Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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5. Kapitel.

Klasse Ia

Herbst war es über Nacht geworden.

Kalter, nebelgrauer Herbst. Das lichte Sommergespinst war zerflattert und zerstoben. Die Sonne, die sich noch gestern in den blanken Fensterscheiben der weißen Rokokovilla lachend gespiegelt hatte, war hinter dicken regenschweren Wolkensäcken verschwunden. Über die Wiesen kam der Oktoberwind einhergestürmt, heulend, mit flatternden Haaren und rüttelnden Fäusten. Scheiben klirrten, Türen schlugen, Kohlenstaub wehte, in tollem Wirbel jagte totes Laub durch den Garten.

Ollys arme Blumen froren. Ihre junge Pflegerin hatte heute noch keine Zeit für sie gefunden. Die saß auf der Schulbank und fror innerlich in ihrer Vereinsamung mehr als die Blumen auf dem Balkon. Sie lauschte dem Brausen des Sturmes, dem Ächzen der Schulhofkastanien und dem, was in der eigenen Brust stürmte und tobte – wilder als da draußen. Die Worte des Lehrers verhallten ungehört an ihrem Ohr, und doch gingen dieselben sie ganz besonders an.

»Olly Hildebrandt – wie oft soll ich noch fragen, ich vermisse Ihre Geometriearbeit!« Doktor Elbing blickte aus kurzsichtig blinzelnden Augen von dem auf dem Katheder liegenden Stoß Hefte zu der regungslos Dasitzenden hinüber. Er hatte die Gewohnheit, die Arbeiten gleich in der Stunde zu korrigieren.

Kätchen Lehmann, die hinter Olly saß, puffte sie mit einem »Menschenskind, schläfste?« wohlwollend in den Rücken. Jetzt endlich erhob sich Olly. Sie hatte seit dem Zurückgeben der Aufsätze immer noch den letzten Strafplatz inne.

Die lange Gestalt nach vorn übergebeugt, wie ein zusammengeklapptes Taschenmesser, stand sie stumm da.

»Ich wünsche eine Antwort, oder ist Ihnen Sie Sprache eingefroren?« Doktor Elbing war wegen seiner Ironie allgemein gefürchtet.

Olly zuckte die Achsel. Das war ja alles so gleichgültig, wie hatte sie gestern wohl daran denken sollen, ihre Aufgaben zu machen!

»Sagen Sie mal, Senta,« der Lehrer wandte sich zu der den Blondkopf möglichst tief in ihre Bücher Vergrabenden, »können Sie denn nicht Ihren Einfluß auf die Schwester mehr geltend machen? Sie sind mir stets eine liebe, fleißige Schülerin, auch Ihre heutige Arbeit ist fehlerlos, wenn Ihre Schwester selbst keinen Trieb hat, so müssen Sie das Mädchen anspornen und dafür sorgen, daß sie ihren Pflichten nachkommt.«

Senta war emporgeschnellt. Blutübergossen stand sie da. Sie wagte nicht, zu Olly hinüberzusehen, aber sie fühlte trotzdem deren verächtlichen Blick. Schmückte sie sich doch schon wieder mit fremden Federn! Die Arbeit, um derentwillen sie belobt wurde, war zum größten Teil Ollys Werk. Die Arbeit, die den Anstoß zu der häßlichen gestrigen Streitszene zwischen ihnen gegeben.

»Setzen Sie sich,« Doktor Elbing winkte der in peinlicher Verlegenheit dastehenden Senta wohlwollend zu, »und Sie, Olly Hildebrandt,« jetzt machte er ein paar Schritte gegen den letzten Platz hin, »merken Sie sich, ich weiß sehr wohl, Sie können, wenn Sie nur wollen. Sie sind für Geometrie begabt, lediglich Ihr mangelnder Fleiß und Ihre Teilnahmlosigkeit sind schuld daran, daß Sie nicht vorwärtskommen. Die Oktoberzensuren sind zwar schon geschrieben, aber ich ändere sie noch, falls Sie mir bis Ende der Stunde keine Aufklärung über die fehlende Arbeit gegeben haben!«

Der Lehrer nahm wieder seinen Platz auf dem Katheder ein und Olly den ihrigen. Sie wußte es, mit Doktor Elbing war nicht gut Kirschen essen, wenn er einen erst auf dem Strich hatte. Aber was sollte sie ihm denn bloß als Entschuldigungsgrund angeben?

