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Die Frage wegen einer Ueberwinterung hatte eine gewaltsame Lösung gefunden. Von den dreiunddreißig Mann, die die »Halbrane« bei ihrer Abfahrt von den Falkland-Inseln an Bord hatte, waren noch dreiundzwanzig nach dem Lande hier gekommen und von diesen wieder dreizehn entflohen, um die Fischgründe jenseits des Packeises zu erreichen . . . ohne daß das Loos sie dazu bestimmt hatte. Nein . . . nur um sich den Schrecken einer Ueberwinterung zu entziehen, waren sie feig davongegangen!
Leider hatte Hearne nicht allein seine näheren Kameraden mitgenommen. Zwei der unserigen, der Matrose Burry und der Segelwerksmaat Martin Holt, hatten sich ihm angeschlossen . . . Martin Holt, der unter dem Eindruck der schrecklichen Eröffnung, die der Segelmeister ihm gemacht hatte, wohl kaum wußte, was er that.
Die Lage aller der, die nach der Ausloosung doch zurückgeblieben wären, erschien durch diesen Zwischenfall nicht geändert. Wir waren nur noch neun beisammen: Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant Jem West, der Hochbootsmann Hurliguerly, der Kalfatermaat Hardie, der Koch Endicott, die beiden Matrosen Francis und Stern, Dirk Peters und ich. Welche Prüfungen sollte uns jetzt, wo der Polarwinter herannahte, die bevorstehende Ueberwinterung auferlegen! Welch' entsetzliche Kälte würden wir auszustehen haben – eine strengere, als an jedem andern Punkte der Erde und dazu in einer sechs Monate andauernden Nacht. Man konnte nicht ohne geheimes Grauen daran denken, wie viel geistige und körperliche Energie es erfordern würde, um unter Verhältnissen zu leben, die über alle menschliche Widerstandsfähigkeit hinausgingen.
Alles zusammen genommen waren aber die Aussichten derer, die uns verlassen hatten, gewiß nicht besser. Würden sie bis zum Packeis offenes Wasser finden? Würde es ihnen gelingen, den Polarkreis zu überschreiten und würden sie eines der letzten Schiffe von dieser Fangperiode treffen? Würde ihnen bei einer Fahrt von tausend Seemeilen nicht zuletzt der Proviant ausgehen? Wie viel konnte denn das, mit dreizehn Mann schon fast überladene Boot davon noch tragen? Ja, wer war wohl größeren Gefahren ausgesetzt, jene oder wir? Auf diese Frage konnte freilich nur die Zukunft Antwort geben.
Als das Boot verschwunden war, begab der Kapitän Len Guy sich mit allen Begleitern über die Landspitze hinweg wieder nach der Höhle, die schon in undurchdringlicher Finsterniß lag. Hier sollten wir die lange Zeit hinbringen, in der es nahezu unmöglich war, ins Freie hinaus zu gehen.
Ich dachte zuerst an Dirk Peters, der nach dem von Hearne abgefeuerten Schusse zurückgeblieben war, während wir uns beeilten, nach der andern Seite der Landspitze zu kommen.
In die Höhle zurückgekehrt, bemerkte ich den Mestizen nicht. Sollte er so schwer verwundet worden sein? Sollten wir auch noch den Tod dieses Mannes beklagen, der uns ebenso treu geblieben war, wie seinem armen Pym?
Ich hoffte – wir Alle hofften es – daß seine Verwundung nicht so ernster Natur sein werde. Jedenfalls bedurfte er aber der Pflege, und Dirk Peters war verschwunden.
»Auf, suchen wir nach ihm, Herr Jeorling,« rief der Hochbootsmann.
»Vorwärts denn!« antwortete ich.
»Halt, wir wollen zusammen gehen,« sagte der Kapitän Len Guy. »Dirk Peters gehörte zu den Unserigen; er hat uns niemals verlassen und wir werden ihn nicht verlassen!«
»Wird der Unglückliche aber zurückkehren wollen,« bemerkte ich, »da jetzt jedermann das weiß, was ich als Geheimniß zwischen ihm und mir betrachtete?«
Ich erklärte nun meinen Begleitern, warum in Arthur Pym's Berichte der Name Ned Holt gegen Parker vertauscht worden war und unter welchen Umständen der Mestize mich darüber unterrichtet hatte. Natürlich hob ich alles hervor, was zu seiner Entlastung dienen konnte.
