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Die diesem Capitel gegebene Überschrift läßt schon errathen, daß darin die Erlebnisse und Abenteuer William Guy's und seiner Leute nach der Vernichtung der englischen Goëlette, die Einzelheiten ihrer Existenz auf der Insel Tsalal nach der Abfahrt Arthur Pym's und Dirk Peters' auszugsweise geschildert werden sollen.
Nach der Höhle zurückgeschafft, war es gelungen, William Guy und die drei andern Matrosen, Trinkle, Roberts und Covin, ins Leben zurückzurufen. Der Hunger – nichts als der Hunger – war es gewesen, der die Unglücklichen in einen fast dem Tode ähnlichen Zustand der Schwäche versetzt hatte.
Ein wenig vorsichtig dargereichte Nahrung und einige Tassen warmen Thees mit Zusatz von Wisky, hatten ihnen bald ihre Kräfte wiedergegeben.
Ich verzichte hier auf die Ausmalung der ergreifenden Scene, von der wir tief erregt wurden, als William seinen Bruder Len erkannte. Thränen drängten sich dabei in unsere Augen ebenso, wie Dankgebete an die Vorsehung auf unsere Lippen. An das, was uns in Zukunft noch beschieden sein möchte, dachten wir in der Freude des Augenblicks nicht im mindesten, und wer weiß, ob sich unsere Lage durch das Antreiben dieses Bootes an Halbrane-Land nicht ändern sollte.
William Guy wurde, bevor er seine Geschichte erzählte, erst über unsere eigenen Abenteuer unterrichtet. In wenigen Worten erfuhr er – was ihm gewiß am meisten am Herzen lag – von der Auffindung der Leiche Patterson's, von der Fahrt unserer Goëlette nach der Insel Tsalal, ihrem Vordringen bis zu den höchsten Breiten, ihrem Schiffbruch am Fuße des Eisbergs und endlich von dem Verrath eines Theils unserer Leute, die uns hier auf dem Lande zurückgelassen hatten.
Ihm war dasselbe bekannt, was Dirk Peters bezüglich Arthur Pym's wußte, und auch auf welch schwankenden Hypothesen die Hoffnung des Mestizen ruhte, seinen Gefährten wiederzufinden, an dessen Tode William Guy ebensowenig zweifelte, wie an dem der andern Mannschaft von der »Jane«, die unter den Hügeln von Klock-Klock zermalmt und begraben wurde.
Auf diese Mittheilungen antwortete William Guy mit einem kurzen Bericht über die elf Jahre, die er auf der Insel Tsalal zugebracht hatte.
Wie der Leser sich erinnert, hatte die Mannschaft der »Jane« noch am 28. Februar 1828 keinerlei Grund zur Befürchtung von Feindseligkeiten seitens der Einwohnerschaft von Tsalal und ihres Häuptlings Too-Wit. Die Leute gingen ans Land, um sich nach dem Dorfe Klock-Klock zu begeben, hatten die Goëlette, auf der nur sechs Mann zurückblieben, aber doch in Vertheidigungszustand gesetzt.
Die Landungstruppe zählte, den Kapitän William Guy, den zweiten Officier Patterson, Arthur Pym und Dirk Peters eingerechnet, zweiunddreißig Mann, die ebenfalls mit Flinten, Pistolen und Messern bewaffnet waren. Der Hund Tigre begleitete sie.
An der engen, zum Dorfe führenden Schlucht angelangt, wobei ihr zahlreiche Krieger Too-Wit's nachfolgten, theilte sich die kleine Truppe. Arthur Pym, Dirk Peters und der Matrose Allen drangen in einen Seitenspalt des Hügels ein. Von diesem Augenblicke an sollten ihre Gefährten sie nicht mehr wiedersehen.
Kurze Zeit darauf erfolgte nämlich eine entsetzliche Erderschütterung. Die eine Hügelwand senkte sich im Ganzen herunter und begrub William Guy nebst seinen achtundzwanzig Begleitern.
Von diesen Unglücklichen wurden zweiundzwanzig sofort verschüttet und ihre Leichen unter der Erdmasse nicht wieder aufgefunden.