Blätter raschelten, Federn kritzelten wieder, eifrig beugten sich die hellen und dunklen Mädchenköpfe über die Aufgaben.

»Wetten, daß das häßliche junge Entlein den Schnabel hält und sich nicht entschuldigt!« Eine hohe Stimme flüsterte es so deutlich durch die Stille, daß die Worte unbedingt das Ohr Ollys erreichen mußten.

»Halten Sie gefälligst selbst den Schnabel, die Geometriestunde ist nicht zum Schnattern da!« Doktor Elbing hatte nur das letzte verstanden, er sah mißbilligend zu der Sprecherin hin.

Auch die übrigen Schülerinnen, die fast alle den Spottnamen kannten, vor allem Senta, blickten erschreckt und vorwurfsvoll zu Irmgard von Buschen. Die warf den kastanienbraunen Kopf herausfordernd in den Nacken und gab die Blicke hochmütig zurück. Sie fragte nicht danach, daß Olly Hildebrandt so weiß geworden war wie das Blatt Papier, das unbeschrieben vor ihr lag. Daß sie die Fingernägel in die Handflächen grub, um nur nicht die Herrschaft über sich selbst zu verlieren.

So weit war es also schon gekommen! Die ganze Klasse kannte bereits ihren Spottnamen. Oh, die Schmach, die Schmach!

Die Stunde verrann, Olly Hildebrandt dachte nicht mehr daran, einen Entschuldigungsgrund für die fehlende Arbeit zu finden!

»Ich gehe nicht mehr in die Schule, nicht zehn Pferde bringen mich wieder hierher!« Das stand bombenfest in ihr.

Erst aber wollte sie Irmgard zur Rechenschaft ziehen.

Als das junge Mädchen, das Filzhütchen mit Schleier auf dem weichen Haar – Irmgard von Buschen war die einzige, die es wagte, mit einem Schleier in die Schule zu kommen – als Irmgard nach Schulschluß grade zur Tür hinaus wollte, vertrat Olly ihr den Weg.

»Wen hast du vorhin mit dem ›häßlichen, jungen Entlein‹ gemeint?« Ollys Stimme klang heiser vor Aufregung.

»Anwesende sind stets ausgeschlossen, das solltest du doch wissen, mein schönes Fräulein.« Irmgard lachte leichtsinnig auf.

»Ich will wissen, von wem du den Ausdruck hast?« Olly stieß es so drohend hervor, daß es selbst der nicht leicht zu verblüffenden Irmgard unbehaglich zumute wurde.

»Pah – frage doch deine Schwester, die wird dir darüber Auskunft geben können, was geht's mich an!« Irmgard zuckte die schlanken Schultern, und fort war sie.

Der Heimweg von der Schule bis zur Haltestelle der Elektrischen hatte immer etwas Bitteres für Olly. Auf diesem Endchen empfand sie es ganz besonders, daß sie keine einzige Freundin hatte. Lachend und kichernd zog Senta, zu dreien und vieren untergeärmelt, mit den Kameradinnen voran, während Olly wie ein störrischer, bissiger Köter allein hinterhertrabte.

»Herrgott, wo bleibst du denn wieder?« Das war das einzige, womit Senta an der Haltestelle von der Schwester Notiz zu nehmen pflegte; denn nach Hause mußten sie zusammen kommen.