»Hearne,« erklärte ich, »hat gesagt, daß Dirk Peters den Ned Holt erschlagen habe. Ja . . . das ist wahr! Ned Holt befand sich mit auf dem ›Grampus‹, und sein Bruder Martin Holt konnte wohl annehmen, daß er bei der Meuterei auf dem Schiffe oder bei dessen Untergang mit ums Leben gekommen sei. Nun, das war nicht der Fall! Er war noch zusammen mit August Barnard, Arthur Pym und dem Mestizen, bald aber wurden diese vom schrecklichsten Hunger gequält. Einer von ihnen, der, für den das Loos entscheiden sollte, mußte als Opfer fallen. Ned Holt zog das Todesloos! Er fiel unter dem Messer des Dirk Peters'! Wäre aber der Mestize durch das Loos dazu bestimmt worden, so wäre er den Andern zum Opfer gefallen!«
Da warf der Kapitän Len Guy die Frage ein:
»Dieses Geheimniß hatte Dirk Peters Ihnen allein vertraut, Herr Jeorling?«
»Mir ganz allein, Kapitän!«
»Und Sie haben es bewahrt?«
»Unverbrüchlich!«
»Ich begreife dann nicht, wie es zur Kenntniß Hearne's kommen konnte . . .«
»Anfangs meinte ich,« lautete meine Antwort, »Dirk Peters möchte im Schlafe gesprochen und der Segelmeister könnte das Geheimniß durch eine solche Zufälligkeit erfahren haben. Bei reiflicher Ueberlegung erinnere ich mich aber folgenden Sachverhaltes: Als der Mestize mir die Auftritte auf dem »Grampus« schilderte und mir gestand, daß Parker kein Andrer als Ned Holt war, befand er sich in meiner Cabine, deren Seitenladen zurückgeschoben war. Ich glaube nun, unser, wenn auch leise geführtes Gespräch ist von dem Manne, der sich am Steuer befand, gehört worden. Dieser Mann war aber Hearne, der, offenbar um besser lauschen zu können, das Steuer verlassen hatte, so daß die »Halbrane« aus ihrem Curs kam.«
»Dessen erinnere ich mich,« sagte Jem West; »ich machte dem Pflichtvergessenen auch harte Vorwürfe und schickte ihn zur Strafe in den Frachtraum.«
»Nun, Kapitän,« fuhr ich fort, »seit jenem Tage drängte sich Hearne mehr an Martin Holt heran; der Hochbootsmann hat mich gleich darauf aufmerksam gemacht.«
»Ganz recht,« bestätigte Hurliguerly, »denn Hearne, der nicht imstande war, das Boot, dessen er sich zu bemächtigen gedachte, zu führen, brauchte einen Maat wie Martin Holt dazu.«
»Ferner,« fuhr ich fort, »trieb er Martin Holt fortwährend an, den Mestizen über das Schicksal seines Bruders zu befragen, und Sie wissen ja, unter welchen Umständen er ihm das schreckliche Geheimniß schließlich mittheilte. Martin Holt wurde durch diese Eröffnung ganz betäubt. Die Andern schleppten ihn fort und jetzt ist er bei jenen!«
Jeder gab zu, daß das der Gang der Sache gewesen sein werde. Mußten wir nun, nach Enthüllung des Geheimnisses, nicht fürchten, daß Dirk Peters sich in seiner augenblicklichen Gemüthsverfassung absichtlich vor uns verbarg? Würde er zustimmen, seinen Platz unter uns wieder einzunehmen?
Gleich darauf verließen wir Alle die Höhle, und nach einer Stunde hatten wir den Mestizen gefunden.