Sieben andere, die im Hintergrunde einer Art Aushöhlung des Hügels geschützt waren, entgingen wie durch ein Wunder der traurigen Katastrophe. Diese waren: William Guy, Patterson, Roberts, Covin, Trinkle, und ferner die später verstorbenen Forbes und Lexton. Ob Tigre bei dem Bergsturz umgekommen oder lebend davongekommen war, wußte niemand.
William Guy und seine sechs Begleiter konnten indeß an diesem engen und dunkeln Orte nicht bleiben, da es ihnen hier bald an der nöthigen Athemluft fehlen mußte. Wie auch Arthur Pym anfangs gedacht hatte, hielten sie sich für die Opfer eines Erdbebens. Doch ebenso wie er erkannten sie, daß, wenn die Schlucht jetzt durch Millionen Tonnen von Erde und gesprengtem Gestein angefüllt war, dieser Einsturz von Too-Wit und den Bewohnern von Tsalal künstlich herbeigeführt sein mochte. Wie Arthur Pym mußten auch sie der herrschenden Finsterniß, dem Luftmangel und der erstickenden Ausdünstung der feuchten Erdmassen schnellstens zu entfliehen suchen – »jetzt – wie es in Poë's Buche heißt – wo sie sich jenseits der äußersten Grenzen jeder Hoffnung verbannt sahen und schon mehr in der Lage von Todten waren.«
Ganz wie in der linken Hügelhälfte fanden sich labyrinthartige Gänge auch in der rechten Hälfte, und sich längs der dunkeln Gänge hintastend, gelangten William Guy, Patterson und die Uebrigen nach einer Aushöhlung, zu der Luft und Licht reichlich Zutritt hatten.
Von hier aus beobachteten auch sie den Angriff von etwa sechzig Piroguen auf die Goëlette und deren Verteidigung durch die sechs an Bord gebliebenen Leute, sahen, wie die Geschütze Vollkugeln und Kartätschgeschosse schleuderten, doch auch, wie die Wilden schließlich das Fahrzeug stürmten, und endlich die Explosion, die zwar gegen tausend Eingeborne tödtete, doch auch das Schiff selbst vollständig zerstörte.
Too-Wit und die Tsalalier waren zuerst über die Wirkungen der Explosion verblüfft, vielleicht dadurch aber noch mehr enttäuscht. Ihre Plünderungssucht fand nun keine Befriedigung, denn von dem Rumpfe, der Takelage und der Ladung waren nur noch ganz werthlose Trümmer übrig. Da die Wilden annehmen mußten, daß die andere Mannschaft durch den Einsturz des Hügels ebenfalls zugrunde gegangen sei, dachten sie gar nicht daran, daß einzelne davon die Katastrophe überlebt haben könnten. So kam es, daß Arthur Pym und Dirk Peters eines Theils, und William Guy mit den Uebrigen andern Theils unbelästigt im Grunde der Labyrinthe von Klock-Klock bleiben konnten, wo sie sich mit dem Fleische von Rohrdommeln, die sich leicht mit der Hand fangen ließen, und mit den Früchten zahlreicher Nußbüsche ernährten, die an Abhängen des Hügels standen. Feuer verschafften sie sich dadurch, daß sie Stücke von weichem Holze gegen solche von hartem – und an beiden Arten war kein Mangel – bis zur Entzündung der ersteren rieben.
Wenn es Arthur Pym und dem Mestizen nach siebentägiger Einschließung gelungen war, ihre Höhle, – wie wir wissen – zu verlassen, nach dem Ufer zu gelangen, sich eines Bootes zu bemächtigen und von der Insel Tsalal zu entfliehen, so hatten William Guy und seine Leidensgefährten noch keine Gelegenheit gefunden, aus ihrem Versteck zu entkommen.
Nach Verlauf von etwa drei Wochen bemerkten der Kapitän der »Jane« und die Seinigen, die noch immer in dem Labyrinthe eingeschlossen waren, daß die Stunde herannahte, wo es ihnen an den Vögeln, die ihre Nahrung bildeten, fehlen würde. Um dem Hunger zu entgehen – vor dem Verdursten waren sie geschützt da eine Quelle in der Höhle ihnen ausreichendes Trinkwasser lieferte – gab es nur das eine Mittel, bis zur Küste hinunter zu schleichen, sich in ein Boot der Eingebornen zu werfen und ins Meer hinaus zu steuern . . . Doch wohin sollten sich die Flüchtlinge wenden und was würde ohne Proviant aus ihnen werden? . . . Immerhin würden sie nicht gezögert haben, das Abenteuer zu wagen, wenn sie dazu einige Nachtstunden hätten benutzen können. Zu jener Zeit versank die Sonne aber noch nicht hinter dem Horizonte des vierundachtzigsten Breitengrades.
