Jules Verne
Die Eissphinx. Zweiter Band
Jules Verne

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VI. Land? . . .

Das ist das einzige Wort der Ueberschrift im 17. Capitel des Buches von Edgar Poë. Ich glaubte ihm richtiger ein Fragezeichen nachsetzen zu sollen, als ich es als Ueberschrift dieses sechsten Capitels meines Berichtes wählte.

Bedeutete nun das von unserm Fockmast herabtönende Wort eine Insel oder ein Festland? Doch ob das eine oder das andre, stand uns nicht vielleicht gar eine Enttäuschung bevor? Sollten sich die hier vorfinden, die wir in so hohen Breiten suchten? Und hatte Arthur Pym, der jetzt natürlich todt, trotz der Versicherungen des Dirk Peters todt war, je den Fuß auf dieses Land gesetzt?

Als dieser Ruf am 17. Januar 1828 an Bord der »Jane« erschallte, »an einem höchst ereignißvollen Tage«, heißt es im Tagebuche Arthur Pym's, da lautete er wörtlich:

»Land über Krahnbalken an Steuerbord!«

So hätte er heute auch an Bord der »Halbrane« lauten können.

In der That zeigten sich in dieser Richtung einige Umrisse, die sich von der Linie zwischen Himmel und Wasser leicht abhoben.

Das Land, das damals den Leuten auf der »Jane« gemeldet wurde, war freilich die dürre, öde Insel Bennet gewesen, auf die, kaum einen Grad weiter südlich, die jener Zeit fruchtbare, bewohnbare und bewohnte Insel Tsalal folgte, auf der der Kapitän Len Guy seine Landsleute wiederzufinden gehofft hatte. Was würde aber die unbekannte Erscheinung sein, die jetzt, fünf Grad tiefer im Süden, vor unserer Goëlette auftauchte? Bildete sie unser so heiß ersehntes, so standhaft gesuchtes Ziel? Sollten sich die beiden Brüder Len und William Guy dort in die Arme fallen? Befand sich die »Halbrane« damit am Ende der Reise, der die Heimführung der Ueberlebenden von der »Jane« die Krone aufsetzen sollte? . . .

Mit mir verhielt es sich, wie schon gesagt, ganz wie mit dem Mestizen. Unser Ziel war nicht dieses Ziel – dieser Erfolg nicht unser Erfolg. Da für jetzt Land vor unsern Augen auftauchte, mußten wir wohl darauf hinsegeln – das Uebrige blieb der Zukunft überlassen.

In erster Linie ist hier zu bemerken, daß jener Ausruf an Bord eine gewisse Erregung erweckte. Ich dachte nicht mehr an das, was Dirk Peters mir vertraut hatte, und vielleicht vergaß es der Mestize auch selbst, denn er eilte jetzt nach dem Vorderdeck und starrte nach dem Horizont hinaus.

Jem West, den nichts seiner Dienstpflicht abwendig machen konnte, wiederholte seine Befehle. Gratian übernahm das Steuer und Hearne wurde in den Schiffsraum eingesperrt.

Das war eine verdiente Strafe gegen die von den alten Leuten niemand Einspruch erhob, denn die Nachlässigkeit oder die Ungeschicklichkeit Hearne's hatte die Sicherheit der Goëlette wirklich einen Augenblick gefährdet.

Nur fünf oder sechs Matrosen von den Falklands ließen ein leises Murren hören.

Ein Wink des Lieutenants brachte sie zum Schweigen und sie kehrten sofort auf ihre Posten zurück.

Selbstverständlich war auf den Ruf des Wachhabenden auch der Kapitän Len Guy aus seiner Cabine geeilt und starren Auges betrachtete er das noch zehn bis zwölf Seemeilen entfernte Land.

Ich dachte, wie gesagt, gar nicht mehr an das Geständniß Dirk Peters. Blieb jenes schreckliche Geheimnis unter uns, so war ja nichts zu befürchten. Wie aber, wenn ein unglücklicher Zufall Martin Holt verrieth, daß der Name seines Bruders zu dem Namen »Parker« verändert worden, daß der Unglückliche infolge des Schiffbruchs des »Grampus« umgekommen . . . daß er, durch Losung bestimmt, hingeschlachtet worden war, um Andere vor dem Hungertode zu behüten . . . daß Dirk Peters, dem er das Leben verdankte, jenen mit eigner Hand erschlagen hatte! . . . Das war ja der Grund, warum der Mestize sich den Dankesbezeugungen Martin Holt's so hartnäckig entzog . . . warum er Martin Holt floh . . . den Bruder des Mannes, von dem er sich gesättigt hatte!