Heute war der Zwischenraum zwischen den beiden Schwestern größer als je. Senta schlug das Gewissen und trieb sie vorwärts. Außerdem traf sie, wenn sie rasch ging, die netten Studenten vom Tennis und von der Eisbahn. Es war ein beseligendes Gefühl für das blonde Backfischchen, wenn die bunten Mützen ehrerbietig wie auf Kommando in die Luft flogen.

Olly grüßte keiner. Von allen Sportvergnügungen zog sie sich zurück, man kannte sie nicht. Auch bohrte sie stets mit ihren Blicken ein Loch in das Steinpflaster, sie würde einen Gruß noch nicht einmal beachtet haben.

Als Senta die Haltestelle erreichte, war die Elektrische gerade im Begriff, abzugehen. Einen Augenblick schwankte das junge Mädchen, sollte es hinaufspringen? Dann ging es dem ungemütlichen Beisammensein mit Olly am besten aus dem Wege. Aber Papa hatte anbefohlen, daß sie beide gemeinsam fuhren – ach was, warum trödelte die denn auch so lange! Den Tod konnte man sich ja bei diesem Sturm an der zugigen Ecke holen. Dazu hatte Senta ihr junges Leben zu lieb. Schon schwang sie sich graziös auf das Trittbrett und winkte den Freundinnen ein lachendes Lebewohl zu.

In diesem Augenblick bog auch Olly um die Ecke, und mit ihr zugleich der Oktoberwind. Der packte sie bei ihren schwarzen Defreggerzöpfen und riß ihr – hast du nicht gesehen – die graue Lodenmütze vom Kopf. Hinter der elektrischen Bahn wirbelte er sie her, Olly mußte ihre langen Beine in Trab setzen und dem Ausreißer nachfolgen. Die Mitschülerinnen hielten sich die Seiten vor Lachen über des häßlichen jungen Entleins plumpe Sprünge, und hinter dem Glasfenster der Bahn hervor lugte ein spitzbübisch lachendes Mädchengesicht. Senta gönnte Olly diese Blamage.

Finster stülpte Olly die endlich ergatterte Mütze auf den Kopf: Verbündete sich nicht selbst Wind und Wetter gegen sie? Finster blickte sie hinter der Schwester her. Sentas augenscheinliche Flucht erschien ihr feige und verächtlich – »aber wart' du nur, du sollst mir schon Rede stehen!«

Es war am Nachmittag desselben Tages. Olly hatte keinen ihrer Angehörigen, nicht einmal Fräulein Arnold, zu sehen bekommen. Das Essen ward ihr auf ihrem Zimmer serviert. Sie schämte sich grenzenlos vor den Dienstboten, daß sie wie ein Kind bestraft wurde. Am liebsten hätte sie, wie am Abend zuvor, alles unberührt gelassen und sich dem langsamen Hungertode preisgegeben. Aber ihr gesunder Organismus verlangte sein Recht. Und das Schmählichste daran war, daß es ihr trotz ihres Herzeleids vorzüglich schmeckte.

Senta hatte ihre Schularbeiten so lange als möglich aufgeschoben und sich in den unteren Räumen herumgedrückt. Sie hoffte, daß Olly das gemeinsame Zimmer verlassen würde. Aber Olly tat ihr diesen Gefallen nicht, Olly wartete. Sie konnte es unmöglich hingehen lassen, daß Senta sie dem Spotte der ganzen Klasse preisgab.

Als die jüngere Schwester schließlich trällernd, als ob nichts geschehen sei, das Stübchen betrat, war Olly gerade dabei, ihre Blumen auf dem Blumentischchen unterzubringen. Liebevoll suchte sie für jedes Pflänzchen den besten, geschütztesten Platz. Jetzt aber ließ sie ihre hübsche Arbeit im Stich und wandte sich jäh um.

»Willst du vielleicht die Güte haben und mir Irmgard von Buschens heutige Worte erklären?« fragte sie kurz.

»Welche?« Senta stellte sich dumm.

