischen Südpol nach 128°30' der Länge und 69°17' der Breite. Nach den Untersuchungen Vincendon's, Dumoulin's und Coupvent Desbois', bei Gelegenheit der Entdeckungsreise Dumont d'Urville's an Bord der »Astrolabe« und der »Zélée«, giebt Duperrey dafür 136°15' der Länge und 76°30' der Breite an. Inzwischen haben ganz neuerdings ausgeführte Berechnungen ergeben, daß dieser Punkt bei 106°16' der Länge und 72°20' südlicher Breite zu suchen sei. Man ersieht hieraus, daß unter den Hydrographen über diese geographische Frage noch nicht die gleiche Uebereinstimmung herrscht, wie über die in Betreff der Lage des magnetischen Poles in den arktischen Gebieten (d. h. auf der nördlichen Halbkugel).

Das war übrigens nicht von Bedeutung und die etwaige geographische Bestimmung jenes Punktes hatte für uns kein weiteres Interesse. Weit mehr beschäftigte uns die Wahrnehmung, daß der Janesund sich sehr merkbar, zuletzt bis auf zehn bis zwölf Seemeilen Breite, verschmälerte. In Folge dieser Gestaltung konnten wir das Land an beiden Ufern deutlich erkennen.

»Wir wollen wenigstens hoffen,« bemerkte der Hochbootsmann, »daß er für unser Boot noch breit genug bleibt und nicht etwa als Sackgasse endigt!«

»Das ist nicht zu befürchten,« antwortete der Kapitän Len Guy. »Da die Strömung in gleicher Weise fortbesteht, muß sie nach Norden zu einen Ausgang haben, und meiner Meinung nach haben wir nichts zu thun, als ihr zu folgen.«

Das war ja nicht zu bestreiten. Die »Paracuta« konnte einen bessern Führer als die Strömung gar nicht haben. Hätten wir sie unglücklicher Weise gegen uns gehabt, so wäre es, ohne die Unterstützung einer steifen Brise, ganz unmöglich gewesen, dagegen aufzukommen.

Vielleicht wendete sich die Strömung aber, entsprechend der Küstengestaltung, weiter draußen nach Osten oder Westen. Trotz alledem durften wir versichert sein, daß der nördlich an das Packeis grenzende Theil des Großen Oceans nach dem Landgebiete Australiens, Tasmaniens oder Neuseelands führte. Man wird zugeben, daß es, wenn es sich um die Heimkehr handelte, wenig darauf ankam, an welchem Punkte wir zuerst Culturland erreichten.

Unsere Fahrt verlief so zehn Tage lang unter gleichen Verhältnissen. Das Fahrzeug bewährte sich bei dauerndem Seitenwinde recht gut. Die beiden Kapitäne und Jem West konnten seine solide Bauart gar nicht genug anerkennen, obgleich dabei, wie schon erwähnt, kein Stück Eisen zur Verwendung gekommen war. Nicht ein einziges Mal machte es sich nöthig, die Fugen auszubessern, die stets völlig wasserdicht hielten. Freilich hatten wir ruhige See, auf der nur leichte Wellen die Oberfläche der langen Dünung unterbrachen.

Am 10. März ergab sich, bei gleicher Länge, eine Breite von 76°13'.

Da die »Paracuta« seit der Abfahrt von Halbrane-Land etwa sechshundert Seemeilen, und zwar im Laufe von zwanzig Tagen, zurückgelegt hatte, berechnete sich ihre mittlere Geschwindigkeit – wie vorausgesetzt – auf dreißig Seemeilen in vierundzwanzig Stunden.

Verminderte sich diese Geschwindigkeit in den folgenden drei Wochen nicht, so war die beste Aussicht vorhanden, daß die Durchgänge in der Packeiswand nicht geschlossen wären oder daß letztere doch umschifft werden könnte und daß auch die Walfängerschiffe ihre Jagdgründe noch nicht verlassen hätten.