Wahrscheinlich hätte nun der Tod all' dem Elend und Leiden ein baldiges Ziel gesetzt, wenn nicht ein Zwischenfall die ganze Lage plötzlich verändert hätte.
Eines Morgens – es war am 22. Februar – besprachen sich William Guy und Patterson, von Sorge verzehrt, an dem nach dem freien Lande zu liegenden Eingänge ihrer Höhle. Sie wußten nicht mehr, wie die Bedürfnisse der sieben Personen zu befriedigen wären, nachdem Alle schon eine zeitlang auf den ausschließlichen Genuß von Haselnüssen angewiesen waren, was ihnen Kopf- und Leibschmerzen zuzog. Am Uferlande sahen sie zwar große Schildkröten hinkriechen, doch wie hätten sie den Versuch, solche einzufangen, wagen können, da am Strande mehrere hundert Tsalalier geschäftig hin und her liefen, die ihren gewohnten Ruf »Tekeli-li« ausstießen.
Plötzlich bemächtigte sich der ganzen Menschenmenge eine außerordentliche Erregung. Männer, Frauen und Kinder eilten nach allen Seiten hin auseinander. Einige sprangen sogar Hals über Kopf in die Boote, als drohte ihnen eine unheimliche Gefahr.
Was mochte die Veranlassung sein?
William Guy und seine Gefährten sollten bald Aufklärung über den Tumult erhalten, der an diesem Theil des Inselgestades herrschte.
Ein Thier, ein Vierfüßler, war dort plötzlich aufgetaucht, stürzte sich zähnefletschend auf die Insulaner und sprang ihnen nach der Kehle, während es schäumenden Maules ein heiseres Geheul ausstieß.
Und doch war dieser Vierfüßler allein und hätte gewiß mit Steinwürfen oder Pfeilen unschädlich gemacht werden können. Warum bemächtigte sich jener Wilden also ein so gewaltiger Schrecken, warum entflohen sie und wagten sie nicht, sich gegen das sie bedrängende Thier zu vertheidigen?
Das Thier hatte ein weißes Fell, und bei seinem Anblick zeigte sich die uns schon bekannte Erscheinung, der allen Bewohnern von Tsalal gemeinschaftliche Abscheu vor der weißen Farbe . . . Nein es könnte sich gar niemand vorstellen, mit welcher Wuth und Angst sie neben ihrem »Tekeli-li« in die Rufe »Anamoo-moo« und »Lama lama« ausbrachen.
Wie erstaunt waren aber William Guy und seine Gefährten, als sie in dem Angreifer ihren Tigre erkannten!
Ja . . . Tigre, der dem Tode beim Einsturz des Hügels entgangen war und sich zunächst ins Innere der Insel gerettet hatte. Nach mehrtägigem Umherschweifen in der Nähe von Klock-Klock war er jetzt zurückgekehrt und verbreitete Schrecken und Entsetzen unter den Wilden . . .
Der Leser erinnert sich, daß das arme Thier, während es sich im Frachtraum des »Grampus« befand, schon einmal nahe daran war, wuthkrank zu werden. Jetzt war Tigre in der That der Tollwuth verfallen und bedrohte mit seinen verderblichen Bissen die ganze sinnverwirrte Bevölkerung der Insel.
Das war der Grund, warum die meisten Tsalalier so schnell die Flucht ergriffen, und unter ihnen auch ihr Häuptling Too-Wit und die Wampos, die hervorragendsten Persönlichkeiten von Klock-Klock. – Diese ganz außergewöhnlichen Verhältnisse veranlaßten Alle, nicht allein ihr Dorf, sondern überhaupt die Insel zu verlassen, wo keine Macht der Erde sie zurückzuhalten vermocht hätte und wohin sie niemals wieder den Fuß setzen sollten.