Der Hochbootsmann schlug eben die dritte Stunde an. Die Goëlette segelte mit aller auf diesem unbekannten Fahrwasser gebotenen Vorsicht. Vielleicht fanden sich hier Untiefen, Klippen dicht unter der Wasserfläche, worauf ein Schiff stranden oder gar in Trümmer gehen konnte. Unter den Verhältnissen der »Halbrane« aber würde es eine Strandung, selbst wenn das Schiff wieder flott gemacht werden konnte, doch wahrscheinlich verhindert haben, vor Eintritt des Winters zurückzukehren. Wir mußten aber alle günstigen Umstände für uns, keine widerlichen gegen uns haben.

Jem West hatte die Segelfläche verkleinern lassen. Bram- und Stagsegel waren eingezogen worden und die »Halbrane« lief nur noch unter einem Mars- und einem Klüversegel, die ja hinreichten, um die Strecke bis zum Lande in wenigen Stunden zurückzulegen.

Der Kapitän Len Guy ließ auch eine Sondierung vornehmen, die noch hundertzwanzig Faden Wasser ergab. Weitere Sondierungen ließen vermuthen, daß die vor uns liegende Küste ganz steil in große Tiefe abfallen mochte. Da im Grunde immerhin eine Erhöhung aufsteigen konnte, die nicht in sanfter Abdachung mit dem Ufer zusammenhing, segelten wir nur mit der Sonde in der Hand weiter.

Das Wetter blieb schön, wenn sich der Horizont von Südost bis Südwest auch mit leichten Dünsten verschleierte. Freilich erschwerte uns das einigermaßen das Erkennen des Landprofils, das wie eine hinziehende Nebelwolke am Himmel erschien und einmal verschwand oder wieder sichtbar wurde, wenn die Dünste gelegentlich zerrissen. Immerhin glaubten wir, die Höhe des Landes, wenigstens in seinen Gipfeln, auf fünfundzwanzig bis dreißig Toisen veranschlagen zu können.

Nein . . . wir konnten jetzt keiner Täuschung unterliegen, obwohl wir eine solche noch immer befürchteten. Er ist ja ganz natürlich, daß einem das Herz gerade in der Nähe des letzten Zieles von bangen Ahnungen erfüllt wird. Wie viele Hoffnungen knüpften sich an diese nur unsicher erkennbare Küste und welche Entmuthigung mußte uns befallen, wenn sie sich doch nur als ein Phantom, als wesenloser Schatten erwies! Bei einem solchen Gedanken schwindelte es mir im Kopfe und verwirrten sich meine Vorstellungen. Es erschien mir, als ob die »Halbrane« zusammenschrumpfte, sich zu einem auf unermeßlichem Oceane verlorenen Boote verkleinerte . . . ganz entgegengesetzt zur Schilderung Edgar Poë's, bei dem das Schiff wuchs . . . größer wurde, wie ein lebendes Wesen . . .

Hat man Seekarten zur Hand, die über die Hydrographie der Küsten, über die Natur der Landungsstellen, über Baien und Buchten Auskunft geben, so mag man wohl mit einiger Kühnheit darauf zufahren. In jeder andern Gegend wäre ein Kapitän, der erst bis zum andern Morgen gewartet hätte, um nahe dem Ufer vor Anker zu gehen, der Feigheit geziehen worden. Hier galt es aber, die größte Vorsicht zu beobachten, wenn auch kein sichtbares Hinderniß vor uns lag. Die Atmosphäre konnte während der sonnenhellen Nachtstunden übrigens auch nicht an Klarheit verlieren. Zu dieser Zeit versank das Strahlengestirn noch nicht unter dem westlichen Horizonte und ununterbrochen badete sich das weite Polarbecken in seinem glänzenden Lichte.

