Jules Verne
Die Eissphinx. Zweiter Band
Jules Verne

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I. Und Pym? . . .

Der Entschluß des Kapitän Len Guy, schon morgen den Ankerplatz an der Insel Tsalal zu verlassen und wieder nach Norden zu segeln, die bisherige Erfolglosigkeit unsrer Fahrt und der Verzicht auf eine Aufsuchung der Schiffbrüchigen von der englischen Goëlette in andern Theilen des Antarktischen Meeres . . . alles das beunruhigte mich in lebhaftester Weise.

Die »Halbrane« sollte die sechs Leute, die sich nach den Aufzeichnungen Patterson's noch vor wenigen Monaten in diesem Gebiete befanden, wirklich ihrem Schicksal überlassen? . . . Die Besatzung derselben würde nicht bis zum äußersten den Verpflichtungen nachkommen, die die Forderungen der Menschlichkeit ihr auferlegten? . . . Sollte sie nicht auch das Unmögliche versuchen, um die Insel oder das Festland aufzufinden, wohin sich die Ueberlebenden von der »Jane« vielleicht hatten flüchten können, als sie die unbewohnbar gewordene Insel Tsalal verlassen mußten? . . .

Dazu hatten wir jetzt erst das Ende des Decembers – es war kurz vor Weihnachten – und befanden uns also eigentlich im Anfange der schönen Jahreszeit, so daß uns zu einer Fahrt durch die Südpolarmeere noch zwei volle Monate übrig blieben. Jedenfalls hatten wir Zeit genug, vor Eintritt der schlechten Jahreszeit den Polarkreis wieder zu erreichen – und jetzt . . . jetzt rüstete sich die »Halbrane« schon, nach Norden hin zu steuern!

Das waren zwar viele günstige Momente für die Weiterverfolgung unsrer Fahrt, ich muß aber zugeben, daß andre, und solche, die sich auf recht gewichtige Gründe stützten, auch dagegen sprachen.

Bis zum heutigen Tage war die »Halbrane« noch nie auf gut Glück hinausgesegelt. Indem sie den von Arthur Pym angegebenen Weg einhielt, steuerte sie einem ganz bestimmten Punkte, der Insel Tsalal, zu. Der unglückliche Patterson bestätigte ebenfalls, daß der Kapitän William Guy und die fünf, dem Hinterhalte bei Klock-Klock entronnenen Matrosen auf dieser, ihrer Lage nach bekannten Insel gefunden werden würden. Nun hatten wir sie hier aber nicht angetroffen, wie überhaupt keine Seele der eingebornen Bevölkerung, die bei einer noch unerklärten Katastrophe zu einer uns unbekannten Zeit zugrunde gegangen war. War es auch ihr gelungen, bei der nach dem Abgange Patterson's eingetretenen Katastrophe, die also höchstens sieben bis acht Monate zurückliegen mußte, noch zu entfliehen?

Auf jeden Fall spitzte sich die Frage auf folgendes einfache Dilemma zu:

Entweder waren die Leute von der »Jane« dabei umgekommen und die »Halbrane« mußte ohne Zögern zurücksegeln, oder sie lebten auch jetzt noch, und dann durften wir die Nachsuchungen nach ihnen nicht aufgeben.

Hielt man sich an diese zweite Möglichkeit, so hatten wir gar nichts anders zu thun, als die in dem Berichte erwähnte, im Westen gelegene Gruppe, die das Erdbeben vielleicht verschont hatte, Insel für Insel abzusuchen. Gab es diese Gruppe aber auch nicht mehr, so konnten sich die Flüchtlinge von der Insel Tsalal doch nach irgend einem andern Lande des Südpolargebietes gerettet haben. Sollte es jetzt keinen der zahlreichen Archipele mehr geben, die das Boot Arthur Pym's und des Mestizen im freien Meere hier angetroffen hatte . . . obgleich niemand wußte, wie weit hinauf sie gekommen waren?

