Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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7. Kapitel.

Märchenbilder

In der Rokokovilla war die Aufregung natürlich groß.

Der Kommerzienrat brachte schlechte Nachricht mit heim. Das Bein des Ärmsten war verloren, es mußte abgenommen werden. Stumm und beklommen lauschte man seinem Bericht. Nur Olly, die sonst stets teilnahmslos zu allem schwieg, machte heute den Mund auf und fragte: »Wird denn für den Mann und seine Familie gesorgt, wenn er durch uns arbeitsunfähig geworden ist?«

Der Kommerzienrat runzelte die Stirn.

»Das verstehst du nicht!« sagte er.

Olly gab sich nicht zufrieden.

»Aber warum verstehe ich das nicht?« fragte sie trotz der beschwichtigenden Blicke von Fräulein Arnold noch einmal.

»Herrgott, Mädchen, mußt du denn immer ein Aber haben – immer widerhaarig!« brauste Papa auf. Dann wandte er sich zu Fräulein Arnold und Rudi: »Die Berufsgenossenschaft ist natürlich dafür haftbar, falls nicht eigene Unvorsichtigkeit nachgewiesen wird.«

»Vielleicht können auch wir unser Scherflein für den Unglücklichen beisteuern«, begann da Fräulein Arnold ein wenig zaghaft, denn sie wußte nicht, wie der Kommerzienrat ihre Worte auffassen würde. »Ich meine durch irgendein Wohltätigkeitsfest zugunsten des Armen. Am 3. Dezember hat Sentchen Geburtstag, da wollte sie sowieso ihre Freundinnen einladen – wie wär's, wenn wir lebende Bilder stellten und an alle Freunde und Bekannte Einladungen dazu verschicken würden? Zuletzt sammeln wir für den Verunglückten, und wenn der Wohltätigkeit keine Schranke gesetzt wird, kriegen wir sicherlich eine hübsche Summe zusammen.« Fräulein Arnold hatte zum Schluß zu wieder mit ihrer sonstigen Sicherheit gesprochen, denn sie sah, wie sich des Kommerzienrats Mienen bei ihren Worten aufklärten.

»Famos« – jubelte Senta los – »famos, lebende Bilder und nachher Abendbrot und Tanz!« Sie war Feuer und Flamme für die Idee.

Papa strich sich seinen Schnurrbart, er lächelte schon wieder über die Begeisterung seines Töchterchens und nickte der Hausdame beistimmend zu.

»Bravo, ich habe nichts dagegen, wenn auch ihr euer Scherflein dazu beitragen und euch in den Dienst der Wohltätigkeit stellen wollt. Nun seht nur zu, daß ihr auch hübsche Bilder herausfindet.«

Fräulein Arnold lächelte erfreut, Senta aber rief:

»Und Tanzherren lade ich mir auch ein, au, fein wird's!«

»Wir könnten Bilder aus den griechischen Sagen stellen,« meinte Rudi – »nee, Indianerbilder!« überschrie ihn Herbertchen.

»Und eine Sektbowle muß es geben, ja, Papachen, bei Buschens gab's Erdbeerbowle!« schmeichelte Senta zärtlich.

Olly griff sich an die Stirn. Sie fühlte sich wieder fremd im Kreise der Ihren, sie verstand sie gar nicht. Ein Fest – Sektbowle, lebende Bilder – wie konnte man bloß an so etwas denken, wo solch schreckliches Unglück passiert war! Und all das wollte man um des Arbeiters Schulz willen arrangieren? Tanzen, wo er sein Bein eingebüßt hatte? Unsinn – Olly sagte es sich voll Bitterkeit, amüsieren wollte Senta sich vor allen Dingen! Wäre es nicht gescheiter. Senta verzichtete auf die Geburtstagsfeier, die viel Geld kosten würde, und man gab diese Summe dem Armen?

Inzwischen erörterten die andern lebhaft die Frage, wen man zu den lebenden Bildern alles auffordern wollte. Senta setzte sofort eine lange Liste ihrer Freundinnen auf.