Aus dem Schiffsjournal ergab sich, daß die Lufttemperatur von diesem Tage an fortwährend abnahm. Der Thermometer zeigte im Schatten nicht mehr als zweiunddreißig Grad Fahrenheit (0° Celsius), ins Wasser getaucht aber nur sechsundzwanzig Grad (-3,33° Celsius), ohne daß wir uns erklären konnten, woher im vollen südlichen Sommer diese Temperaturerniedrigung herrührte.

Jedenfalls mußte die Mannschaft die Wollenkleidung wieder hervorholen, die seit der Durchschiffung des Packeises, also vor einem Monat, abgelegt worden war. Die Goëlette lief damals freilich direct vor dem Winde und der erste Frost war deshalb weniger fühlbar gewesen. Immerhin wies obige Erscheinung darauf hin, daß es allmählich Zeit wurde, ans Ziel zu gelangen. Es wäre eine Herausforderung des Himmels gewesen, in dieser Gegend unnöthiger Weise zu zögern und sich den Gefahren einer Ueberwinterung auszusetzen.

Der Kapitän Len Guy ließ wiederholt mittels schwerer Sonden die Richtung der Strömung untersuchen, und dabei ergab es sich, daß diese von der bisherigen abzuweichen begann.

»Ob wir ein Festland oder nur eine Insel vor uns haben,« sagte er, »läßt sich bis jetzt in keiner Weise entscheiden. Ist es aber ein Festland, so dürfen wir annehmen, daß die Strömung im Südosten desselben einen Ausweg findet . . .«

»Und es ist in der That möglich,« bemerkte ich, »daß der feste Theil des antarktischen Gebiets nur aus einer einfachen Polarkappe besteht, deren Rand wir umschiffen könnten. Jedenfalls empfiehlt es sich, diejenigen Beobachtungen aufzuzeichnen, die eine gewisse Verläßlichkeit bieten . . .«

»Das hab' ich gethan, Herr Jeorling, und wir werden über diesen Theil des Südpolarmeeres eine Menge Angaben mit heimbringen, die andern Seefahrern von Nutzen sein können . . .«

»Wenn sich solche überhaupt wieder bis hierher wagen, Herr Kapitän! – Daß das uns gelungen ist, verdanken wir außerordentlich günstigen Umständen, dem frühzeitigen Sommer und der etwas übernormalen Temperatur mit dem schnellen Schmelzen der Eismassen. Wer weiß, ob das alles in zwanzig . . . in fünfzig Jahren einmal wieder vorkommt!«

»Ich bin dafür auch der Vorsehung dankbar, Herr Jeorling, und es belebt meine Hoffnung ein wenig. Da hier eine so dauernd schöne Witterung herrscht, könnten meine Landsleute ja an dieser Küste, nach der Wind und Strömung sie trugen, gelandet sein. Was unserer Goëlette gelang, mag ihrem Boote wohl auch gelungen sein. Sie werden nicht abgefahren sein, ohne hinreichenden Proviant für sehr lange, vorher nicht zu bestimmende Zeit mitgenommen zu haben. Hilfsquellen muß ihnen die Insel Tsalal doch eine Reihe von Jahren hindurch geboten haben. Sie besaßen ja Waffen und Munition, Fische und Wassergeflügel giebt es in dieser Gegend in Menge . . . Ja, mein Herz ist von neuer Hoffnung erfüllt und ich wünschte nur, schon um wenige Stunden älter zu sein!«

Ohne die Zuversicht des Kapitän Len Guy zu theilen, freute es mich doch, daß er – sozusagen – den Kopf wieder höher trug. Waren seine Nachsuchungen jetzt von Erfolg, so hoffte ich es vielleicht zu erreichen, daß diese im Interesse Arthur Pym's fortgesetzt würden – selbst bis ins Innere des Landes, von dem wir ja nicht weit entfernt waren.

Langsam glitt die »Halbrane« über das klare Wasser hin. Ueberall wimmelte es von Fischen der schon früher beobachteten Arten. Seevögel zeigten sich in noch größerer Menge und schienen gar nicht zu erschrecken, denn sie flatterten um die Masten oder ruhten auf den Raaen aus. Mehrere weißliche Bänder oder Stränge von fünf bis sechs Fuß Länge wurden an Bord geholt; diese bestanden aus wirklichen Rosenkränzen von Millionen Körnchen – einer Colonie kleinster Mollusken von glitzernder Farbe.