Sobald er uns bemerkte, schickte er sich sofort an, zu entfliehen. Hurliguerly und Francis wurden seiner jedoch schließlich habhaft und er setzte ihnen keinen Widerstand entgegen. Ich sprach auf ihn . . . die Andern thaten dasselbe . . . der Kapitän Len Guy streckte ihm die Hand entgegen. Erst zögerte er, sie anzunehmen, dann kehrte er, ohne ein Wort zu sprechen, mit nach dem Strande zurück.
Seit diesem Tage war zwischen ihm und mir nie wieder von den Ereignissen aus dem »Grampus« die Rede.
Die Verwundung des Dirk Peters brauchte uns keine Angst einzuflößen. Die Kugel war nur in seinen linken Oberarm eingedrungen und es war ihm schon durch Drücken mit der Hand gelungen, sie zu entfernen. Nachdem die Wunde mit einem Stück Segeltuch verbunden war, zog er die Jacke wieder an und ging am nächsten Tage, scheinbar ganz unbehindert, an seine gewohnte Arbeit.
Unsere Einrichtung wurde im Hinblick auf eine lange Ueberwinterung getroffen. Jetzt drohte uns die schlechte Jahreszeit und tagelang vermochte die Sonne die dicken Dünste nicht zu durchbrechen. Die Temperatur sank auf sechsunddreißig Grad (+2,22°C) und sollte auch nicht wieder ansteigen. Die Sonnenstrahlen, die auf die Erde sehr lange Schatten warfen, gaben sozusagen keine Wärme mehr. Der Kapitän Len Guy hatte schon an Alle dicke Wollensachen austheilen lassen, ohne erst den Eintritt strengerer Kälte abzuwarten.
Inzwischen trieben Eisberge, Packs und Eistriften von Süden her in immer wachsender Anzahl heran. Wenn sich auch einige gegen das von Eis umlagerte Ufer anlegten, so schwammen doch die meisten in nordöstlicher Richtung weiter.
»Alle die Stücke da draußen,« sagte der Hochbootsmann zu mir, »helfen die große Packeiswand aufbauen. Kommt ihnen das Boot des schurkischen Hearne nicht zuvor, so fürchte ich, seine Leute werden das Thor geschlossen finden, und da es ihnen an einem Schlüssel fehlt, es zu öffnen . . .«
»Sie meinen also, Hurliguerly,« fragte ich, »daß wir bei einer Ueberwinterung an dieser Küste weniger gefährdet sind, als wenn wir im Boote Platz genommen hätten?«
»Das ist meine Ansicht, jetzt wie schon früher, Herr Jeorling!« antwortete der Hochbootsmann. »Und überdies, wissen Sie noch etwas?« setzte er hinzu, unter Benützung seiner gewohnten Formel.
»Sprechen Sie, Hurliguerly!«
»Nun, die, die im Boote sitzen, sind weit schlimmer daran, als die, die draußen geblieben sind, und ich sage Ihnen nochmals, wenn das Loos mir einen Platz bestimmt hätte, ich würde ihn jedem Andern gern abgetreten haben. Es ist doch schon etwas werth, festen Boden unter den Füßen zu haben! Uebrigens wünsch' ich keinem den Tod, wenn wir auch schurkischer Weise im Stich gelassen worden sind. Gelingt es Hearne und den Andern aber nicht, noch das Packeis zu durchfahren, sind sie verurtheilt, den Winter im Eise zuzubringen, wo ihnen außerdem Nahrungsmittel nur für einige Wochen zu Gebote stehen, so wissen Sie ja das Schicksal, das den Leuten droht.«
»Ja, ein schlimmeres als das unserige!« antwortete ich.
»Und ferner,« fuhr der Hochbootsmann fort, »genügt es auch noch nicht, den Polarkreis zu erreichen, denn wenn die Walfänger ihre Fischgründe schon verlassen haben, kann ein belastetes, ja überlastetes Boot keine Fahrt über das Meer bis nach den australischen Ländern wagen.«
Das war ja meine Ansicht auch, ebenso wie die des Kapitän Len Guy und Jem West's. Von günstigen Wasser- und Windverhältnissen unterstützt, nur normal belastet und mit Vorräthen für mehrere Monate ausgerüstet, kurz, unter den allergünstigsten Umständen wäre das Boot vielleicht in der Lage gewesen, eine solche Strecke zurückzulegen . . . War das aber hier der Fall? . . . Gewiß nicht!