Wurde ihr Boot freilich bis über den vierundachtzigsten Breitengrad hinaufgetragen, wo hätten sie dann landen können, da keine Insel, kein Festland hier die unermeßliche Wasserfläche überragte? Ich muß hier auch nochmals darauf verweisen, daß das Ende des Berichtes nur seltsame, unwahrscheinliche, verwirrte Angaben enthält, die wohl nur auf Illusionen eines halbkranken Gehirns beruhten. Wie nützlich wäre uns jetzt Dirk Peters gewesen, wenn es dem Kapitän Len Guy damals glückte, ihn in seinem Versteck in Illinois aufzuspüren und zur Miteinschiffung auf der »Halbrane« zu bestimmen!

Doch um auf die Hauptfrage zurückzukommen, wer hätte in dem Falle, daß eine Fortsetzung der Fahrt beschlossen wurde, sagen können, wohin die Goëlette in dieser geheimnißvollen Gegend steuern sollte? War sie nicht darauf angewiesen, möcht' ich sagen, ins Blaue hinaus zu segeln?

Dann gab es noch eine andre Schwierigkeit: Würde die Mannschaft der »Halbrane« zustimmen, die Gefahren einer solchen Seereise ins Unbekannte auf sich zu nehmen, noch weiter nach dem Pole zu hinaufzudringen und dann vielleicht auf einen unüberwindlichen Eiswall zu treffen, wenn es sich darum handelte, die Gewässer Amerikas oder Afrikas wieder zu erreichen?

Noch einige Wochen und der antarktische Winter mußte ja mit seinem Gefolge von Sturm und Frost hier wieder einziehen. Das jetzt tatsächlich offene Meer würde über und über zufrieren und ganz unfahrbar werden. Mußte es nicht die Muthigsten zurückschrecken, sieben bis acht Monate lang im Eise eingeschlossen zu sein, ohne die Aussicht, irgendwo landen zu können? Hatten die Vorgesetzten unsrer Leute das Recht, deren Leben aufs Spiel zu setzen auf die ganz unsichere Hoffnung hin, die auf der Insel Tsalal nicht gefundenen Ueberlebenden von der »Jane« zu retten?

Das mochte der Kapitän Len Guy seit dem Vortage erwogen haben. Mit gebrochenem Herzen und ohne jede Aussicht, seinen Bruder und seine Landsleute aufzufinden, hatte er deshalb mit vor Erregung zitternder Stimme befohlen:

»Morgen in aller Frühe absegeln!«

Meiner Empfindung nach brauchte er ebensoviel moralischen Muth, jetzt umzukehren, wie er durch eine weitere Fortsetzung der Fahrt bewiesen hätte. Jetzt hatte er aber seinen Entschluß gefaßt, und er wußte gewiß auch den unsagbaren Schmerz zurückzudämmen, den ihm der Mißerfolg unsrer Reise bereitete.

Ich selbst empfand, offen gestanden, etwas wie eine wirkliche Enttäuschung darüber, daß unsre Fahrt ein so betrübendes Ende nehmen sollte. Nachdem ich einmal so fest mit den Schicksalen und Zielen der »Halbrane« verwachsen war, hätte ich gewünscht, daß die Nachforschungen fortgesetzt würden, so lange dazu in diesem unwirthlichen Erdenwinkel eine Möglichkeit vorlag.

Wie viele Seefahrer an unsrer Stelle hätten sich jetzt entschlossen, das geographische Problem des Südpols zu lösen! Die »Halbrane« befand sich ja schon »weiter oben« als die Schiffe Weddell's und Arthur Pym's gelangt waren, da die Insel Tsalal weniger als sieben Grade von dem Punkte entfernt lag, wo sich die Erdenmeridiane kreuzen. Kein Hinderniß schien sie davon abzuhalten, auch die allerhöchste Breite zu erreichen. Dank der ausnehmend günstigen Witterung, führten Winde und Strömungen sie vielleicht nach dem Endpunkte der Erdachse, von dem sie nur noch vierhundert Seemeilen entfernt war. Reichte das offene Meer bis dahin, so war das das Werk weniger Tage; dehnte sich dort ein Festland aus, so bedurfte es vielleicht einiger Wochen . . . In der That dachte aber niemand der Unsrigen an den Südpol, und um dessen Entdeckung willen hatte die »Halbrane« den Gefahren des Antarktischen Oceans nicht Trotz geboten!