Zur Zeit schwebte der Sonnenball fast parallel mit der Linie des Horizontes hin und es näherte sich die Zeit, wo das antarktische Gebiet in die Finsterniß der Polarnacht versinken mußte. Da wir aber nach Norden zu fuhren, kamen wir glücklicher Weise ja in Gegenden, denen es an Licht noch nicht mangelte.

Damals wurden wir Zeugen einer ebenso außerordentlichen Erscheinung wie die, deren der Bericht Arthur Pym's wiederholt Erwähnung thut. Mit zischenden Geräusch sprangen während drei bis vier Stunden aus unseren Fingern, den Haupt- und den Barthaaren blitzende kleine Funken hervor. Das war die Folge eines elektrischen Schneetreibens mit großen, lockeren Flocken, durch deren Anschlagen jene leuchtenden Büschelchen erzeugt wurden. Mehrmals war die »Paracuta« bei dem plötzlich schäumenden Wogengange in Gefahr, verschlungen zu werden, wir gingen jedoch heil und gesund aus dem merkwürdigen Unwetter hervor.

Der Himmel wurde jetzt indeß nur noch von mangelhaftem Lichte erhellt. Häufige Dunstbildungen engten den Gesichtskreis bis auf wenige Faden Entfernung ein. Das verlangte natürlich eine erhöhte Wachsamkeit, um das Zusammenstoßen mit treibenden Schollen zu vermeiden, die langsamer als unsere »Paracuta« vorwärts kamen. Es sei auch nicht vergessen zu erwähnen, daß der Himmel im Süden öfters im Scheine glänzender Südpolarlichter erglühte.

Die Temperatur nahm jetzt fühlbar ab und überstieg nicht mehr dreiundzwanzig Grad Fahrenheit (-5° Celsius).

Diese Abnahme flößte uns lebhafte Besorgniß ein. Konnte sie auch die Strömung, die uns immer günstig blieb, nicht beeinflussen, so war davon doch eine Aenderung im Zustande der Atmosphäre zu befürchten. Und wenn sich mit der Zunahme der Kälte zum Unglück auch der Wind abschwächte, mußte die Fahrt des Bootes wohl um die Hälfte verlangsamt werden. Eine Verzögerung von zwei Wochen genügte aber, unsere Rettung in Frage zu stellen und uns zur Ueberwinterung am Fuße des Packeiswalles zu nöthigen. In diesem Falle mußte es, wie erwähnt, räthlicher sein, den Versuch einer Rückkehr nach Halbrane-Land zu wagen. Doch würde dann der Janesund, durch den wir so glücklich gefahren waren, der »Paracuta« auch noch offenes Wasser bieten? . . . Noch mehr begünstigt als wir, mochten Hearne und seine Genossen, die uns um zehn Tage voraus waren, die Eisbarriere vielleicht schon hinter sich gebracht haben.

Achtundvierzig Stunden später wollten der Kapitän Len Guy und sein Bruder unsere Position durch eine Beobachtung bestimmen, die der von Nebeln befreite Himmel gerade ermöglichte. Freilich streifte die Sonne eigentlich nur den Horizont, was die Operation wesentlich erschwerte. Dennoch konnte die Sonnenhöhe mit annähernder Genauigkeit gemessen werden, und die Berechnungen ergaben dann als Resultat:

Südliche Breite: 75°17'.
Oestliche Länge: 118°3'.

An diesem Tage, dem 12. März, befand sich die »Paracuta« demnach nur noch vierhundert Seemeilen vom Polarkreise entfernt.

Gleichzeitig bemerkten wir, daß die bis zur Höhe des siebenundsiebzigsten Breitengrades sehr beschränkte Meerenge, sich nach Norden zu wieder mehr und mehr erweiterte. Selbst mit dem Fernrohr war im Osten kein Land mehr wahrzunehmen. Das war ein unerwünschter Zustand, denn die zwischen den beiden Ufern wenig eingeengte Strömung mußte bald an Schnelligkeit verlieren und schließlich ganz unmerkbar werden.