Walfische mit der ausgeathmeten Wassersäule über dem Kopfe, zeigten sich in einiger Ferne, und ich bemerkte. daß sie alle nach Süden hin zogen. Danach war anzunehmen, daß das Meer sich in dieser Richtung noch weiter fortsetzte.

Die Goëlette kam in der Stunde zwei bis drei Meilen vorwärts, ohne daß man es versuchte, ihre Fahrt zu beschleunigen. Daß diese zum ersten Male erblickte Küste sich von Nordwesten nach Südosten hin ausdehnte, daran war nicht zu zweifeln, Einzelheiten davon konnten wir freilich auch nach weiteren drei Stunden nicht einmal mit dem Fernrohre erkennen.

Die auf dem Vordercastell versammelte Mannschaft blickte hinaus, ohne ihrer Empfindung Ausdruck zu geben. Jem West, der sich auf die Höhe des Fockmastes begeben hatte, wo er zehn Minuten lang beobachtend verweilte, brachte auch keine genauern Meldungen.

Hinter dem Ruff an Backbord auf die Reling gelehnt, verfolgte ich mit dem Blicke die Berührungslinie zwischen Himmel und Wasser, deren Kreisform nur im Osten unterbrochen war.

Da trat der Hochbootsmann an meine Seite und sagte ohne weitere Vorrede:

»Wollen Sie mir gestatten, Ihnen meine Gedanken mitzutheilen, Herr Jeorling?«

»Gewiß, Hochbootsmann, ohne daß ich sie mir aneigne, wenn sie mir nicht begründet erscheinen,« antwortete ich.

»Doch, das sind sie, und je näher wir kommen, müßte man mit Blindheit geschlagen sein, das nicht anzuerkennen.«

»Nun, was denken Sie denn?«

»Daß das kein Land ist, was sich da vor uns zeigt, Herr Jeorling!«

»Was sagen Sie, Hochbootsmann? . . .«

»Sehen Sie nur genau hin und halten Sie einen ausgestreckten Finger vor die Augen . . .«

Ich that, wie Hurliguerly sagte.

»Sehen Sie es nun?« fuhr er fort. »Ich will doch alles Verlangen, mein Spitzglas Wisky zu trinken, für immer verlieren, wenn jene Massen nicht von der Stelle rücken, nicht in Bezug auf die Goëlette, sondern in Bezug auf sich selbst!«

»Und daraus schließen Sie . . .?«

»Daß es in Bewegung befindliche Eisberge sind.«

»Eisberge? . . .«

»Ganz bestimmt, Herr Jeorling!«

Irrte der Hochbootsmann hiermit nicht? Erwartete uns eine Enttäuschung? Befanden sich da draußen, an Stelle einer Küste, nur treibende Eisberge?

Bald herrschte über diese Fragen kein weiterer Zweifel und schon seit einigen Minuten glaubte die Mannschaft nicht mehr an das Vorhandensein eines Landes in dieser Richtung.

Zehn Minuten später meldete der Mann im Elsternest, daß von Nordwesten her und schräg zum Curse der »Halbrane« mehrere Eisberge herantrieben.

Welch traurige Wirkung brachte diese Neuigkeit an Bord hervor! Unsre letzte Hoffnung sollte so plötzlich zu Schanden werden! Welcher Schlag für den Kapitän Len Guy! . . . Jenes Land der tiefsüdlichen Zone mußte in noch höherer Breite aufgesucht werden, ohne sicher zu sein, es überhaupt anzutreffen! . . .

Plötzlich ertönte auf der »Halbrane« fast einstimmig der Ruf:

»Wenden! . . . Scharf wenden! . . . Umkehren!«

Die Angeworbenen von den Falklands gaben damit ihren Willen kund, verlangten die sofortige Umkehr, obgleich Hearne nicht da war, um sie zum Ungehorsam aufzustacheln, und ich muß gestehen, auch die meisten alten Mannschaften schienen mit jenen übereinzustimmen.