Im Laufe der folgenden Tage, am 14., 15., 16. und 17. Februar, wurde die häusliche Einrichtung und die Ordnung aller unserer Habe vollendet.
Wir unternahmen auch einige Ausflüge ins Land hinein. Der Erdboden zeigte überall die gleiche Unfruchtbarkeit und erzeugte nur eine Art dornigen Gesträuchs, das im reinen Sande noch fortkommt und womit der Strand reichlich besetzt war.
Hatte der Kapitän noch eine letzte Hoffnung bezüglich seines Bruders und der Matrosen von der »Jane« bewahrt und sich vielleicht gesagt, daß sie nach der Abfahrt von der Insel Tsalal in einem Boote die Strömung wohl bis an diese Küste getragen haben könne, so mußte er jetzt zugeben, daß sich hier keine Spur von den Verschollenen fand.
Einer unserer Ausflüge brachte uns in vier Seemeilen Entfernung an den Fuß eines, wegen der starken Neigung seiner Abhänge schwer zu besteigenden Berges, der sechs- bis siebenhundert Toisen hoch sein mochte.
Auch dieser Ausflug, woran der Kapitän Len Guy, der Lieutenant, der Matrose Francis und ich theilnahmen, führte zu keiner weiteren Entdeckung. Nach Norden wie nach Westen hin folgten einander kahle Hügel mit seltsam gestalteten Gipfeln, und wenn diese erst unter mächtiger Schneedecke verschwanden, mußte es schwierig sein, sie von Eisbergen zu unterscheiden, die durch den Frost auf dem Meere festgehalten wären.
Bezüglich dessen, was wir im Osten vor uns schon für Land angesehen hatten, ließ sich jetzt feststellen, daß sich dort eine lange Küste ausdehnte, deren von der Nachmittagssonne beleuchtete Höhen durch das Seefernrohr sehr deutlich zu erkennen waren.
War es ein Festland, das bis zu jener Seite der Meerenge heranreichte, oder auch nur eine Insel? . . . Jedenfalls mußte dort dieselbe Unfruchtbarkeit wie auf der Westseite herrschen und das Land unbewohnt und unbewohnbar sein.
Wenn ich mich dann der Insel Tsalal erinnerte, deren Boden einen so üppigen Pflanzenwuchs zeitigte, wenn ich an die Schilderungen Arthur Pym's dachte, wurde ich hier ganz verwirrt. Freilich, die trostlose Oede, die sich unsern Blicken bot, entsprach mehr den Vorstellungen, die man sich im Allgemeinen von den tiefsüdlichen Landgebieten macht. Und doch war die, fast in derselben Breite liegende tsalalische Inselgruppe fruchtbar und stark bevölkert gewesen, ehe das Erdbeben sie nahezu gänzlich vernichtete.
Der Kapitän machte an diesem Tage den Vorschlag, die Insel, nach der der Eisberg uns getragen hatte, geographisch zu bezeichnen. Sie wurde zum Andenken an unsre Goëlette Halbrane-Land getauft. Um daran noch eine andere Erinnerung zu knüpfen, erhielt die Meerenge den Namen Jane-Sund.
Nun begannen wir die Jagd auf Pinguine, von denen es auf den Uferfelsen wimmelte, und bemühten uns auch, einige der Amphibien zu fangen, die längs des Strandes saßen. Allmählich machte sich nämlich das Verlangen nach frischem Fleisch fühlbar. Von Endicott zubereitet, erwies sich das von Robben und Walrossen recht genießbar. Daneben konnte das Fett dieser Thiere im Nothfalle als Heizmaterial für die Höhle, und zum Kochen der Speisen dienen. Wir durften ja nicht vergessen, daß die Kälte unser schlimmster Feind war und daß alle Mittel zur Bekämpfung derselben herangezogen werden mußten. Wir wußten auch nicht, ob jene Amphibien beim Herannahen des Winters nicht etwa niedere Breiten und ein weniger rauhes Klima aufsuchen würden.