In der Nacht vom 12. zum 13. März stieg nach Abflauung der Brise ein ziemlich dichter Nebel auf. Das war bedauerlich, denn es vermehrte die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dahintreibenden Eismassen. Das häufigere Vorkommen von Nebeln konnte in jenen Breiten freilich nicht überraschen. Weit auffallender erschien es dagegen, daß die Schnelligkeit unseres Fahrzeuges sich, obgleich der Wind fast eingeschlafen war, allmählich beschleunigte. Von einer schnelleren Strömung konnte das nicht herrühren, denn das Anklatschen des Wassers am Vordertheil bewies uns, daß wir noch schneller als jene vorwärts kamen.

Diese Erscheinung dauerte bis zum Morgen an, ohne daß wir uns über das, was dabei eigentlich vorging, Rechenschaft geben konnten, wo dann, gegen zehn Uhr, der Nebel, wenigstens in den unteren Luftschichten, sich auflöste. Das westliche Ufer – ein Felsengestade ohne dahinter liegende Berge – wurde wieder sichtbar.

Da zeigte sich, etwa eine Viertelmeile von uns, eine Masse, die die Ebene um ungefähr fünfzig Toisen überragte und die einen Umfang von zwei- bis dreihundert Toisen haben mochte. Ihrer seltsamen Gestalt nach ähnelte die Masse einer gewaltigen Sphinx mit erhobenem Oberkörper und ausgestreckten Tatzen, in der Haltung des geflügelten Ungeheuers, das die griechische Mythologie auf die Straße von Theben versetzt hat.

War es ein lebendes Thier, ein riesiges Ungeheuer, ein Mastodon, doch tausendmal größer als die mächtigen Vettern der Elephanten der Polargebiete, von denen sich noch jetzt Ueberreste finden? Bei dem Geisteszustande, in dem wir uns befanden, hätte man das glauben – hätte man auch befürchten können, daß das Mastodon sich auf unser Fahrzeug stürzen würde, um es unter seinen Krallen zu zertrümmern.

Nach den ersten Augenblicken unverständiger Beunruhigung erkannten wir, daß es sich um eine Bergmasse von eigenthümlicher Gestalt handelte, deren Gipfel oder Kopf eben aus der Dunsthülle klarer hervortrat.

Ah . . . diese Sphinx! . . . Da tauchte in mir eine Erinnerung auf, die nämlich, daß ich in der Nacht, wo sich der Umsturz des Eisbergs ereignete und die »Halbrane« in die Höhe gehoben wurde, von einem fabelhaften Thiere geträumt hatte, das auf dem Pole der Erde saß und dem nur ein Edgar Poë, mit seiner scharfsinnigen Genialität, seine Geheimnisse zu entlocken verstanden hatte.

Da sollten aber noch wunderbarere Erscheinungen unsere Aufmerksamkeit erregen, unser Staunen erwecken und uns in Schrecken und Angst versetzen.

Ich habe schon erwähnt, daß die Schnelligkeit der »Paracuta« seit einigen Stunden immer mehr zunahm. Jetzt war sie so excessiv, daß die Strömung dagegen weit zurückblieb. Da fliegt der von der »Jane« herrührende und am Vordersteven untergebrachte Wurfanker plötzlich hinaus, als würde er von unwiderstehlicher Gewalt angezogen, und seine Leine spannt sich zum Zerreißen an. Es sah aus, als sei es dieser Anker, der über das Wasser hinfliegend uns nach dem Ufer schleppte.

»Was hat das zu bedeuten?« rief William Guy.

»Zerschneide das Tau, Hochbootsmann, schnell, schnell,« befahl Jem West, »oder wir zerschellen an den Felsen!«

Hurliguerly sprang nach dem Vordertheile der »Paracuta«, um das Seil zu zerschneiden. Plötzlich wurde ihm das große Messer, das er dazu in der Hand hielt, entrissen, das Seil zerplatzte und gleich einem Geschosse flog der Wurfanker auf den Bergstock zu.