»Du weißt sehr gut, was ich meine, die, welche bereits die ganze Klasse kennt!«

»Ich rede überhaupt nicht mit dir nach deinem gestrigen Benehmen!« Senta fand es für geraten, selbst die Beleidigte zu spielen.

»Laß deine Mätzchen!« herrschte die Große sie an. »Schämst du dich gar nicht, solch einen Schimpfnamen für deine eigene Schwester zu erfinden und ihn dann noch in herzlosester Weise in der Klasse herumzuposaunen?« Das blonde Backfischchen duckte sich förmlich unter dem verächtlichen Ton der älteren Schwester.

»Ich habe ihn gar nicht erfunden, er stammt . . .« Sie machte jetzt doch eine Pause, denn Wolfgang Steinhardt, der sie gestern erst gebeten, liebevoll gegen Olly zu sein, tauchte mahnend vor ihr auf.

»Woher – woher stammt der Name?« Olly schüttelte die Schwester, ohne es zu wissen, in ihrer Aufregung an der Schulter.

»Laß los – du – willst du mich vielleicht wieder schlagen?« Senta machte sich ungestüm frei.

Olly ließ schlaff die Arme sinken.

»Bitte, sag', von wem der Name kommt!« Olly sah die Schwester an wie das Reh, das die Brust der todbringenden Kugel darbietet.

Senta fühlte, daß sie Olly weh tun würde, und zum erstenmal erwachte ein schwesterliches Gefühl in ihr.

»Ich möchte es lieber nicht«, meinte sie kleinlaut, nicht nur aus Furcht vor Wolfgangs Vorhaltungen.

Ollys noch eben bittende schwarze Augen bohrten sich drohend in die sanften Blauaugen.

Das reizte Senta.

»Also meinetwegen – Wolfgang Steinhardt hat den Beinamen für dich herausgefunden, nun weißt du's.«

»Du lügst!« Gellend klang Ollys Stimme.

»Frag' ihn doch selbst!« Senta lachte hell auf. Sie wußte es ja ganz genau, daß Olly sich lieber die Zunge abbeißen würde, ehe sie den Freund befragte. Jede weiche Regung war bei ihr wieder geschwunden.

Wortlos verließ Olly das Zimmer. Sie mochte den Kampf, der in ihr wütete, nicht vor Sentas Augen auskämpfen. Draußen im Garten der Herbststurm, der vom Kanal daherfuhr, hier Zweige knackte, dort Äpfel und Nüsse abschlug, der in einer toten Blätterwolke die Gartenpfade entlangbrauste, der war ihr gerade recht in ihrer augenblicklichen Stimmung. Sie ließ sich vom Winde treiben, und je mehr er an ihr riß und zerrte, um so lieber war es ihr.

»Reißt – zerrt an mir – alle – alle . . .« Immer wieder bildeten ihre Lippen diesen Text zu dem wilden Sang des Oktoberwindes. Aber allmählich kühlte sich ihr heißes Blut, sie ward ruhiger. Hatte sie denn wirklich so fest geglaubt, daß der Schmähnamen Sentas Kopf entsprungen sei, und Wolfgang Steinhardt ihn nur aufgegriffen und wiederholt habe? Ja, denn sonst hätte die unumstößliche Tatsache sie nicht so schmerzhaft getroffen.

»Olly, du holst dir den Tod bei dem Wetter ohne Mantel hier draußen!« Rudi kam ihr entgegen.

»Was liegt an mir?« Olly stieß es bitter hervor.

Der Bruder blieb vor ihr stehen und packte sie bei den dünnen Armen.

»Brrr – Mädel, wie siehst du aus . . .«

»Ich weiß allein, wie garstig ich bin, du brauchst es mir nicht noch mitzuteilen.« Ollys Stimme klang wie eine zersprungene Saite.