Zum Glück gab es noch Hunderte anderer Thiere, die unsere kleine Gesellschaft gegen Hunger, nöthigenfalls auch gegen Durst schützen konnten. Am Strande krochen eine Menge Galapagos-Schildkröten umher, die ihren Namen nach einer Inselgruppe im Ocean erhalten haben. Es waren dieselben, deren Arthur Pym erwähnt und die den Insulanern als Hauptnahrung dienten, dieselben, die Dirk Peters und er bei ihrer Abfahrt von der Insel Tsalal in dem Boote der Eingebornen gefunden hatten.
Es sind gewaltige Thiere, diese gepanzerten Amphibien, mit langsamem, schwerem und gemessenem Schritte, dem zwei Fuß langen, schlanken Halse und dreieckigen Schlangenkopfe, die mehrere Jahre ohne Nahrung ausdauern können. Hier ernährten sie sich übrigens, wegen Mangels an Sellerie, Petersilie und wildem Portulak, von Feigenmoosen, die zwischen den Steinen am Ufer keimten.
Wenn sich Arthur Pym erlaubt hat, diese antarktischen Schildkröten den Dromedaren zu vergleichen, so rechtfertigt sich das deshalb, weil sie unten am Halse eine mit Süßwasser gefüllte Tasche von zwei bis drei Gallonen Inhalt haben. Nach seinem Berichte war es, bis zu jener schrecklichen Loosziehung, eine dieser Schildkröten gewesen, der es die Schiffbrüchigen zu verdanken hatten, daß sie vor Hunger und Durst noch nicht umgekommen waren. Wenn man ihm glauben darf, giebt es derartige Land- oder Seeschildkröten, die von zwölf- bis fünfzehnhundert Pfund wiegen. Waren die von Halbrane-Land auch nicht über sieben- bis achthundert Pfund schwer, so war doch ihr Fleisch nicht minder nahrungsreich und schmackhaft.
Sahen wir uns also auch gezwungen, weniger als fünf Grade vom Südpol zu überwintern, so war unsere Lage trotz der zu erwartenden strengen Kälte doch nicht dazu angethan, muthige Herzen verzweifeln zu lassen. Die einzige Frage – deren Ernst ich nicht leugne – betraf nur die Rückkehr, nachdem die schlechte Jahreszeit überstanden war. Sollte diese Frage eine glückliche Lösung finden, so war dazu nöthig, 1. daß unsere im Boote entflohenen Leute hatten heimkehren können, und 2. daß es ihre erste Sorge wäre, ein Schiff zu senden, das uns abholen könnte. In dieser Hinsicht konnten wir freilich nur hoffen, daß vielleicht Martin Holt uns nicht vergessen werde. Doch, ob es ihm und seinen Kameraden gelang, eines der pacifischen Länder an Bord eines Walfängers zu erreichen . . . wer vermöchte das zu sagen? Weiter kam es auch darauf an, daß die nächste Sommerzeit früh genug eintrat, um eine so weite Reise durch das Antarktische Meer unternehmen zu können.
Wir sprachen gar häufig über unsere guten und schlechten Aussichten. Vor Allen zeigte sich der Hochbootsmann, Dank seiner glücklichen Natur und vorzüglichen Zähigkeit, voll des besten Vertrauens. Der Koch Endicott theilte diese Hoffnung oder machte sich wenigstens keine Sorge um zukünftige Möglichkeiten . . . Er kochte, als wenn er im Grünen Cormoran vor dem Küchenofen stände. Die Matrosen Francis und Stern hörten uns zu, ohne ein Wort zu äußern, doch wer weiß, ob sie es jetzt nicht bereuten, sich Hearne und seinen Kameraden nicht angeschlossen zu haben. Der Kalfatermaat Hardie wartete ab, was da kommen würde, ohne darüber zu grübeln, welche Wendung der Dinge nach fünf bis sechs Monaten eintreten könnte.