Und – siehe da! – gleichzeitig nehmen alle eisernen Gegenstände im Fahrzeuge, die Küchengeräthe, Waffen, der Kochofen Endicott's, die Messer aus unseren Taschen denselben Weg, während das Boot in schnellster Gangart auf das Ufer zuschießt.

Was ging hier vor? Mußten wir zur Erklärung dieser unerklärlichen Dinge annehmen, daß wir uns in der Gegend jener Wunder befänden, von der ich glaubte, daß sie nur in den Sinnestäuschungen Arthur Pym's existierten?

Nein, das waren greifbare Thatsachen, die wir hier vor Augen hatten, keine nur eingebildeten Wundererscheinungen.

Uebrigens fehlte uns die Zeit zu weiterer Ueberlegung, denn kaum ans Land gelangt, wurde unsere Aufmerksamkeit durch den Anblick eines hier gestrandeten Bootes abgelenkt.

»Das Boot von der ›Halbrane‹!« rief Hurliguerly.

In der That war es das von Hearne geraubte Boot. Da lag es mit gesprengter Wand, die Rippen vom Kiel abgerissen, in gänzlich zerstörtem Zustande . . . nichts weiter als formlose Trümmerstücke, kurz, das, was von einem Boote übrig bleibt, wenn es vom wüthenden Meere gegen einen Felsen geschleudert wurde.

Sofort fiel uns ins Auge, daß alle Eisenverbindungen des Bootes fehlten . . . die Nägel der Seitenwände, die Schiene am Kiel, der Beschlag des Vorder- wie des Hinterstevens und die Haspen des Steuerruders . . .

Was bedeutete alles das?

Ein Ausruf Jem West's brachte uns nach einem schmalen Strande zur rechten Seite des Bootes.

Hier lagen drei Leichname auf dem Boden – der Hearne's, der des Segelmeisters Martin Holt und der eines der Falkländer. Von den Dreizehn, die den Segelmeister begleitet hatten, waren nur diese Drei übrig, die den Tod vor einigen Tagen gefunden haben mochten.

Was war aus den zehn Fehlenden geworden?

Hatte das Meer ihre Leichen mit hinausgeschwemmt?

Wir suchten längs des Ufers, in kleinen Einbuchtungen, zwischen den Klippen – nichts wurde gefunden, weder Spuren eines Lagers, noch Eindrücke von einer Landung.

»Jedenfalls,« sagte William Guy, »ist ihr Boot auf dem Meere von einem dahintreibenden Eisberge angerannt worden. Die meisten der Gefährten Hearne's werden ertrunken und nur diese drei Körper, bereits leblos, an die Küste geschleudert worden sein.«

»Wie erklärt sich aber,« fragte der Hochbootsmann, »dann dieser Zustand des Bootes?«

»Zumal da alle Eisentheile desselben fehlen?« setzte Jem West hinzu.

»Wahrhaftig,« bemerkte ich, »es sieht aus, als ob alle mit Gewalt davon ausgerissen wären!«

Während die »Paracuta« der Obhut zweier Leute überlassen wurde, begaben wir uns mehr ins Innere, um unsere Nachsuchungen auf einen größeren Umkreis auszudehnen.

Wir näherten uns der Bergmasse, die jetzt ganz aus den Dünsten hervorgetreten war und deren Gestalt sich deutlich zeigte. Es war, wie ich schon sagte, annähernd die einer Sphinx . . . einer Sphinx von fast rußiger Färbung, als wäre das Material, woraus sie bestand, von der langen Einwirkung des polaren Klimas oxydiert worden.

Da kam mir plötzlich ein Gedanke . . . eine Hypothese in den Sinn, die all diese merkwürdigen Erscheinungen erklärte.

»Ah,« rief ich, »ein Magnet! . . . Dort . . . dort liegt ein Magnet, dem eine ungeheure Anziehungskraft innewohnt!«

Die Andern verstanden mich, und sofort trat uns die letzte Katastrophe, der Hearne und seine Begleiter zum Opfer gefallen waren, klar vor Augen.