Jem West, der jetzt nicht wagte, Schweigen zu gebieten, erwartete die Befehle seines Vorgesetzten.

Gratian am Ruder war schon bereit, das Steuerrad zu drehen, während seine Kameraden sich bereit machten, die Schooten schießen zu lassen . . .

Dirk Peters stand regungslos mit gesenktem Kopfe, zusammengesunkenem Körper und fest geschlossenen Lippen am Fockmast . . . kein Laut kam über seine Lippen.

Da wendet er sich aber gegen mich hin und wirft mir einen Blick zu . . . einen Blick voll des Flehens und des Zornes! . . .

Ich weiß nicht, welch unwiderstehliche Gewalt mich packte, persönlich einzuschreiten, noch einmal Einspruch zu erheben. Mir kam ein letztes Argument in den Sinn . . . ein Einwand, den niemand bestreiten konnte.

Ich nahm also das Wort, entschlossen, gegen Alles und Alle Stand zu halten, und sprach mit solcher Ueberzeugung, daß keiner mich zu unterbrechen wagte.

In der Hauptsache sagte ich Folgendes:

»Nein . . . alle Hoffnung darf nicht aufgegeben werden! . . . Land kann nicht mehr fern sein! . . . Wir haben hier keinen solchen Packeiswall vor uns, wie er sich auf dem freien Meere durch Anhäufung der Eistriften bildet, das hier sind Eisberge, und diese haben sich unbedingt von einer festen Unterlage ablösen müssen . . . von einem Festlande oder einer Insel. Da wir nun jetzt in der Jahreszeit der Eisschmelze sind, werden sie gewiß erst seit ganz kurzer Zeit abgetrieben sein. Hinter ihnen werden wir auf die Küste treffen, wo sie sich gebildet hatten . . . Noch vierundzwanzig, noch höchstens achtundvierzig Stunden, und wenn sich dann kein Land zeigt, wird der Kapitän Len Guy wieder den Curs nach Norden einschlagen!«

Ich weiß nicht, ob ich die Leute überzeugt hatte oder sie mir durch den Köder einer weiteren Prämie gefügig machen, ob ich davon Nutzen ziehen sollte, daß Hearne jetzt nicht unter seinen Kameraden weilte, daß er sich nicht aussprechen, sie nicht aufhetzen konnte, daß man sie nur noch einmal hinters Licht führte und daß die Goëlette dem sichern Verderben entgegenginge.

Da kam mir der Hochbootsmann zu Hilfe, der in bester Laune ausrief:

»Das war gut gesprochen und ich für meinen Theil schließe mich der Ansicht des Herrn Jeorling an . . . Ohne Zweifel sind wir einem Lande nahe! Durch Aufsuchung desselben hinter jenen Eisbergen werden wir es ohne Mühen und Gefahren finden. Um einen Grad südlicher, was thut das, wenn man dadurch ein paar Hundert Dollars mehr in die Tasche stecken kann! . . . Vergessen wir ja nicht, daß sie angenehm sind, wenn sie hineinspazieren, und ebenso angenehm, wenn sie wieder herauskommen!«

Auf diese Worte schloß sich auch der Koch Endicott seinem Freunde, dem Hochbootsmann an.

»Ja . . . sehr schön . . . die Dollars!« rief er und ließ dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne sehen.

Unklar blieb es freilich, ob die übrige Mannschaft sich dem Zureden Hurliguerly's fügte oder doch noch Widerstand leisten würde, wenn die »Halbrane« in der Richtung auf die Eisberge weiter segelte.

Der Kapitän Len Guy erhob das Fernrohr wieder, richtete es auf die sich bewegenden Massen, die er aufmerksam betrachtete und sagte dann laut und bestimmt:

»Nach Südsüdwest steuern!«

Jem West gab Befehl, das Manöver auszuführen.

Die Matrosen zögerten einen Augenblick, dann aber – wie aus angebornem Pflichtgefühl – gingen sie daran, die Segel zu hissen und die Schooten anzuziehen, so daß die »Halbrane« bald mit vermehrter Schnelligkeit dahinglitt.

Als Alles vollendet war, näherte ich mich Hurliguerly und zog ihn etwas zur Seite.

»Ich danke Ihnen, Hochbootsmann!« sagte ich.