»Und du, Olly, wen möchtest du dazu haben?« wandte sich Fräulein Arnold, die Olly nicht zurücksetzen mochte, an die Schweigsame.

Olly machte ein Gesicht, als ob sie die ganze Sache nichts anginge. Sie schwieg.

Senta lächelte vielsagend . . . Olly und Freundinnen!

Das ärgerte die Große. Trotzdem sie eben noch gegen das Fest gewesen, sagte sie, um zu beweisen, daß sie nicht ganz einsam dastände: »Ich möchte Kätchen Lehmann auffordern.«

Aber als sie es ausgesprochen, ärgerte sie sich noch viel mehr. Nun war sie sich selbst ungetreu geworden, nun hatte sie gemeinsame Sache mit Fräulein Arnold und Senta gemacht!

In der Schule verursachte der Unglücksfall und das bevorstehende Wohltätigkeitsfest bei Kommerzienrats begreifliche Aufregung. Man brüstete sich damit, mit Senta befreundet und zugezogen worden zu sein. Selbst auf Olly fiel ein matter Abglanz des Ruhmes.

Als Kätchen Lehmann, die mit Senta nicht verkehrte, sich bei Olly für die Einladung bedanken wollte, wies die sie schroff zurück. Sie wollte nichts sehen und nichts hören von all dem Rummel.

In der Rokokovilla dachte und sprach man jetzt eigentlich von nichts anderem.

Nach langem Hin und Her, Für und Wider, nach den abenteuerlichsten und unmöglichsten Vorschlägen hatte man sich endlich auf Märchenbilder geeinigt. Senta sollte als »Märchen« zuerst die Gäste mit einigen Versen begrüßen und die Bilder einleiten.

Beim Sonntagnachmittagskaffee war's, als man endlich zum Resultat gekommen. Auch die Reihenfolge der Bilder war festgesetzt, nun handelte es sich nur noch um die Rollenverteilung.

Senta hätte am liebsten jede Rolle übernommen. Sie wollte Dornröschen sein, Schneewittchen und Aschenbrödel, aber bei dem Schneeflockentanz im letzten Bild »Frau Holle« wollte sie natürlich auch mitwirken. Denn ihr Geburtstag war es doch!

»Mädel, du kannst dich doch nicht vervielfältigen«, lachte der Kommerzienrat, dem die Sache viel Spaß machte.

»Du mußt deinen Freundinnen, wenn du sie zum Mitspielen ausgefordert hast, doch auch etwas überlassen, Sentchen«, stellte Fräulein Arnold lächelnd vor.

»Und welche Rolle wird Olly geben?« fragte da Wolfgang Steinhardt, dem es weh tat, daß man die Älteste einfach überging.

Olly warf ihm einen feindseligen Blick zu. Wollte der sich über sie lustig machen?

Fräulein Arnold und Senta sahen sich ratlos an.

Was – Olly sollte auch mitspielen, daran hatte man noch nicht gedacht. Man konnte sich doch die Bilder unmöglich durch ihren Anblick verderben!

»Olly könnte vielleicht ›Frau Holle‹ im letzten Bilde geben«, meinte Fräulein Arnold endlich, froh, einen Ausweg gefunden zu haben. Frau Holle konnte so garstig sein, wie sie wollte.

»Oder die Hexe in ›Hänsel und Gretel‹!« fiel Senta übermütig ein. Papa drohte ihr.

Um Ollys Lippen zuckte es. Aber sie beherrschte sich.

»Ich halte das Aschenbrödel, das zu Hause von den bösen Schwestern zurückgesetzt wird, für passender«, meinte Wolfgang Steinhardt. Trotzdem Olly sich neulich so unliebenswürdig gegen ihn gezeigt, nahm er sich ihrer an. Unzufrieden sah er zu dem Blondkopf hinüber.

Senta ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen.