Auch angenommen, der Kapitän Len Guy hätte bei dem Wunsche, seine Nachforschungen fortzusetzen, die Zustimmung Jem West's, des Hochbootsmanns und der alten Mannschaft gefunden, so war es noch gar nicht ausgemacht, daß er die zwanzig auf den Falklands neuangeworbenen Leute, deren Mißstimmung der Segelwerksmaat Hearne eifrig unterhielt, zu dem gleichen Entschlusse bewegen könnte. Nein, der Kapitän Len Guy konnte sich unmöglich auf diese Leute – die Mehrheit der Mannschaft – verlassen, die er schon bis zur Höhe der Insel Tsalal hinaufgeführt hatte. Sie hätten es sicherlich verweigert, noch höher in die antarktischen Gewässer mit hinaufzugehen, und das bildete gewiß einen der Gründe, die unsern Kapitän veranlaßten, wieder nach Norden zu steuern, und das trotz des quälenden Schmerzes, den er dabei empfinden mochte.

Wir betrachteten unsre Hinfahrt also als beendet; wer beschreibt aber unsre Ueberraschung, als wir da die Worte vernahmen:

»Und Pym? . . . Der arme Pym? . . .«

Ich drehte mich um.

Hunt war es, der sie gesprochen hatte.

Regungslos am Deckhause stehend, verschlang der seltsame Mann den Horizont mit den Blicken.

An Bord der Goëlette war man so wenig gewöhnt, die Stimme Hunt's zu vernehmen – vielleicht waren das überhaupt die ersten Worte, die er seit seiner Einschiffung in Aller Gegenwart gesprochen hatte – daß die Neugierde schon die Mannschaft zu ihm hintrieb. Sein ganz unvermuthetes Auftreten schien – ich hatte wenigstens eine solche Ahnung – auf einer wunderbaren Eingebung zu beruhen.

Ein Wink Jem West's verscheuchte die Leute wieder nach dem Vorderdeck. Nur der Lieutenant, der Hochbootsmann, der Segelwerksmaat Martin Holt und der Kalfatermeister Hardie, die sich dazu berechtigt glaubten, blieben bei uns zurück.

»Was hast Du gesagt?« fragte der Kapitän Len Guy, näher an Hunt herantretend.

»Ich sagte: Und Pym? . . . Der arme Pym?«

»Und was beabsichtigst Du damit, uns an den Namen des Mannes zu erinnern, dessen verderbliche Rathschläge meinen Bruder bis zu dieser Insel verlockt haben, wo die ›Jane‹ zerstört, der größte Theil seiner Leute niedergemetzelt wurde und wo wir nicht einen einzigen von denen, die noch vor sieben Monaten hier weilten, mehr wiedergefunden haben?«

Hunt gab keine Antwort.

»So sprich doch . . . sofort!« rief der Kapitän Len Guy, dem es das Herz zerriß, so daß er seine sonstige Ruhe nicht zu bewahren vermochte.

Hunt's Zögern kam nicht daher, daß er nichts zu antworten gewußt hätte, sondern entsprang – wie sich noch weiter zeigen wird – einer gewissen Schwierigkeit, seine Gedanken auszudrücken. Diese erwiesen sich indeß stets ganz bestimmt und klar, wenn er auch in jedem Satze stockte und es seinen Worten oft fast an jeder Verbindung fehlte. Kurz, er hatte eine besondre, zuweilen bilderreiche Ausdrucksweise und seine Aussprache ließ deutlich den rauhen Ton der Indianer des fernen Westens erkennen.

»Ja . . .« sagte er, »ich kann das nicht ordentlich erzählen . . . die Sprache versagt mir . . . verstehen Sie recht . . . Ich habe von Pym, dem armen Pym gesprochen . . . nicht wahr?«

»Gewiß,« erklärte der Lieutenant kurz angebunden, »und was hast Du uns über Arthur Pym mitzutheilen?«

»Ich meinte nur . . . daß er nicht verlassen werden sollte.«

»Nicht verlassen werden?« rief ich erstaunt.