Reichten die Boote nun auch aus, die größte Menge der Bewohner nach den Nachbarinseln zu befördern, so hatten doch, wegen Mangels an Mitteln zum Entfliehen, mehrere Hundert Eingeborne zunächst auf Tsalal zurückbleiben müssen. Da nicht wenige derselben von Tigre gebissen worden waren, brachen unter ihnen, nach sehr kurzer Incubationszeit, mehrere Fälle von Wasserscheu aus, und dann – ein Schauspiel, das in seiner Entsetzlichkeit kaum zu schildern ist – stürzten sich die Einen auf die Andern und zerfleischten sich mit den Zähnen. Und die Knochenreste, die wir in der Nachbarschaft von Klock-Klock gefunden hatten, das waren die von diesen Wilden, die an jener Stelle seit elf Jahre bleichten.
Der arme Hund war auch nahe dem Ufer verendet, wo Dirk Peters dessen Skelett aufgefunden hatte, an dem noch das Halsband mit dem eingravierten Namen Arthur Pym festhing.
Infolge dieser Katastrophe – die das Genie eines Edgar Poë freilich auch hätte erfinden können – wurde die Insel Tsalal also endgiltig verlassen und entvölkert. Nach dem Archipel im Südwesten entflohen, kehrten die Eingebornen niemals nach der Insel zurück, wo das »weiße Thier« unter ihnen Schrecken und Tod verbreitet hatte.
Nachdem dann die, denen zu fliehen unmöglich gewesen war, an einer Hundswuth-Epidemie bis zum Letzten zugrunde gegangen waren, beeilten sich William Guy, Patterson, Trinkle, Covin, Roberts, Forbert und Lexton natürlich, aus der Höhle herauszukommen, wo sie schon am Vorabend des Hungertodes standen.
Was nun die Existenz der sieben Ueberlebenden von jener Expedition in den folgenden Jahren betraf, so gestaltete diese sich weniger beschwerlich, als man hätte vermuthen können. Ihre Ernährung war durch die Naturerzeugnisse eines außerordentlich fruchtbaren Bodens ebenso gesichert, wie durch das Vorhandensein einer gewissen Menge von Hausthieren. Eigentlich fehlte ihnen nichts als die Mittel, Tsalal zu verlassen, nach der Packeiswand zurückzukehren und den Polarkreis wieder zu überschreiten, durch den sich die »Jane« unter tausend Gefahren, bedroht von wüthenden Stürmen, vom Anprall gewaltiger Eismassen und tollen Hagelschauern, die Durchfahrt einst erzwungen hatte.
Ein Fahrzeug zu erbauen, das seetüchtig genug gewesen wäre, eine so lange und gefährliche Fahrt auszuhalten, das war William Guy und seinen Gefährten unmöglich, da ihnen dazu die nöthigen Werkzeuge fehlten und sie nichts als ihre Waffen, Gewehre, Pistolen und große Messer besaßen.
Sie hatten ihr Augenmerk also nur darauf zu richten, daß sie sich den gezwungenen Aufenthalt hier so gut wie möglich gestalteten, während sie auf eine Gelegenheit zum Verlassen der Insel warteten. Woher konnte eine solche aber kommen, wenn sie nicht ein Zufall, über den nur die Vorsehung allein verfügte, aus ihrer Vereinsamung befreite?
Auf Anrathen des Kapitäns und des zweiten Officiers wurde zunächst beschlossen, einen Lagerplatz an der Nordwestküste zu wählen. Von dem Dorfe Klock-Klock aus war die offne See nicht zu überblicken, und es erschien doch vor allem angezeigt, immer das Meer beobachten zu können, im Fall – so unwahrscheinlich das leider sein mochte – ein Schiff in den Gewässern von Tsalal auftauchte.
Der Kapitän William Guy, Patterson und ihre fünf Genossen stiegen also wieder längs der Schlucht hinauf, die mit den Ueberresten des Hügels nebst mürben Schlacken, Blöcken von schwarzem Granit und körnigem Mergel, aus dem metallische Splitter hervorblinkten, zur Hälfte verschüttet war. So hatte sich das Bild dieses trostlosen Stücks Land, »das,« sagt er, »die Stelle eines Babylon in Ruinen bezeichnete,« den Blicken Arthur Pym's dargestellt.