»O, Herr Jeorling, diesmal ging es noch gut ab,« antwortete er mit den Achseln zuckend. »Wir dürfen die Saiten aber doch nicht zu hoch anspannen, sonst würde alle Welt, vielleicht sogar Endicott, gegen mich sein . . .«

»Ich habe doch nichts ausgesprochen, was nicht die Wahrscheinlichkeit für sich hätte,« erwiderte ich lebhaft.

»Das geb' ich gerne zu, die Sachen könnten sich ganz so verhalten, wie Sie sagten.«

»Gewiß, Hurliguerly, gewiß . . . ich habe auch nur meiner Ueberzeugung Ausdruck gegeben und zweifle gar nicht daran, daß wir hinter den Eisbergen Land finden werden.«

»Vielleicht, Herr Jeorling, vielleicht! Dann mag es aber ja vor Ablauf von zwei Tagen in Sicht kommen, denn sonst – auf mein Wort – sonst müßten wir Kehrt machen!«

In den nächsten vierundzwanzig Stunden segelte die »Halbrane« nun nach Südsüdwesten, wenn ihre Richtung inmitten des Eises auch oft etwas geändert und ihre Schnelligkeit vermindert werden mußte. Die Fahrt wurde recht schwierig, als sich die Goëlette in der Linie der Eisberge befand, die sie in schräger Richtung zu schneiden hatte. Zum Glück gab es hier keine solchen Packs und Eistriften, wie sie unter dem siebzigsten Breitengrade sich am Packeisrande drängten, nichts von der tollen Unruhe, die man an dem, von antarktischen Stürmen so oft gepeitschten Polarkreise so häufig antrifft. Die ungeheuern Massen trieben in majestätischer Ruhe dahin. Die Blöcke erschienen völlig »neu« – ja, das ist der richtige Ausdruck – und vielleicht hatten sie sich erst vor wenigen Tagen gebildet. Bei einer Höhe von hundert bis hundertfünfzig Fuß mußte ihr Volumen jedenfalls Millionen von Tonnen betragen. Jem West hütete sich mit peinlichster Sorgfalt vor jedem Zusammenstoße und verließ das Verdeck jetzt keinen Augenblick mehr.

Vergeblich bemühte ich mich, durch die freien Räume, die die Eisberge zwischen sich ließen, Anzeichen von Land zu erkennen, dessen Lage unsre Goëlette gezwungen hätte, mehr direct nach Süden zu steuern . . . ich erblickte nichts . . . nichts, was meine Annahme bestätigt hätte.

Bisher hatte sich der Kapitän Len Guy überdies auf die Angaben des Compasses verlassen können. Der noch mehrere hundert Seemeilen entfernte magnetische Pol, der östlich von uns lag, hatte noch keinen Einfluß auf die Bussole. Die Nadel behielt noch ihre unveränderte Richtung bei, statt der Abweichung um sechs bis sieben Striche in der Nähe jenes Pols.

Kurz, entgegen meiner Ansicht, die sich doch auf recht haltbare Gründe stützte, tauchte keine Spur von Land auf, und ich fragte mich schon, ob es nicht rathsamer sei, einen mehr westlichen Curs einzuschlagen, wenn sich die »Halbrane« dabei auch von dem letzten Punkte, wo die Meridiane zusammenlaufen, etwas entfernte.

Je mehr von den Stunden verflossen, deren man mir achtundvierzig zugestanden hatte, desto mehr erkannte ich zu meinem Leidwesen, daß bei den Leuten die Entmuthigung und die Neigung zum Ungehorsam wieder erwachten. Noch anderthalb Tage, und es würde mir nicht mehr möglich sein, den allgemeinen Widerstand zu besiegen . . . die Goëlette kehrte dann nach Norden zurück.

Die Mannschaft arbeitete schweigend, als Jem West in kurzem Tone Befehl gab, durch die Durchlässe zu steuern, wobei jetzt, zur Vermeidung eines Anpralls, schnell angeluvt und dann wieder mit dem vollen Wind im Rücken gesegelt werden mußte. Trotz unausgesetzter Aufmerksamkeit, trotz der Gewandtheit der Matrosen und der prompten Ausführung aller Manöver, streifte der Schiffsrumpf doch wiederholt hart an und ließ an den Wänden des Eises da und dort lange Striche von Theer zurück. Auch der Muthigste konnte sich da wohl kaum der Befürchtung erwehren, daß unsere Schiffswand ein Leck bekommen und dann Wasser eindringen könnte . . .