»Nein . . . niemals!« erklärte Hunt. »Bedenken Sie doch . . . das wäre grausam . . . zu grausam . . . Wir müssen ihn suchen.«

»Ihn suchen?« wiederholte der Kapitän Len Guy.

»Verstehen Sie recht . . . das war der Grund, warum ich mich auf der »Halbrane« mit einschiffte . . . ja . . . ihn . . . den armen Pym . . . wiederzufinden.«

»Und wo sollte er denn sein,« fragte ich, »wenn nicht im Grunde eines Grabes auf dem Friedhof seiner Vaterstadt!«

»Nein . . . er ist da, wo er geblieben . . . dort ganz allein zurückgeblieben ist . . .« erwiderte Hunt, mit der Hand nach Süden weisend, »und seit der Zeit ist die Sonne schon elfmal über diesen Horizont wieder aufgestiegen!«

Hunt wollte hiermit offenbar die antarktischen Gebiete bezeichnen, doch was war eigentlich seine Absicht?

»Weißt Du denn nicht, daß Arthur Pym todt ist?« sagte der Kapitän Len Guy.

»Todt!« entgegnete Hunt, der dieses Wort mit einer ausdrucksvollen Bewegung begleitete. »Nein . . . hören Sie mich an . . . ich weiß darum Bescheid . . . verstehen Sie mich recht . . . er ist nicht todt!«

»Aber, Hunt,« fiel ich ein, »erinnern Sie sich doch . . . im letzten Capitel der Abenteuer Arthur Pym's berichtet Edgar Poë ja, daß er ein plötzliches und beklagenswerthes Ende genommen habe!«

Auf welche Weise dieses merkwürdige Leben geendet hatte, davon sagt der amerikanische Dichter freilich nichts, und ich betone, das erschien mir von jeher verdächtig. Sollte das Geheimniß dieses Todes jetzt wirklich noch enthüllt werden, da Arthur Pym, wenn man Hunt Glauben schenken konnte, aus dem Polargebiete gar nicht zurückgekehrt war?

»Erkläre Dich bestimmt, Hunt!« befahl der Kapitän Len Guy, der mein Erstaunen theilte. »Ueberlege Dir alles . . . nimm Dir Zeit . . . und sage deutlich, was Du zu sagen hast!«

Und während Hunt sich mit der Hand über die Stirne strich, als wollte er halbverlorene Gedanken sammeln, bemerkte ich zu dem Kapitän Len Guy:

»Es steckt etwas Eigenartiges in dem plötzlichen Auftreten dieses Mannes, und wenn er nicht ein Narr ist . . .«

Der Hochbootsmann nickte zu diesen Worten mit dem Kopfe, denn seiner Ansicht nach war Hunt nicht recht bei Verstande.

»Nein . . . kein Narr . . .« rief er . . . die Narren sind da unten in der Prärie . . . man schont sie, glaubt ihnen aber nicht! . . . Mir . . . mir muß man jedoch glauben . . . Nein! Pym ist nicht todt!«

»Edgar Poë behauptet es aber,« antwortete ich.

»Ja, ja . . . das weiß ich . . . Edgar Poë . . . aus Baltimore . . . Er . . . er hat indeß den armen Pym niemals gesehen . . . niemals!«

»Wie?« rief der Kapitän Len Guy, »die beiden Männer hätten einander gar nicht gekannt? . . .«

»Nein!«

»Hat denn Arthur Pym seine Erlebnisse dem Edgar Poë nicht selbst erzählt?«

»Nein, Kapitän, bestimmt nicht!« versicherte Hunt. »Der . . . der da in Baltimore . . . hat nichts gesehen als die Niederschriften, die Pym von dem Tage an aufgesetzt hat, wo er an Bord des »Grampus« versteckt war . . . die er fortgesetzt hat bis zur letzten . . . verstehen Sie mich recht . . . bis zur allerletzten Stunde!«

Hunt fürchtete offenbar, nicht richtig verstanden zu werden und wiederholte diese Mahnung deshalb immer wieder. Ich kann übrigens nicht leugnen, daß mir seine Erklärungen unannehmbar erschienen. Arthur Pym wäre, seiner Rede nach, also nie in Beziehungen zu Edgar Poë getreten? Der amerikanische Dichter hätte keine weiteren Unterlagen besessen, als jene kurzen Anmerkungen, die während der ganzen, so unwahrscheinlichen Fahrt Tag für Tag fortgeführt waren?