»Haha, das Aschenbrödel,« lachte sie, »die Olly das Aschenbrödel, welcher der kleinste Schuh paßt, die mit ihrer Elefantenpfote – – –«

»Senta!« unterbrach Papa sie jetzt mahnend.

Olly hatte klirrend ihre Tasse fortgeschoben und sich erhoben. Alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen. Sie empfand nicht die gute Absicht, die Wolfgangs Worten zugrunde gelegen, nein – vor allem hatte er sie mit ihrem Zurückgesetztwerden demütigen wollen. Es sauste und brauste in ihrem Kopf, sie wußte kaum noch was sie tat.

»Wenn ich überhaupt bei den Märchenbildern mitspiele, gebe ich nur das häßliche junge Entlein!« rief sie mit tränenheiserer Stimme, und da knallte auch schon die Tür hinter ihr ins Schloß.

Eine atembeklemmende Stille trat nach diesen Worten ein.

Wolfgang Steinhardt war im ersten Augenblick aufgesprungen, als wolle er hinter dem jungen Mädchen her. Dann besann er sich und setzte sich wieder auf seinen Platz. Streng und vorwurfsvoll suchte sein blaues Auge das Sentas.

Die aber tat ihm nicht den Gefallen, ihn anzusehen. Verwirrt und erschrocken hatte sie zuerst die elektrische Bronzekrone so eingehend betrachtet, als sähe sie dieselbe heute zum erstenmal. Dann aber begann sie auf Mord den vor ihr liegenden Zettel zu beschreiben, dabei war alles dummes Zeug, was sie da notierte. Diese Olly – einen so gemein und jählings zu verklatschen!

Keiner wagte zu sprechen. Fräulein Arnold und die Brüder, die Ollys Spottnamen von Senta auch schon erfahren, sahen sich unsicher an. Der Kommerzienrat war der einzige, der die schwüle Situation nicht begriff.

»Ihr müßt Olly nicht so arg aufziehen,« sagte er, »das Mädel ist jetzt wieder schrecklich gereizt. Also wann findet die erste Probe statt?«

»Sobald als möglich, Papachen.« Senta war glückselig, daß der Bann gebrochen. »Ein Vetter von Leutnant von Treuenfels ist Maler, ich habe ihn beim Tennis kennen gelernt, der will uns beim Stellen der Bilder behilflich sein.« Ihre Worte überstürzten sich wie Wellen, die alles Vorangegangene davonspülen wollten.

Aber das gelang ihr nicht. Denn Wolfgang Steinhardt war zäh und eisern wie seine Maschinen, die er konstruierte.

»Senta, ich möchte dich sprechen«, sagte er aufstehend.

»Bitte.« Sie blieb sitzen.

Er schwankte. Sollte er den kleinen Blondkopf hier vor den anderen blamieren? Wenn's der Kommerzienrat erfuhr, daß sie die Unwahrheit gesprochen, setzte es sicherlich selbst für seinen Liebling ein Donnerwetter ab.

»Willst du mir nicht einen Augenblick ins Nebenzimmer folgen?«

»Nee.« Senta wagte noch immer nicht, den Freund anzusehen, aber sie gewann allmählich ihre Unverfrorenheit zurück. »Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun. Also Herbertchen ist der kleinste Zwerg im Schneewittchenbild, Rudi der Koch aus Dornröschen, und du, Wölfchen? Willst du den Königssohn geben, dann bin ich das Dornröschen.« Mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit sah sie ihn halb bittend, halb siegesgewiß zum erstenmal wieder an.

Aber sie erschrak vor seinen strafenden Augen.

»Ich werde mich überhaupt nicht beteiligen, ich habe zuviel Arbeit in diesen Wochen!«

Senta biß sich auf die Lippen. Diese niederträchtige Olly, das hatte die ihr eingebrockt!