»Aber Olly, das wollte ich doch nicht damit sagen,« Rudi machte ein ganz bestürztes Gesicht, »ich meinte doch bloß, du siehst so schrecklich elend aus! Ganz bleich, und die Augen so tief umschattet – sag', hast du dir Papas Philippika wirklich so sehr zu Herzen genommen, du Dummchen?«

Trotz der letzten Schmeichelei taten die herzlich warmen Worte des Bruders Ollys frierendem Herzen wohl. Rudi war der beste von den Geschwistern, Olly hielt besonders viel von ihm, um so mehr kränkten sie seine häufigen Hänseleien.

Sie gab keine Antwort, sie wollte sich nicht weich machen lassen. Der Bruder würde sie gerade so enttäuschen, wie der Freund sie enttäuscht hatte!

Rudi war unschlüssig stehengeblieben. Olly war wieder störrisch und unzugänglich wie immer. Das gescheiteste war, er ließ das unliebenswürdige Ding einfach laufen.

Aber da war etwas in ihrem Blick und auch vorhin in ihrer Stimme gewesen, das ihn gegen seine Überzeugung voll Mitleid bei ihr bleiben ließ.

»Du, Olly, komm ins Haus, du erkältest dich.« Er zog ihren Arm durch den seinen.

Wie in einem Traum ließ die Schwester es geschehen. Gab es denn wirklich noch jemand auf der Welt, der sie nicht verabscheute, der mit ihr Arm in Arm gehen mochte? Das vollständig zu Boden getretene Selbstbewußtsein des jungen Mädchens begann leise und zaghaft wieder den Kopf emporzuheben.

Als sie die zum Portal emporführende Freitreppe erreicht, wandte sie errötend den Kopf Rudi zu.

»Bitte, laß uns noch einmal durch den Garten gehen«, bat sie leise, denn sie schämte sich, daß sie den Arm des Bruders noch nicht freigeben mochte.

Rudi verstand ihr zartes Empfinden nicht, aber er war froh, daß sie überhaupt wieder sprach.

»Meinetwegen,« sagte er, »aber dann komm wenigstens mit in mein Cape.« Und er schlang den Arm mit dem Lodencape zugleich um die vor Kälte und Aufregung zitternde Mädchengestalt.

So schritten die Geschwister stumm durch den entblätternden Herbstgarten.

Ja – war es denn noch Herbst, kaltes, unfreundliches Herbstgrau?

Olly erschien der wolkendüstere Oktoberhimmel jetzt nicht mehr drohend und finster, das stumpftote Braun von Baum und Busch erglimmte zu farbenfreudigem Leben, und der Sturm, der sie noch soeben gezaust, konnte ihr in Rudis Mantel nichts mehr anhaben. Da drinnen war es warm und wohlig.

Die Eiskruste, welche die letzten Tage um Ollys Herz hatten erstarren lassen, begann in dem warmen Arm des Bruders langsam aufzutauen.

Auch Rudi war es eigentümlich zumute. Hundertmal war er mit der blonden Senta Arm in Arm lachend durch den Garten geschlendert. Aber das war etwas anderes gewesen als dieses schweigsame Beieinander heute mit Olly. Es fiel ihm ein, daß er seit Jahren sich zum erstenmal wieder brüderlich gegen die Schwester zeigte. Heute wies Olly ihn nicht zurück, wie so oft, wenn er sie mit seinen jungenhaften Neckereien aufzog.

War es Täuschung, oder hatte sich das sonst so abstoßende Mädel soeben wirklich fester in seinen Arm geschmiegt? Ihm kam der Gedanke, daß er Olly gegenüber viel gutzumachen habe.

»Du, Olly, soll ich Papa bitten, daß er dich wieder bei Tische essen läßt?« fragte er aus seiner versöhnlichen Stimmung heraus.

Olly schüttelte nur den Kopf. Das Herz war ihr zu voll zum Sprechen.

»Ich habe der Senta gestern den Standpunkt klargemacht, was brauchte sie dich denn gleich bei Papa zu verklatschen – Petzen ist gemein – lieber hätte sie dir wieder eine Maulschelle geben sollen, dann wäret ihr quitt gewesen!« philosophierte Rudi.