»Wer hat ihm dann jenes Tagebuch überbracht?« fragte der Kapitän Len Guy, der Hunt's Hand ergriff.

»Das war der Begleiter Pym's . . . der ihn wie einen Sohn liebte . . . den armen Pym . . . der Mestize Dirk Peters, der allein von da unten zurückkehrte.«

»Der Mestize Dirk Peters?« rief ich verwundert.

»Ja.«

»Allein? . . .«

»Ganz allein!«

»Und Arthur Pym wäre noch . . .?«

»Dort!« antwortete Hunt jetzt mit mächtiger Stimme, während er sich in der Richtung nach Süden hinausbog, wohin sein Blick unablässig gefesselt war.

Vermochte eine solche Versicherung unsern allgemeinen Unglauben zu überwinden? . . . Nein, gewiß nicht. Martin Holt stieß Hurliguerly auch mit dem Ellbogen, und beide schienen Hunt nur zu bemitleiden, während Jem West diesen betrachtete, ohne seine Empfindungen dabei zu verrathen. Der Kapitän Len Guy sagte mir durch ein Zeichen, daß nichts ernstes aus dem armen Teufel zu locken sei, dessen Geisteskräfte schon seit langer Zeit geschwächt sein müßten.

Und doch glaubte ich bei näherer Prüfung Hunt's etwas wie den Ausdruck von Wahrhaftigkeit aus seinen Augen strahlen zu sehen.

Da beschloß ich Hunt auszuforschen, ihm ganz bestimmte und dringliche Fragen zu stellen, auf die er, wie der Leser sehen wird, immer wieder in bejahendem Sinne, und ohne sich in Widersprüche zu verwickeln, Antwort gab.

»Nun, guter Freund,« begann ich, »nachdem Arthur Pym von den Rumpfe des »Grampus« aus aufgenommen worden war, ist er doch an Bord der »Jane« und mit Dirk Peters nach der Insel Tsalal gekommen?«

»Ja freilich.«

»Und während eines Besuchs des Kapitän William Guy im Dorfe Klock-Klock hat sich Arthur Pym mit dem Mestizen und einem der Matrosen von seinen übrigen Gefährten getrennt?«

»Ja,« antwortete Hunt, »mit dem Matrosen Allen, der gleich darauf unter den Steinmassen erstickte.«

»Dann haben Beide von der Höhe des Hügels aus dem Angriffe und der Zerstörung der Goëlette zugesehen?«

»Jawohl.«

»Und einige Zeit darauf haben beide die Insel verlassen, nachdem sie sich eines Bootes bemächtigt hatten, das die Eingebornen ihnen nicht wieder abjagen konnten?«

»Wie Sie sagen.«

»Zwanzig Tage später endlich, als sie bei der Dunstwand angelangt waren, wurden Beide in den Abgrund des Katarakts hinuntergestürzt?«

Hunt antwortete hierauf nicht bejahend . . . er zauderte . . . er murmelte unverständliche Worte. Mir schien es, als suchte er das halberloschne Feuer seines Gedächtnisses wieder anzufachen. Endlich sah er mir ins Auge und schüttelte mit dem Kopfe.

»Nein . . . nicht Beide,« antwortete er. »Verstehen Sie mich recht . . . Dirk Peters hat mir niemals gesagt . . .«

»Dirk Peters?« fragte der Kapitän Len Guy lebhaft. »Hast Du denn Dirk Peters gekannt?«

»Gewiß.«

»Wo denn?«

»In Bandalia . . . im Staate Illinois.«

»Von ihm erfuhrst Du, was Du von jener Reise weißt?«

»Von ihm selbst.«

»Und er ist allein heimgekehrt . . . allein . . . von da unten . . . wo er Arthur Pym zurückgelassen hat?«

»Ja . . . allein.«

»So sprechen Sie doch . . . sprechen Sie sich doch aus!« rief ich.