Dieser Bergstock bildete einen ungeheuer großen Magnet, unter dessen Einfluß die eisernen Verbindungsstücke vom Boote der »Halbrane« losgerissen und, als würden sie von einer mächtigen Feder fortgeschnellt, weggeschleudert worden waren. Derselbe Magnet hatte mit unwiderstehlicher Kraft auch alle eisernen Gegenstände aus der »Paracuta« an sich gezogen, und unser Fahrzeug hätte gewiß das Schicksal des andern getheilt, wenn bei seiner Herstellung ein einziges Stück dieses Metalls verwendet worden wäre!

War es vielleicht die Nähe des magnetischen Poles, die diese Wirkungen hervorbrachte?

Zwar kam uns anfangs dieser Gedanke, er mußte aber bei weiterer Ueberlegung aufgegeben werden.

An der Stelle, wo die magnetischen Meridiane sich kreuzen, zeigt sich keine andere Erscheinung als die verticale Einstellung der Magnetnadel, und zwar an zwei sich entsprechenden Punkten der Erdkugel. Diese Erscheinung, die im Nordpolargebiete durch Versuche an Ort und Stelle nachgewiesen ist, mußte ja identisch auch im Südpolargebiete auftreten.

Hier befand sich also ein Magnet von unermeßlicher Intensität, in dessen Anziehungskreis wir gerathen waren. Unter unsern Augen hatte sich eine jener wunderbaren Erscheinungen abgespielt, die bisher ins Reich der Fabel verwiesen worden waren. Wer hätte vorher zugeben mögen, daß Fahrzeuge von einer unwiderstehlichen Gewalt angezogen würden, daß ihre Eisenverbindungen sich dabei an allen Punkten lösten, ihr Rumpf sich öffnete und dann das Meer sie verschlänge? . . . Und doch war das eine Thatsache!

Eine Erklärung dafür glaubte ich in folgender Betrachtung zu finden:

Die Passatwinde treiben unausgesetzt nach den Enden der Erdachse Wolken oder Dünste, worin ungeheure Mengen von Elektricität aufgespeichert sind, die durch Gewitter noch nicht erschöpft waren. Dadurch bildet sich an den Polen eine gewaltige Anhäufung dieses Fluidums, das ununterbrochen nach der Erde abfließt.

Das ist auch die Ursache der Nord- und der Südlichter, deren leuchtende Pracht, vorzüglich in der langen Polarnacht, über den Horizont hinaufstrahlt und die, wenn sie das Maximum ihrer Entwicklung erreichen, bis nach den gemäßigten Zonen hin sichtbar werden. Man nimmt auch an – ich weiß, daß dafür noch der Beweis fehlt – daß zu derselben Zeit, wo eine heftige Entladung positiver Elektricität in den arktischen Gebieten erfolgt, in den antarktischen Gebieten eine gleiche Entladung von entgegengesetzter (negativer) Elektricität vor sich geht.

Jene fortwährend nach den Polen gerichteten Ströme, die die Compaßabweichung hervorbringen, müssen natürlich einen außerordentlichen Einfluß ausüben, und es würde genügen, daß eine große Eisenmasse ihrer Einwirkung ausgesetzt wäre, um diese zu einem mächtigen Magneten zu machen, dessen Kraft der Intensität des Stromes, der Anzahl Windungen, die er darum bildet und der Quadratwurzel des Durchmessers des Magneteisenberges entsprechen würde.

Den Rauminhalt der Sphinx, die sich an diesem Punkte des tiefsüdlichen Gebietes erhob, konnte man gewiß auf viele tausend Cubikmeter abschätzen.

Wessen bedurfte es nun dazu, daß der Strom um diese Masse kreiste und einen Magneten aus ihr machte? Nichts, als einer metallischen Ader, deren unzählige Windungen, die die Eingeweide des Erdbodens durchzogen, unterirdisch die Basis der genannten Bergmasse umschlossen.