Der untere Theil der treibenden Berge fiel nämlich ganz steil ab, so daß eine »Landung« unmöglich gewesen wäre. Wir bemerkten auch keinen von den Seehunden, die doch sonst so zahlreich sind, wo viele Eisfelder treiben – nicht einmal ein Volk kreischender Pinguine, die die »Halbrane« sonst beim Vorüberkommen zu Tausenden ins Wasser verjagte. Die Vögel selbst schienen seltener und flüchtiger zu sein. Die traurige, öde Wüstenei machte auf die Seele einen beengenden Eindruck, dem sich niemand zu entziehen vermocht hätte. Wer konnte wohl noch die Hoffnung bewahren, daß die Ueberlebenden von der »Jane«, wenn sie in diese trostlosen Gegenden verschlagen worden waren, hier hätten eine Zuflucht finden und ihre Existenz aufrecht erhalten können? Und wenn nun die »Halbrane« Schiffbruch litt, würde dann wohl ein einziger Zeuge desselben übrig bleiben? . . .

Man konnte beobachten, daß seit gestern, seit dem Augenblicke, wo der Curs direct nach Süden verlassen wurde, um zwischen den Eisbergen hindurch zu segeln, in der gewohnten Haltung des Mestizen eine Aenderung eingetreten war. Meist am Fockmaste hockend, die Blicke vom Meere abgewendet, erhob er sich nur, um bei einem Segelmanöver mit Hand anzulegen, verrichtete die Arbeit aber nicht mit dem Eifer und der Schnelligkeit wie früher. Auch er schien allen Muth verloren zu haben. Nicht daß er den Glauben aufgegeben hätte, daß sein Gefährte von der »Jane« noch lebte . . . ein solcher Gedanke konnte in seinem Gehirn nicht aufkommen! Instinctiv fühlte er aber jedenfalls, daß er in der jetzt eingehaltenen Richtung die Spuren seines armen Pym nicht wiederfinden werde.

»Herr Jeorling – würde er zu mir gesagt haben – verstehen Sie mich recht, bei diesem Curse ist nichts zu erwarten . . . bei diesem nichts!«

Was hätte ich ihm darauf antworten sollen?

Gegen sieben Uhr abends erhob sich ein so dichter Nebel, daß er die Fahrt der »Halbrane« sehr schwierig und gefahrvoll machen mußte, so lange er anhielt.

Dieser Tag voller Erregung, Angst, voll Schwankens zwischen Hoffnung und Enttäuschung hatte mich gänzlich erschöpft; so zog ich mich in meine Cabine zurück und warf mich völlig angekleidet aufs Lager.

Bei meinen quälenden Gedanken, bei der entsetzlichen Unruhe in meinem Innern konnte ich heute keinen Schlummer finden. Ich glaube gern, daß das so häufige Lesen des Werkes Edgar Poë's, und noch dazu in einer Umgebung, wie die, wo seine Helden gelebt und geschmachtet, auf mich einen Einfluß geübt hatte, von dem ich mir kaum Rechenschaft gab.

Morgen sollten die achtundvierzig Stunden zu Ende sein, das letzte Almosen, das die Besatzung auf meine Bitte bewilligt hatte.

»Es geht wohl nicht nach Ihrem Wunsche?« hatte der Hochbootsmann zu mir gesagt, als ich in das Deckhaus eintrat.

Nein, gewiß nicht, da sich kein Land hinter der Flottille von Eisbergen zeigte. Da zwischen den treibenden Massen keine Spur einer Küste aufgetaucht war, ließ der Kapitän Len Guy morgen gewiß nach Norden wenden . . .