Ich kochte wirklich vor Ungeduld. Wie! Hunt hatte Dirk Peters wirklich gekannt, und Dank dessen Mittheilungen wußte er Dinge, von denen ich glaubte, daß sie nie ein Mensch erfahren werde! . . . Er kannte den Ausgang jener wahrhaft wunderbaren Abenteuer?

In unterbrochenen, doch verständlichen Sätzen erklärte dann Hunt weiter:

»Ja . . . da unten . . . eine Dunstwand . . . ein Vorhang . . . hat mir der Mestize gesagt . . . verstehen Sie mich recht . . . Beide, Arthur Pym und er, befanden sich in dem Boote von Tsalal. Dann ist ein Eisblock . . . eine ungeheure Eismasse . . . auf sie zugetrieben . . . Bei dem Anprall ist Dirk Peters ins Meer gefallen. Er hat sich aber an dem Eise anklammern und darauf in die Höhe klettern können . . . und . . . verstehen Sie mich recht . . . von hier aus hat er gesehen, wie das Boot von der Strömung weit . . . weit . . . zu weit weg geführt wurde. Vergebens hatte Pym versucht, sich mit seinen Gefährten wieder zu vereinigen. Er hat es nicht vermocht . . . das Boot trieb fort . . . hinaus . . . und Pym, der arme, liebe Pym . . . wurde weit weg getragen. Er . . . er war es, der nicht heimgekehrt ist und der noch immer da . . . da draußen schmachtet!«

Wahrlich, wäre dieser Mann Dirk Peters in eigner Person gewesen, er hätte nicht mit mehr Erregung und Kraft oder mit mehr Theilnahme von dem »armen, lieben Pym« sprechen können!

Jedenfalls blieb jetzt eine Thatsache bestehen – und warum hätten wir daran zweifeln sollen? – nämlich die, daß Arthur Pym und Dirk Peters von jener merkwürdigen Dunstwand von einander getrennt worden waren.

Konnte Arthur Pym freilich bis nach jenen höchsten Breiten vordringen, wie war es seinem Gefährten Dirk Peters möglich gewesen, wieder nach Norden zu gelangen . . . über das Packeis hinaus zu kommen . . . den Polarkreis zu überschreiten und nach Amerika zurückzukehren, wohin er jene, Edgar Poë übergebenen Aufzeichnungen mitgebracht hatte?

Diese verschiedenen Fragen wurden einzeln an Hunt gerichtet und er beantwortete alle in Uebereinstimmung – wie er sagte – mit dem, was ihm der Mestize so viele Male erzählt hatte.

Nach dem, was er uns mittheilte, hatte Dirk Peters das Tagebuch Pym's in der Tasche gehabt, als er sich auf den Eisblock rettete, und so wurde jenes erhalten und konnte dem amerikanischen Romandichter überliefert werden.

»Verstehen Sie mich recht,« wiederholte Hunt, »ich erzähle Ihnen die Dinge nur so, wie ich sie von Dirk Peters erfahren habe. Während die Strömung ihn entführte, rief er aus Leibeskräften . . . Pym, der arme Pym war aber bereits in der Dunstwand verschwunden.« Der Mestize, der sich von rohen Fischen, die es ihm zu ergreifen gelang, ernährte, wurde durch den Gegenstrom nach der Insel Tsalal zurückgetragen, wo er halb todt vor Hunger ans Land stieß.

»Nach der Insel Tsalal?« rief der Kapitän. »Und seit wie langer Zeit hatte er diese verlassen?«

»Drei Wochen vorher . . . jawohl . . . höchstens drei Wochen . . . hat mir Dirk Peters gesagt.«

»Dann muß er doch, was von der Mannschaft der ›Jane‹ noch übrig war, dort angetroffen haben,« fragte der Kapitän Len Guy, »meinen Bruder William und die, die außer ihm mit dem Leben davongekommen waren?«

»Nein . . .« erwiderte Hunt. »Dirk Peters hat auch nichts anderes geglaubt, als daß sie bis zum letzten . . . ja . . . alle, alle den Untergang gefunden hätten. Auf der Insel war niemand mehr!«

»Niemand?« wiederholte ich, von dieser Behauptung ganz verblüfft.