Ich bin auch der Meinung, daß dieser Bergstock wie eine Art erzener Säule in der Verlängerung der magnetischen Erdachse liegen mag, aus der das imponderable Fluidum hervorquillt, dessen Ströme einen unerschöpflichen Accumulator an den Grenzen der Erde laden. Um zu bestimmen, ob die Masse wirklich genau über dem magnetischen Südpole lag, dazu hätte unser Compaß schon deshalb nicht dienen können, weil er für solche Untersuchungen nicht eingerichtet war. Ich kann nur sagen, daß seine unstätig abweichende Nadel überhaupt nach keiner bestimmten Himmelsrichtung zeigte. Darauf kam jedoch nicht viel an, soweit es die Zusammensetzung dieses künstlichen Magneten und die Art und Weise betraf, in der die Wolken und der ihn umschließende Erzgang seine Anziehungskraft unterhielten.

Eigentlich nur durch Instinct war ich auf diese ziemlich annehmbare Art der Erklärung der merkwürdigen Erscheinungen gekommen. Es unterlag keinem Zweifel, daß wir uns in unmittelbarer Nähe eines Magneten befanden, dessen Anziehungskraft die ebenso schrecklichen wie natürlichen Wirkungen hervorbrachte.

Ich theilte meinen Gedankengang den Andern mit, und auch ihnen schien dieser die nothwendige Erklärung der physikalischen Thatsachen, deren Zeugen wir waren, zu bieten.

»Ich glaube, wir können uns ohne Gefahr dem Fuße des Bergstockes nähern,« sagte der Kapitän Len Guy.

»Ohne jede Gefahr,« erwiderte ich.

»Dort . . . ja . . . dort!«

Ich vermag kaum den Eindruck zu schildern, den diese drei Worte auf uns machten, die Worte, die wie ein dreifacher verzweifelter Aufschrei – würde Edgar Poë sich ausdrücken – aus der übersinnlichen Welt herüberzutönen schienen.

Dirk Peters war es, der sie ausgestoßen hatte, und sein Körper streckte sich dabei nach der Sphinx hin aus, als ob er, selbst zu Eisen verwandelt, von dem Magneten angezogen würde.

Sofort stürmte er nach dieser Richtung zu und die Uebrigen folgten ihm über einen Erdboden hin, der mit schwärzlichen Steinen, Moränenschutt und vulcanischen Trümmern aller Art bedeckt war.

Das scheinbare Ungeheuer wuchs noch, je mehr wir uns ihm näherten, ohne etwas von seiner mythologischen Gestalt zu verlieren. Ich vermag kaum die Wirkung zu schildern, die es, so allein über die ausgedehnte Ebene emporragend, auf Alle hervorbrachte. Es giebt eben Eindrücke, die weder Feder noch Worte wiederzugeben im Stande sind. Uns schien es – natürlich war das nur eine Täuschung – als würden wir durch die Kraft seiner magnetischen Anziehung buchstäblich nach ihm hin gezerrt.

Als wir den Fuß des seltsamen Bergstockes erreichten, gewahrten wir verschiedene eiserne Gegenstände, bezüglich der sich seine unsichtbare Kraft geltend gemacht hatte. Waffen, Werkzeuge, der Wurfanker von der »Paracuta« hingen, richtiger gesagt, »klebten« an seinem Abhange. Hier fanden wir auch die wieder, die aus dem Boote der »Halbrane« herrührten, wie die Nägel, Pflöcke, Dollen, den Beschlag des Kiels und die Eisentheile des Steuerruders.

Die Ursache der Zerstörung des Bootes, das Hearne und seine Begleiter getragen hatte, konnte jetzt nicht mehr zweifelhaft sein. Von mächtiger Kraft aus seinem Curs abgelenkt, war es durch den Anprall an die Uferfelsen zertrümmert worden, und dasselbe Loos hätte die »Paracuta« ereilt, wenn sie nicht durch die Art ihrer Construction der unwiderstehlichen magnetischen Anziehung entgangen wäre.