»Aber Herr Diplomingenieur,« sagte da Fräulein Arnold mit sanftem Vorwurf, »das werden Sie uns doch nicht antun? Wir haben fest auf Ihre Hilfe gerechnet, Sentchen wollte Sie sogar bitten, ihr die Eingangsverse zu dichten, Sie sollen das ja so wunderschön verstehen.«

»Ich bedaure, diesmal nicht dienen zu können, Senta wird sich an einen anderen wenden müssen. Auch für heute bitte ich, mich zu entschuldigen, ich habe noch dringende Arbeit zu erledigen.«

»Lieber Wolfgang, Sie stürmen zu sehr auf sich ein. Sonntags dürfen Sie sich schon Ruhe gönnen«, meinte auch der Kommerzienrat.

Aber Wolfgang Steinhardt war heute nicht zu halten.

Senta überlegte, ob sie ihn nicht durch Bitten anderen Sinnes machen sollte? Mit Schmeicheleien hatte sie noch immer alles durchgesetzt. Sie geleitete ihn aus die Diele hinaus.

»Puh, was machst du für ein Gesicht, als ob du mich fressen wolltest! Sei doch wieder gut, Wölfchen, und verdirb mir nicht die Freude an meinem Geburtstag!«

»Tut es dir gar nicht leid, mich belogen zu haben?« fragte er dagegen streng.

»Belogen – pfui – wie das klingt, ich habe einfach vermieden, dir die Wahrheit zu sagen«, lachte das Backfischchen leichtsinnig.

»Lüge bleibt Lüge – und an Olly hast du auch nicht gedacht, wie weh du ihr mit dem Spottnamen tun würdest!« Wolfgang griff nach seinem Hut.

»Habe ich denn den für sie erfunden oder du?« fragte Senta schlagfertig. »Also du spielst mit, Wölfchen?« Bittend sahen die Vergißmeinnichtaugen zu ihm auf.

»Nein«, sagte er schroff.

»Na, denn nicht, du olle Tranfunzel!« lachte das Backfischchen hinter ihm her.

Fast täglich fanden in der Rokokovilla Proben statt, und besonders der Sonntag, wo es keine Schularbeiten gab, und auch die Herren frei waren, wurde dazu benutzt. Der regelmäßige Sonntagsgast blieb daher aus, um sich überraschen zu lassen, wie er sagte. In Wahrheit aber, um Senta zu bestrafen.

Das blonde Backfischchen empfand die Strafe nicht allzu tief. Es war augenblicklich in seinem Fahrwasser. Von einer geradezu strahlenden Ausgelassenheit erschien es jedesmal. Denn die Proben waren »einfach himmlisch«! Darüber gab es nur eine Stimme. Die Freundinnen zeigten Senta allenthalben ihre innige Liebe, die Herren machten ihr Komplimente, sie war der Mittelpunkt, wie sie es so sehr liebte. Ein Student hatte die Eingangsverse für das Märchen, mit denen Wolfgang sie zurückgewiesen, recht nett zusammengedrechselt.

Nach jeder Probe, wenn die Arbeit getan war, ging das Vergnügen los. Dann wurden Tische und Stühle zur Seite gerückt, Fräulein Arnold setzte sich an das Klavier, und man probte das Tanzvergnügen im voraus. Das war das Schönste!

Olly hatte ihre Absicht, sich gänzlich fern von diesen Vorbereitungen zu halten, nicht durchführen können. Papa hatte kurz und bündig erklärt: »Olly gibt das Schneewittchen, dazu paßt sie mit ihren schwarzen Haaren!« Trotz Ollys Bitten, sie doch überhaupt nicht mitspielen zu lassen, trotz der leisen Einwendungen von Fräulein Arnold und der lauten Senta blieb es dabei.

Man hatte die Szene, in der das Schneewittchen aus dem Fenster schaut und die als Bäuerin verkleidete Stiefmutter ihr den vergifteten Apfel reicht, während in der Ferne die heimkehrenden Zwerge sichtbar werden, herausgegriffen. Olly, die in den Proben statt des noch nicht vorhandenen Fensters über die Stuhllehne schauen mußte, sah aus, als hätte sie den vergifteten Apfel bereits im Munde. Solch ein gallebitteres Gesicht machte sie stets. Da war es kein Wunder, daß die Mädel und die Herren über das so wenig liebreizende Schneewittchen heimlich ihre Glossen machten. Olly empfand es, dadurch wurde ihre Laune nicht besser.