»Niemand!« erklärte Hunt nochmals.

»Doch die Bewohner von Tsalal . . .?«

»Kein Mensch, sag' ich Ihnen, keine lebende Seele! . . . Eine öde . . . ja . . . eine verlassene Insel!«

Das widersprach gänzlich gewissen Thatsachen, deren wir uns sicher waren. Immerhin ließ es sich vielleicht dahin erklären, daß die Bevölkerung der Insel beim Wiedereintreffen Dirk Peters von einem unaufgeklärten Schrecken ergriffen schon auf der südwestlichen Inselgruppe Zuflucht gesucht, William Guy und seine Gefährten aber die Schluchten von Klock-Klock noch nicht verlassen hatten. Dann hätte der Mestize sie freilich nicht auffinden können und diese selbst hätten während ihres elfjährigen Verweilens auf der Insel von den Urbewohnern nichts mehr zu fürchten gehabt. Wenn sie andrerseits freilich Patterson erst jetzt vor sieben Monaten verlassen und wir sie nicht wieder getroffen hatten, mußten sie die Insel Tsalal inzwischen verlassen haben, wahrscheinlich weil diese nach dem Erdbeben ihnen keine Nahrungsmittel mehr darbot.

»Bei der Rückkehr des Dirk Peters also,« nahm der Kapitän wieder das Wort, »fand sich kein einziger Bewohner mehr auf der Insel?«

»Niemand . . . –« wiederholte Hunt, »niemand! Der Mestize hat nicht einen einzigen Eingebornen zu Gesicht bekommen.«

»Was fing Dirk Peters dann aber an?« fragte der Hochbootsmann.

»Verstehen Sie mich recht,« antwortete Hunt. »Ein verlassenes Boot war noch vorhanden . . . hier am Ufer dieser Bucht. Es enthielt gedörrtes Fleisch und mehrere Fässer Süßwasser. Der Mestize sprang hinein. Ein Südwind . . . ja, ein steifer Südwind, der mit der Gegenströmung auch schon seinen Eisblock nach der Insel Tsalal getrieben hatte, führte ihn Wochen auf Wochen längs des inneren Packeisrandes dahin, bis er endlich eine Durchfahrt entdeckte. Glauben Sie mir getrost – ich wiederhole ja nur, was mir Dirk Peters hundertmal erzählt hat – ja . . . eine Durchfahrt, und dann überschritt er den Polarkreis.«

»Doch jenseits desselben?« fragte ich.

»Unweit davon wurde er von einem amerikanischen Walfänger, dem ›Sandy-Hook‹, aufgenommen und nach Amerika zurückgebracht.«

In dieser Weise hatte also – die Angaben Hunt's als verläßlich angenommen – jenes schreckliche Drama der antarktischen Gebiete, wenigstens in Bezug auf Dirk Peters, seine Lösung gefunden. Nach den Vereinigten Staaten heimgekehrt, war der Mestize mit Edgar Poë, dem damaligen Herausgeber des Southern Literary Messenger, in Verbindung gekommen und aus den Aufzeichnungen Arthur Pym's war jener wunderbare Bericht entstanden, kein Phantasiegebilde, wie man bisher glaubte, dem aber nur die letzte Lösung des Knotens fehlte.

Die erfundenen Zuthaten in dem Werke des amerikanischen Schriftstellers bestehen wohl nur in den seltsamen Ereignissen, von denen die letzten Capitel handeln, wenn nicht etwa Arthur Pym in der geistigen Verwirrung der letzten Stunden die wunderbaren und übernatürlichen Erscheinungen jenseits des Dunstvorhangs selbst gesehen zu haben glaubte.

Doch sei dem, wie es will – eines stand nun fest: Edgar Poë hatte Arthur Pym überhaupt nicht kennen gelernt. Aus diesem Grunde ließ er seine Leser zuletzt auch in der zehrenden Ungewißheit und hatte jenen »eines plötzlichen beklagenswerthen Todes« sterben lassen, ohne etwas näheres darüber anzugeben.