Vor dem Verlassen der Schlucht hatte William Guy noch die Absicht, die rechte Seite derselben zu besichtigen, wo Arthur Pym, Dirk Peters und Allen verschwunden waren. Diese Seite zeigte sich aber gänzlich verschüttet, so daß es unmöglich war, unter das Bergmassiv einzudringen. Ihm war auch das natürliche oder künstliche Labyrinth unbekannt, das Gegenstück zu dem, das er eben verlassen hatte und das mit dem andern, vielleicht unter dem ausgetrockneten Bette des Baches im Grunde, in Verbindung stand.
Nach Ueberwindung dieses verdrießlichen Hindernisses, das den Weg nach Norden zu unterbrach, begab sich die kleine Truppe schnellen Schrittes nach Nordwesten hin.
Hier am Ufer, gegen drei Seemeilen von Klock-Klock entfernt, begann man nun die Einrichtung einer Grotte oder Höhle, die der ähnlich gewesen sein mochte, welche wir an der Küste von Halbrane-Land bewohnten.
An dieser Stelle war es dann, wo die sieben Ueberlebenden von der »Jane« so lange und verzweiflungsvolle Jahre aushalten mußten – ganz wie es das Schicksal auch uns beschieden hatte, nur daß jene insofern besser daran waren, als der fruchtbare Boden von Tsalal ihnen Hilfsquellen bot, die dem von Halbrane-Land gänzlich abgingen. Wenn wir verurtheilt schienen, nach Erschöpfung unserer Vorräthe elend umzukommen, so waren sie das nicht im mindesten. Sie konnten beliebige Zeit lang warten . . . und sie warteten . . .
Bei ihnen konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Arthur Pym, Dirk Peters und Allen bei dem Hügeleinsturz getödtet worden wären, und was den letztgenannten anging, traf das ja auch zu. Wie hätten sie auch auf den Gedanken kommen können, daß Arthur Pym und der Mestize, nachdem sie sich eines Bootes bemächtigt, die Insel hätten verlassen können?
Wie uns William Guy mittheilte, wurde die Eintönigkeit dieser Existenz in elf langen Jahren durch keinen Zwischenfall unterbrochen, nicht einmal durch das Wiedererscheinen früherer Inselbewohner, die sich vor Angst und Grauen nicht mehr nach der Insel Tsalal zurückwagten. Keine Gefahr hatte sie in diesem Zeitraum bedroht. Je länger derselbe sich ausdehnte, desto mehr verloren sie freilich die Hoffnung, jemals erlöst zu werden. Anfänglich hatten sie, nach Wiedereintritt der schönen Jahreszeit, als das Meer wieder eisfrei war, wohl denken können, daß ein Schiff zur Aufsuchung der »Jane« ausgesendet werden könnte; als aber vier bis fünf Jahre verstrichen waren, verloren sie jede Hoffnung.
Gleichzeitig mit den Erzeugnissen des Erdbodens – darunter werthvolle antiskorbutische Pflanzen, wie Löffelkraut, brauner Sellerie und andere, die in der Nähe der Höhle vielfach wuchsen – hatte William Guy aus dem Dorfe auch eine gewisse Menge Geflügel, Hühner und ausgezeichnet schöne Enten, neben einer Anzahl, auf der Insel vielfach vorkommender schwarzer Schweine, herbeischaffen lassen. Ohne zu den Feuerwaffen greifen zu müssen, war es übrigens ein Leichtes, auch Rohrdommeln mit pechschwarzem Gefieder zu Hunderten zu erlegen. Diesen verschiedenen Nahrungsmitteln waren auch außerdem noch Tausende von Eiern der Albatrosse und, im Sande vergraben, solche von Galapagos-Schildkröten hinzuzurechnen, ja die erwähnten riesigen Schildkröten mit ihrem gesunden, nahrhaften Fleisch hätten für die Ueberwinternden im sonst unwirthlichen Polargebiete allein zur Sicherung der Existenz hingereicht.
Hierzu kamen endlich noch die unerschöpflichen Vorräthe aus dem Meere, dem Janesund, in dem es von Fischen aller Art – von Lachsen, Kabeljauen, Rochen, Antoys, Schollen, Rothfedern, Seebarben, Plattfischen und Papageifischen – bis zum Grunde wimmelte und außerdem, von sonstigen schmackhaften Weichthieren zu schweigen, die köstlichen Meerkühe vorkamen, von denen die englische Goëlette eine volle Ladung mitzunehmen gedacht hatte, um sie auf den Märkten des Himmlischen Reiches zu verkaufen.