Sobald das Tanzen losging, verschwand sie in ihr Zimmer. Es war durchaus ungehörig für die Tochter des Hauses, aber sie brachte es nicht über sich, mit im Walzer und Polka herumzuhopsen. Sie mußte dabei immer an den auf seinem Schmerzenslager liegenden Verunglückten denken.

Verschiedene Male hatte sie Papa schon gebeten, ob sie den Arbeiter Schulz nicht im Krankenhaus besuchen und ihm einige Erfrischungen mitbringen dürfe.

»Wenn Fräulein Arnold dich begleiten kann, habe ich nichts dagegen«, lautete die Antwort.

Aber so oft Olly damit anfing, ob sie nicht heute den armen Kranken besuchen wollten, hatte Fräulein Arnold gerade immer etwas anderes vor. Immer wurde sie auf morgen vertröstet.

So machte sich Olly eines Nachmittags, als Fräulein Arnold und Senta aus waren, kurz entschlossen allein auf den Weg. Heimlich, denn Papa hätte es nie gestattet, daß sie ohne Begleitung in diese hauptsächlich von der Arbeiterbevölkerung bewohnte Gegend ging.

Gern hätte sie dem armen Kranken ein Gläschen von den herrlichen Früchten, die Fräulein Arnold eingekocht, mitgenommen. Aber sie wagte es nicht ohne Erlaubnis. So kaufte sie von ihrem Taschengeld eine Büchse Erdbeeren und einen Maiblumentopf.

Sie hatte Glück. Das Virchowkrankenhaus war gerade an diesem Nachmittag für Besucher geöffnet. Der Lysolgeruch legte sich beklemmend auf die Brust des in Luxus und Reichtum aufgewachsenen jungen Mädchens, als es die Krankensäle der chirurgischen Station durchschritt.

Lauter Nummern über den Betten; endlich hatte Olly die ihr angegebene erreicht. Bleich und angegriffen lag der Arbeiter Schulz in seinen Kissen. Beide Hände streckte er Olly entgegen, als er sie erkannte.

»Das jnädige Fräulein selbst – nee, die Ehre – ick hab's ja immer gesagt, Kinder, hab' ick jesagt, Fräulein Olly, det is die Beste von Kommerzienrats!« Man sah dem Mann seine Freude über den Besuch an.

»Wie geht's denn, Schulz, müssen Sie viel Schmerzen aushalten?« fragte Olly eigentümlich berührt. Das hatte ihr noch keiner gesagt, daß sie die Beste wäre. Sie selbst war vollständig davon überzeugt, daß sie überall die Schlechteste sei.

»Na, wohljetan hat's ja jrade nich, wie sie mir unters Messer hatten, und mit die Fabrik, wo man alt und jrau jeworden, is det nu ooch vorbei, 'n oller Stelzfuß bin ick nu jeworden, jrade noch jut jenug, mit'n Leierkasten uff die Höfe rumzuziehen.« Der Mann seufzte tief auf.

Olly traten die Tränen in die Augen.

Sie griff wieder nach der schwieligen Arbeiterhand.

»Das sollen Sie gewiß nicht, Schulz, dafür lassen Sie meinen Vater sorgen, es gibt sicher in der Fabrik auch noch Beschäftigung, die Sie trotz Ihres Fußes ausüben können«, tröstete sie.

»Das Fräulein hat recht, Schulz, grämen Sie sich nicht über Ihre Arbeitsunfähigkeit«, sagte da eine Stimme hinter Olly.

Die fuhr erschreckt herum – ein neuer Besuch – Wolfgang Steinhardt.