Doch wenn Arthur Pym nicht zurückgekehrt war, konnte man dann vernünftiger Weise annehmen, daß er nicht sehr bald nach der Trennung von seinem Gefährten umgekommen wäre und daß er gar noch lebte, nachdem volle elf Jahre seit seinem Verschwinden verflossen waren?

»Ja . . . ja . . . dennoch!« behauptete Hunt.

Das erklärte er mit der Ueberzeugung, die ihm Dirk Peters eingeflößt hatte, als Beide den Flecken Bandalia im Staate Illinois bewohnten.

Jetzt mußten wir uns nur noch fragen, ob denn Hunt seinen Verstand wirklich noch beisammen habe. Offenbar war er es doch gewesen, der in einem Anfalle von Erregung – daran zweifelte ich nicht – in meine Cabine eingedrungen war, wo er mir ins Ohr die Worte geflüstert hatte:

»Und Pym? . . . Der arme Pym?«

Ja, ja . . . ich träumte damals nicht.

Kurz, wenn alles, was Hunt gesagt hatte, auf Wahrheit beruhte, und er nur der getreue Uebermittler der Geheimnisse war, die Dirk Peters ihm anvertraut hatte, konnte man ihm dann Glauben schenken, wenn er mit gleichzeitig bittender und befehlender Stimme sagte:

»Pym ist nicht todt! . . . Pym ist dort! . . . Der arme Pym darf nicht verlassen werden!«

Als ich mit meiner Befragung Hunt's zu Ende war, riß sich der tief erregte Kapitän Len Guy endlich aus seinem Nachsinnen los und befahl mit herrischer Stimme:

»Alle Mann auf Hinterdeck!«

Als sich die Mannschaft der Goëlette um ihn gesammelt hatte, begann er:

»Passe jetzt auf, Hunt, und denke an den Ernst der Fragen, die ich Dir noch zu stellen habe!«

Hunt erhob den Kopf und ließ die Blicke über die Matrosen der »Halbrane« hinschweifen.

»Du behauptest also, Hunt, alles, was Du uns eben über Arthur Pym mitgetheilt hast, sei völlig wahr?«

»Ja,« antwortete Hunt und bekräftigte seine Bestätigung noch durch eine bezeichnende Geste.

»Du hast Dirk Peters gekannt?«

»Jawohl.«

»Hast mit ihm mehrere Jahre in Illinois verlebt?«

»Neun volle Jahre.«

»Und er hat Dir diese Dinge oft erzählt?«

»Wie ich sagte.«

»Du selbst zweifelst auch nicht daran, daß er die reine Wahrheit gesprochen habe?«

»Nicht im mindesten!«

»Er glaubte, daß William Guy und seine Gefährten alle beim Einsturz der Hügel von Klock-Klock umgekommen wären?«

»Ja . . . und nach dem, was er mir mitgetheilt hat, glaubte es Arthur Pym ebenfalls.«

»Wo hast Du Dirk Peters zum letzten Mal gesehen?«

»In Bandalia.«

»Ist das schon lange Zeit her?«

»Zwei Jahre.«

»Und wer von Euch beiden – Du oder er – hat Bandalia zuerst verlassen?«

Hunt schien jetzt mit einer Antwort etwas zu zögern.

»Wir haben es zusammen verlassen,« sagte er schließlich.

»Und Du, um wohin zu gehen?«

»Nach den Falklands-Inseln.«

»Und er? . . .«

»Er!« wiederholte Hunt.

Sein Blick schien zuletzt auf unserm Segelmeister Martin Holt haften zu bleiben, auf dem Manne, dem er während des Sturmes das Leben mit dem Einsatz seines eigenen gerettet hatte.

»Nun,« begann der Kapitän Len Guy wieder, »verstehst Du, was ich frage?«

»Gewiß.«

»So antworte doch! Hat Dirk Peters, als er aus Illinois fortging, Amerika verlassen?«

»Ja.«

»Um wohin zu gehen? . . . Sprich! . . .«

»Nach den Falklands-Inseln.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Er steht vor Ihnen!«

 


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