Ueber diesen Zeitraum, der vom Jahre 1828 bis zum Jahre 1839 reichte, brauchen wir uns nicht eingehender zu verbreiten. Freilich waren die Winter immer recht hart. Wenn der Sommer seinen wohltätigen Einfluß auf die Inselgruppe, zu der Tsalal gehörte, angenehm fühlbar machte, so verschonte sie doch die schlechte Jahreszeit, mit ihrem Gefolge von Schneegestöber, Regenfällen und Stürmen, nicht mit ihrer rauhen Strenge. Eine furchtbare Kälte herrschte über dem ganzen Gebiete der antarktischen Landmassen. Das erst von schwimmenden Schollen bedeckte Meer erstarrte dann für sechs bis sieben Monate. Man mußte das Wiedererscheinen der Sonne abwarten, um offenes Wasser zu finden, wie es Arthur Pym gesehen und wir es vom Packeiswalle an getroffen hatten.
Alles in allem bot das Leben auf der Insel Tsalal aber doch keine besondern Schwierigkeiten. Würde das auf der öden Küste von Halbrane-Land, an der wir hausten, ebenso sein? So reichlich unsere Vorräthe auch waren, mußten sie schließlich zu Ende gehen und mit Eintritt des Winters zogen sich voraussichtlich auch die Schildkröten nach niedrigeren Breiten zurück.
Jedenfalls hatte der Kapitän William Guy bis heute vor sieben Monaten noch keinen von denen eingebüßt, die heil und gesund der Falle bei Klock-Klock entkommen waren, was gewiß mit ihrer kräftigen Gesundheit, bemerkenswerthen Zähigkeit und ihrer großen Charakterstärke zu verdanken sein mochte. Leider sollten ihnen Unglücksfälle aber auch nicht erspart bleiben.
Mit Anfang des Mai – der in jenen Gebieten dem November der nördlichen Halbkugel entspricht – begann schon das Schollentreiben auf dem Meere bei Tsalal – Schollen, die die Strömung damals nach Norden zu entführte.
Eines Tages kehrte einer der sieben Leute nach der Höhle nicht zurück. Man rief nach ihm, wartete, suchte weit und breit umher . . . vergeblich! Ein Opfer irgendwelchen Unfalls – jedenfalls ertrunken – erschien er nicht wieder und sollte nie wieder erscheinen.
Patterson war es, der zweite Officier der »Jane«, der treue Gefährte William Guy's.
Und welches Herzeleid verursachte den wackern Leuten das Verschwinden eines der ihrigen, eines der Besten von Allen! . . . War das nicht wie ein Vorzeichen weiterer Unglücksfälle?
Was William Guy bisher noch nicht wußte, das erfuhr er jetzt von uns, daß der zweite Officier der »Jane« – unter Umständen, die für immer dunkel bleiben werden – mit einer Scholle davongetrieben war, auf der er vor Hunger umkommen sollte. Auf dieser Scholle, die, benagt von dem wärmeren Wasser und der endlichen Auflösung nahe, bis zur Höhe der Prinz Eduard-Inseln gelangt war, hatte der Hochbootsmann den zweiten Officier der »Jane« entdeckt . . .
Als der Kapitän Len Guy dann berichtete, wie sich die »Halbrane«, Dank den in der Tasche des unglücklichen Patterson gefundenen Notizen, hatte nach den antarktischen Gewässern mit einiger Aussicht auf Erfolg begeben können, da quollen seinem Bruder unwillkürlich heiße Thränen aus den Augen.
Diesem ersten Unglück folgten nun bald andre.
Von den sieben Ueberlebenden der »Jane« waren nur noch sechs übrig, und bald sollten es nur noch vier sein, nachdem die kleine Gesellschaft gezwungen worden war, ihr Heil in der Flucht von Tsalal zu suchen.
Patterson war nämlich vor kaum fünf Monaten verschwunden gewesen, als Mitte October ein heftiges Erdbeben die Insel Tsalal geradezu durcheinander schüttelte, wobei gleichzeitig die Inselgruppe im Südwesten fast ganz zerstört wurde.