Ach, daß ich nicht der Herr der Goëlette war! . . . Hätte ich sie, und wärs um den Preis meines ganzen Vermögens, kaufen können, wären unsere Leute meine Sclaven und meiner Peitsche unterworfen gewesen . . . niemals hätte die »Halbrane« diese Fahrt aufgegeben und hätt' ich sie auch nach dem Ende der Erdachse führen sollen, über dem das südliche Kreuz seinen Strahlenschimmer ausgießt! In meinem erregten Gehirn schwirrten tausenderlei Gedanken, tausenderlei Klagen und Wünsche. Ich wollte aufstehen, es schien aber, als hielte mich eine schwere, unwiderstehliche Hand auf mein Lager gefesselt. Mich erfüllte das Verlangen, diese Cabine augenblicklich zu verlassen, den engen Raum, wo mich ein Alpdrücken im Halbschlafe peinigte – eines der Boote der »Halbrane« ins Wasser zu setzen, mit Dirk Peters, der mir gewiß folgte, hinein zu springen und uns dann der Strömung zu überlassen, die nach Süden . . . nach Süden zu lief . . .

Und ich that es . . . ja ich that es . . . aber im Traume! Es war der nächste Tag; der Kapitän Len Guy hatte einen letzten Blick nach dem Horizonte gerichtet und dann Befehl zur Umkehr gegeben. Eines der Boote wird vom Schiffe nachgeschleppt . . . ich sage es dem Mestizen . . . wir schlüpfen unbemerkt hinein . . . zerschneiden das Tau . . . während die Goëlette davongleitet, bleiben wir zurück und die Strömung trägt uns weiter . . .

So fahren wir über das stets offene Meer . . . endlich hält unser Boot an . . . da liegt ein Land vor uns . . . Ich glaube eine Art Sphinx, die Herrscherin auf der Südkappe der Erde, zu sehen . . . die Eissphinx . . . ich gehe darauf zu . . . frage sie . . . sie giebt mir Aufklärung über die Geheimnisse dieser unerforschten Gebiete. Dann tauchen rund um das mythologische Ungeheuer die Erscheinungen auf, die Arthur Pym für wirklich vorhanden hielt. Der Vorhang aus wogenden, von Lichtstrahlen gestreiften Dünsten zerreißt . . . da erhebt sich vor meinen erstaunten Blicken nicht jene Gestalt von übermenschlicher Größe, sondern Arthur Pym, der trotzige Hüter des Südpols, der die Flagge der Vereinigten Staaten von Nordamerika im Winde flattern läßt! . . .

Ob dieser Traum urplötzlich unterbrochen wurde oder die tolle Bilderreihe nur wechselte, weiß ich nicht, ich hatte allein die Empfindung, erweckt zu werden. Es schien mir, als wäre in der Bewegung der Goëlette eine Aenderung eingetreten, als gleite sie, sanft nach Steuerbord geneigt, über das so ruhige Meer . . . und doch . . . das war kein Rollen . . . kein Stampfen . . .

Ja . . . buchstäblich . . . ich fühlte mich emporgetragen, als wäre meine Lagerstatt die Gondel eines Ballons . . . als wären in mir die Gesetze der Schwere aufgehoben . . .

Ich täuschte mich nicht . . . ich war aus dem Traum zur Wirklichkeit zurückgekehrt . . .

Einzelne Erschütterungen, deren Ursache mir noch entging, machten sich über mir bemerkbar. In meiner Cabine wichen die Wände aus der verticalen Richtung, so, als sänke die »Halbrane« stark auf die Seite. Gleich darauf wurde ich vom Lager geschleudert und es fehlte nicht viel, daß mir eine Ecke des Tisches den Schädel zertrümmert hätte.

Endlich kam ich wieder in die Höhe, kroch mehr als ich ging nach der Thür, an die ich mich stemmte und die zuletzt dem Drucke nachgab.

Da vernahm ich ein Knarren und Brechen in der Schanzkleidung, ein Krachen in der Schiffswand an Backbord.

War die Goëlette doch noch mit einer der treibenden, ungeheuern Massen zusammen gestoßen, denen Jem West inmitten des Nebels nicht hatte aus dem Wege gehen können?

Plötzlich erschallte wildes Geschrei über dem Ruff, auf dem Hintertheile, dann Schreckensrufe, in die sich die Stimmen der halb wahnwitzigen Mannschaft mischten . . .

Endlich erfolgte noch ein letzter Stoß und die »Halbrane« blieb unbeweglich liegen.

 


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