»Ich habe bereits mit dem Kommerzienrat darüber gesprochen, wir werden Sie als Mechaniker beschäftigen. Dazu brauchen Sie nur Ihre Finger und verdienen überdies ein schönes Geld«, fuhr der Ingenieur fort. »Tag, Olly«, er wandte sich jetzt zu dem jungen Mädchen.

»Ich muß wieder nach Hause, gute Besserung, lieber Schulz.« Wie freundlich der herbe Mädchenmund mit dem einfachen Mann sprechen konnte.

»Villen, villen Dank, und ooch für die Erdbeeren und die scheenen Blümekens. Aber daß Sie selbst jekommen sind, war das Allerscheenste!« sagte der Kranke voll Dankbarkeit.

»Du bist doch nicht allein, Olly?« fragte Wolfgang Steinhardt, als das junge Mädchen mit kaum wahrnehmbarem Neigen des Hauptes an ihm vorüber wollte.

Sie schritt schnell weiter, ohne Antwort zu geben.

Der Ingenieur verabschiedete sich ebenfalls.

»Ein andermal bleibe ich länger, ich sehe mich bald wieder nach Ihnen um, Schulz – heute muß ich dafür sorgen, daß das Fräulein gut nach Hause kommt.«

Auf der Straße holte er Olly ein. Ein nebelfeuchter Herbsttag war es, es dunkelte bereits. Stumm gingen die zwei nebeneinander her, man hörte nur das Aufschlagen ihrer Schritte.

Wolfgang überlegte, wie er mit dem jungen Mädchen am schonendsten über das Vorgefallene sprechen könnte, Olly dagegen, wie sie ihn am schnellsten los würde.

»Ich wünsche keine Begleitung«, sagte sie, plötzlich stehenbleibend, und sah dabei den Laternenpfahl an, als ob der ihr sein unerwünschtes Geleit aufgedrungen.

»Du kannst hier am Abend unmöglich allein gehen, weiß Papa und Fräulein Arnold von deinem Besuch?«

Olly schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Sie ging so schnell, daß es Wolfgang nicht leicht wurde, Schritt zu halten.

»Es ist hübsch von dir, Olly, daß du trotz eures Festes noch Zeit für den armen Mann gefunden hast, aber wenn man etwas Gutes tut, braucht man es nicht zu verheimlichen!« Und da sie noch immer schwieg, fügte er mit erregter Stimme hinzu: »Olly, sei doch nicht nachtragend, glaube mir, Kind, es hat mir selten etwas so leid getan!«

Wolfgang Steinhardt sprach die letzten Worte zu sich selbst. Denn die, an welche sie gerichtet, hatte sich in Trab gesetzt, sie ging nicht mehr, nein, sie lief.

Doch plötzlich machte sie erschreckt halt. Ein Trupp johlender Burschen war um die Ecke gebogen. Olly war nicht gewöhnt, allein auszugehen, sie wagte sich nicht weiter.

Wolfgang hatte sie bereits erreicht, ruhig führte er sie an den singenden Burschen vorüber.

»Willst du mich nicht anhören, Olly? Der schlimmste Verbrecher darf sich doch verteidigen.« Er versuchte wieder zu scherzen. Aber als er ihr unbewegliches Gesicht sah, das junge Gesicht, das weit über ihre Jahre ernst erschien, sagte er leise: »Olly, ich bitte dich – vergiß und vergib!«

»Vergessen – das – niemals!« Wie ein Wehlaut hatte es sich ihr von den Lippen gerungen.

Er sprach nicht mehr. Was sollte er denn auch noch sagen? Das harte Wort ließ sich nicht ungeschehen machen.

Kalt und unwirtlich wehte es über die Gelände vor den Toren Berlins. Die beiden fröstelten in ihrem stummen Beieinander. Fabrikschlote ragten gespenstisch aus dem Nebel heraus.

Am Gartentor machte Wolfgang Steinhardt halt. Schweigend zog er den Hut. Und schweigend ließ Olly den getreuen Begleiter zurück – sie fand kein Dankeswort.



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