Welche Gewalt diese Erschütterung gehabt hatte, das läßt sich mit Worten kaum wiedergeben. Wir konnten darüber urtheilen, als das Boot unserer Goëlette an dem von Arthur Pym erwähnten steilen Felsenufer landete. William Guy und seine fünf Gefährten wären nun gewiß bald umgekommen, wenn sie nicht Gelegenheit gefunden hätten, die Insel, die ihnen keine Nahrung mehr bieten konnte, schleunigst zu verlassen.
Wenige Tage nachher warf nämlich die Strömung, nur einige Toisen von ihrer Höhle, ein Boot ans Ufer, das jedenfalls von dem Archipel im Südwesten hierher verschlagen worden war.
Ohne auch nur vierundzwanzig Stunden zu zögern, beeilten sich William Guy, Roberts, Covin, Trinkle, Forbes und Lexton das Boot mit soviel Proviant zu beladen, wie es nur aufnehmen konnte.
Leider wehte grade eine sehr heftige Brise, eine Folge der seismischen Erscheinungen, die den Untergrund des Erdbodens ebenso wie die Luftschichten erschüttert und aufgeregt hatten. Diesem Winde zu widerstehen, erwies sich als unmöglich; er warf das Boot nach Süden zu, wo es in dieselbe Strömung gerieth, die unsern Eisberg bis an die Küste von Halbrane-Land getragen hatte.
Zweieinhalb Monate lang trieben die Unglücklichen über das offene Meer hin, ohne ihre Fahrtrichtung ändern zu können. Erst am 2. Januar des gegenwärtigen Jahres, 1840, kamen sie in Sicht eines Landes, das an der Ostseite des Janesundes lag.
Wie wir bereits erkannt hatten, lag dieses Land höchstens fünfzig Seemeilen von Halbrane-Land entfernt. Ja, so kurz war die Strecke gewesen, die uns von denen trennte, welche wir so weit durch das Antarktische Meer gesucht hatten und kurz vorher nie mehr zu sehen hofften!
Von uns aus gerechnet, war das Boot William Guy's viel weiter im Südosten gelandet. Und doch, welcher Unterschied gegen die Insel Tsalal, oder vielmehr welche Uebereinstimmung mit Halbrane-Land! Ein zu jeder Cultur ungeeigneter Boden, nichts als Sand und Felsen, weder Bäume, noch Gesträuche oder Pflanzen irgendwelcher Art! Bei der bald eintretenden Erschöpfung ihres Proviants sahen sich William Guy und seine Leidensgefährten dem schlimmsten Elend preisgegeben, dem zwei, Forbes und Lexton, in kurzer Zeit erlagen.
Die vier andern, William Guy, Roberts, Covin und Trinkle, wollten keinen Tag mehr auf der Küste verweilen, wo sie sich dem Hungertode geweiht sahen. Mit den wenigen noch übrigen Nahrungsmitteln schifften sie sich auf dem Boote ein und vertrauten sich nochmals der Strömung an, ohne wegen Mangel an Meßinstrumenten die Oertlichkeit, wo sie sich befanden, bestimmen zu können.
Da sie nun fünfundzwanzig Tage unter diesen Verhältnissen hin und her trieben, gingen ihre Hilfsmittel zu Ende und sie waren, nach achtundvierzigstündigem Fasten, nahe daran, zu unterliegen, als das Boot, in dem sie fast leblos zusammengesunken waren, in Sicht von Halbrane-Land erschien.
In derselben Minute hatte der Hochbootsmann es auch bemerkt und Dirk Peters, der sich ins Meer warf, war es geglückt, nach ihm hinzuschwimmen und es nach dem Ufer zu rudern.
In dem Augenblicke, wo er den Fuß in das Boot setzte, hatte der Mestize auch den Kapitän der »Jane« und die Matrosen Roberts, Trinkle und Covin wiedererkannt. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie noch schwach athmeten, ergriff er die Pagaien, führte das Boot dem Lande zu und rief, als er nur noch eine Kabellänge davon entfernt war, den Kopf William Guy's erhebend, so laut, daß wir Alle es verstehen konnten:
»Er lebt! . . . Er lebt noch!«
Und jetzt sahen sich die Brüder auf diesem weltverlorenen Winkel von Halbrane-Land wieder vereinigt.