Auf die Wiedererlangung der Gegenstände, die am Abhange des Bergstockes hafteten, der Gewehre, Pistolen, Werkzeuge u. s. w. mußten wir von vornherein verzichten, weil sie hier viel zu fest gehalten wurden. Hurliguerly wurde ganz wüthend, sein Messer, das in einer Höhe von etwa fünfzig Fuß am Berge hing, nicht wiederbekommen zu können, und ballte die Fäuste, während er mit Stentorstimme dem »unbarmherzigen Ungeheuer« zurief:

»Spitzbube von Sphinx!«

Es kann wohl niemand Wunder nehmen, daß sich hier keine anderen Gegenstände als die vorfanden, die entweder von der »Paracuta« oder von dem Boote der »Halbrane« herrührten. Jedenfalls war vorher noch kein Schiff bis zu dieser Breite des Antarktischen Meeres vorgedrungen. Hearne und seine Genossen zuerst, der Kapitän Len Guy und seine Gefährten nachher – das waren die Einzigen, die auf diesen Punkt des südlichen Continents den Fuß gesetzt hatten. Unbedingt wäre ja jedes Schiff, das in die Nähe dieses kolossalen Magnets kam, seiner völligen Zerstörung entgegengegangen, und unsere Goëlette hätte dasselbe Schicksal gehabt, wie ihr Boot, von dem nur noch formlose Trümmer übrig waren.

Inzwischen erinnerte Jem West daran, daß es unklug wäre, unsern Aufenthalt auf dem »Sphinx-Lande« – diesen Namen sollte es behalten – unnöthig zu verlängern. Die Zeit drängte und die Verzögerung von nur wenigen Tagen konnte uns schon in die Zwangslage bringen, am Fuße der Packeiswand zu überwintern.

Es erging also die Mahnung, nach dem Ufer zurückzukehren, doch da ertönte nochmals die Stimme des Mestizen. Dirk Peters stieß noch einmal die drei Worte oder den Aufschrei wie vorher aus.

»Dort . . . ja . . . dort!«

Als wir, dadurch verlockt, nach der andern Seite der rechten Tatze des Ungeheuers geeilt waren, sahen wir Dirk Peters, die Hände ausgestreckt, vor einem fast ganz entblößten Körper knieen, einem Körper, den die Kälte dieser Gegend unversehrt erhalten und der fast eine metallische Härte angenommen hatte. Er hatte den Kopf vorgeneigt, zeigte einen weißen, bis zum Gürtel hinabreichenden Bart und Hände und Füße mit zu Krallen verlängerten Nägeln.

Wie kam es aber, daß dieser Körper an dem Bergabhange in ungefähr zwei Toisen Höhe angedrückt schwebte?

Um den Rumpf des Todten lag, von einem Lederbande gehalten, ein gebogenes Flintenrohr, das vom Rost schon halb zerfressen war.

»Pym . . . mein armer Pym!« schrie Dirk Peters auf.

Dann versuchte er sich aufzurichten, um dem Cadaver näher zu kommen . . . um die verknöcherten Reste zu küssen . . .

Da wankte er in den Knien . . . ein Schluchzen schnürte ihm die Kehle zu . . . ein plötzlicher Krampf lähmte den Schlag seines Herzens und er stürzte leblos zu Boden.

Nach ihrer Trennung hatte das Boot also Arthur Pym durch eben diese Gegenden des Polargebietes getragen. Nachdem er ganz wie wir über den Südpol hinweg getrieben worden, war er auch in die Zone der Anziehungskraft des Ungeheuers gerathen. Und hier war er, während sein Boot mit dem Strome nach Norden weiter glitt, von dem magnetischen Fluidum gepackt und, da es ihm nicht gelang, das über die Schultern getragene Gewehr abzulegen, gegen die Bergwand geschleudert worden.

Jetzt ruht nun der treue Mestize auf dem Boden von Sphinx-Land an der Seite seines »armen Pym«, jenes Helden, dessen seltsame Abenteuer in dem großen amerikanischen Dichter einen nicht minder seltsamen Erzähler gefunden hatten!

 


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