Der Kapitän Len Guy und der Lieutenant stimmten wie gewöhnlich überein. Sie würden zum Besten Aller gewiß versuchen, was menschenmöglich war. Ueber das Schicksal des Bootes wenig beruhigt, dachten sie vielleicht daran, zu Fuß nach Norden über das Eisfeld zu ziehen, und gewiß hätte keiner von uns gezögert, ihnen dabei zu folgen. Die Stunde für ein solches Unternehmen hatte übrigens noch nicht geschlagen und eine Entscheidung darüber war erst zu treffen, wenn das Meer bis zum Polarkreise hinauf erstarrt war.
Das war unsre Lage, der keine Veränderung bevorzustehen schien, als am 19. Februar sich ein Ereigniß zutrug, das Alle als von der Vorsehung veranstaltet betrachten mußten, die irgend an ein Eingreifen derselben in menschliche Dinge glauben. Es war um acht Uhr morgens. Das Wetter war ruhig, der Himmel ziemlich klar und der Thermometer wies auf zweiunddreißig Grad (0°C)
Bis auf den Hochbootsmann befanden wir uns alle in der Höhle, und in Erwartung des Frühstücks, das Endicott eben auftrug, wollten wir uns schon zu Tisch setzen, als draußen eine Stimme hörbar wurde.
Das konnte nur die Hurliguerly's sein, und da seine Rufe sich wiederholten, eilten wir hinaus.
Da stand er auf einem Felsen am Fuße des Hügels, der an der Spitze von Halbrane-Land auslief, und wies nach dem Meere hinaus.
»Was giebt es denn da zu sehen?« fragte der Kapitän Len Guy.
»Ein Boot!«
»Ein Boot?« rief ich verwundert.
»Sollte es das der ›Halbrane‹ sein, das etwa zurückkehrte?« fragte der Kapitän Len Guy.
»Nein, das ist es nicht!« erklärte Jem West bestimmt.
Thatsächlich schaukelte draußen ein Boot, dessen Gestalt und Größe jede Verwechslung mit dem von unserer Goëlette ausschloß, ohne Ruder oder Pagaien umher.
Es schien einzig und allein der Strömung zu folgen.
Wir hatten alle denselben Gedanken, wollten uns um jeden Preis dieses Fahrzeugs bemächtigen, von dem vielleicht unsere Rettung abhing. Doch wie es erreichen, wie es an diese Spitze von Halbrane-Land heranlootsen?
Das Boot schwamm noch etwa eine Seemeile von uns entfernt und in weniger als zwanzig Minuten mußte es an dem Hügel vorübergleiten, dann aber weiter hinaustreiben, da draußen im Meer kein Wasserwirbel zu sehen war, und nach zwanzig weiteren Minuten würde es uns außer Gesicht sein . . .
Da standen wir nun und starrten auf das Boot, das sich fortbewegte, ohne sich dem Ufer zu nähern. Im Gegentheil schien die Strömung es eher davon zu entfernen.
Plötzlich bemerkten wir am Fuße des Hügels ein Aufspritzen des Wassers, so als ob ein Körper ins Meer gefallen wäre.
Dirk Peters war es, der, nachdem er sich schnell seiner Kleidung entledigt hatte, von einem Felsblock hinunter gesprungen war, und als wir ihn, bereits zehn Faden weit von uns, bemerkten, schwamm er auf das Boot zu.
Ein Hurrah entschlüpfte unsern Lippen.
Der Mestize wendete einen Augenblick den Kopf um und sprang – ja, das ist das richtige Wort – in mächtigen Sätzen durch die leicht schäumenden Wellen, wie es ein Meerschwein gethan hätte, dessen Kraft und Schnelligkeit er besaß. Ich hatte noch nie etwas Aehnliches gesehen, doch, was konnte man nicht von der Körperkraft eines solchen Mannes erwarten!
Würde Dirk Peters aber das Boot erreichen, ehe die Strömung es nach Nordosten entführte?
Und wenn er es erreichte, würde es ihm ohne Ruder gelingen, es nach der Küste, von der es abtrieb, zu bringen? Die Eisberge trieben ja auch neben dem Lande hin, ohne jetzt irgendwo daran zu stoßen.
Nach unsern Hurrahs – eine dem Mestizen zugerufene Aufmunterung – standen wir regungslos und mit hochklopfendem Herzen da. Nur der Hochbootsmann rief von Zeit zu Zeit:
»Vorwärts, Dirk! . . . Vorwärts!«
Binnen wenigen Minuten hatte der Mestize in schräger Richtung nach dem Boote mehrere Kabellängen zurückgelegt. Man erkannte seinen Kopf nur noch als einen schwarzen Punkt inmitten der langen, flachen Wellen. Nichts verrieth, daß er etwa ermüdete. Seine beiden Arme und seine beiden Beine arbeiteten methodisch im Wasser und er erhielt sich unter der regelmäßigen Wirkung dieser vier Motore in unveränderter Geschwindigkeit.
Ja, es war nicht mehr zweifelhaft . . . Dirk Peters gelangte bis zum Boote . . . doch würde er dann nicht selbst damit weggeführt werden, wenn er es nicht – seine Kraft war ja erstaunlich groß – schwimmend bis zur Küste schleppen konnte?
»O, warum sollten sich in dem Boote keine Ruder vorfinden?« bemerkte der Hochbootsmann.
Das mußte sich bald zeigen, wenn Dirk Peters erst an Bord war, und das mußte in wenigen Minuten der Fall sein, denn das Boot war nahe daran, vorüberzutreiben.
»Jedenfalls,« sagte da Jem West, »wollen wir ein Stück weiter hin gehen. Kommt das Boot ans Land, so kann das nur unterhalb des Hügels sein.
»Er hat es! . . . Er hat es! . . . Hurrah, Dirk, Hurrah!« rief der Hochbootsmann, der sich kaum noch zu halten vermochte, und Endicott wiederholte seine Freudenrufe mit mächtiger Stimme.
Als der Mestize sein Ziel erreicht hatte, hob er sich an der Langseite des Bootes bis zur halben Länge aus dem Wasser. Seine gewaltige Hand packte es und auf die Gefahr, es zum Kentern zu bringen, hißte er sich daran empor, sprang hinein und setzte sich einen Augenblick nieder, um Athem zu schöpfen.
Fast gleichzeitig ertönte aber ein von Dirk Peters ausgestoßener Schrei bis zu uns herüber.
Was mochte er in dem Boote gefunden haben? . . . Es war ein Paar Pagaien, denn wir sahen, wie er im Vordertheile Platz nahm und in der Richtung auf das Ufer mit neuen Kräften ruderte, um aus der Strömung zu kommen.
»Folgt mir nach!« sagte der Kapitän Len Guy.
Wir eilten um den Fuß des Hügels herum und dann dicht am Strande hin zwischen schwärzlichen Steinen, womit dieser besäet war.
Nach kurzem Weg hieß uns der Lieutenant anhalten.
Das Boot hatte hinter einer kleinen Landzunge, die an dieser Stelle vorsprang, Schutz gefunden, und es lag auf der Hand, daß es hier ans Ufer stoßen würde.
Jetzt war es nur noch fünf bis sechs Kabellängen von uns entfernt, nun trieb es ein Wasserwirbel allein näher heran. Da legte Dirk Peters die Pagaien bei Seite, beugte sich nach dem Hintertheile zu hinab und hielt, als er sich wieder emporrichtete, einen schlaff herabhängenden Menschenkörper in den Armen.
Doch welch herzzerreißender Ton ließ sich da vernehmen!
Len Guy hatte in dem Körper, den der Mestize hoch hielt . . . William Guy erkannt.
»Er lebt! . . . Er lebt noch!« rief der Mestize.
Eine Minute später stieß das Boot ans Land und der Kapitän Len Guy preßte seinen Bruder in die Arme.
Drei der Begleiter desselben lagen anscheinend leblos auf dem Boden des kleinen Fahrzeugs.
Und diese vier Männer . . . das waren alle, die von der Mannschaft der »Jane« übrig geblieben waren!