Olly war bei seinen Worten die Schamröte über ihr gestriges Tun ins Gesicht gestiegen.

»Wir wollen nicht von Senta sprechen«, meinte sie leise, denn sie fror wieder in Gedanken an die Schwester. »Ich wollte Papa bitten, mich aus der Schule zu nehmen«, fuhr sie fort – wie merkwürdig, daß sie plötzlich jemand hatte, gegen den sie sich aussprechen konnte.

»Nanu – wieso denn? Du bist doch erst Ostern fertig, haste was ausgefressen?« Rudi zog die Augenbrauen hoch.

»Nein – aber . . .« Unschlüssig blickte Olly den Bruder von der Seite an. Es war doch nicht so leicht, das, was sie im Innersten verwundet, hier in Worte zu fassen. Aber als sie Rudis treuherzig ermunterndem Blick begegnete, überwand sie sich.

»Sie verspotten mich in der Schule – sie machen sich über mich lustig – alle – geradeso wie zu Hause, und Senta ist schuld daran!« klagte sie leise.

Nichts hätte Rudi sein eigenes Verhalten schärfer verurteilen lassen können als Ollys schlichte Klage. »Geradeso wie zu Hause.« Hundsgemein hatte er sich ja ebenfalls zu dem armen Ding benommen, aber – es sollte anders werden!

»Das mußt du dir nicht so zu Herzen nehmen, Olly, sie meinen es sicher nicht böse, auch Senta nicht, die ist nur übermütig und leichtsinnig«, tröstete er.

Olly schluckte. Sollte sie es Rudi anvertrauen, welchen Schimpf man ihr in der Schule angetan, wie man sie dort allgemein nannte? Nein, sie mochte in ihr schönes Beisammensein nicht diesen Mißklang bringen.

»Wenn ich dir raten soll, Mädel, so kommst du Papa nicht mit deinem Schulabgang. Er ist heute mittag sowieso nichts weniger als rosiger Laune gewesen, sogar Fräulein Arnold traute sich kaum, ihn anzusprechen. Die neue Maschine funktioniert nicht so recht, da ist's die ungeeignetste Zeit für deine Bitte. Überhaupt, was willst du zu Hause? Auf deinem Zimmer hocken? Mit Fräulein Arnold stehst du doch auch nicht gut«, ließ der Primaner seinem Herzen freien Lauf.

Ja, was sollte sie denn zu Hause? Überflüssig war sie dort wie überall!

Aber Rudi ließ kein bitteres Grübeln bei ihr aufkommen, er fuhr fort: »Ich sehe auch nicht den geringsten Grund ein, Olly, daß du fahnenflüchtig werden willst. Im Gegenteil, ich würde mich zusammennehmen und meinen Stolz dreinsetzen, in den Schulstunden alle zu übertrumpfen und ihnen zu imponieren! Dann werden sie schon Respekt vor dir bekommen und dich nicht mehr verlachen. Und tun sie's trotzdem, weißt du, es macht ihnen ja nur Spaß, solange sie sehen, du ärgerst dich darüber. Wenn du dich gar nicht drum kümmerst, hören sie schon von selbst auf. Glaub' es mir, ich spreche aus Erfahrung – leid genug tut mir's jetzt!« Das waren ehrliche, gerade Worte, eine gute Medizin für ein wehes Gemüt.

Olly griff denn auch unter dem Cape nach Rudis Hand und drückte sie herzhaft.

»Rudi, was du mir heute gegeben hast, ist mehr, als daß ich dir dafür danken kann. Daran will ich denken, wenn du mal wieder eklig zu mir bist!« Aus tiefstem Herzensgrunde kam es Olly. Sie wußte es selbst nicht klar, nur dunkel empfand sie es, daß der Bruder ihr den Glauben an sich selbst zurückgegeben hatte.

»Ich will nicht wieder eklig zu dir sein – Ehrenwort, rechte Hand!« Der Junge schüttelte Olly fast den Arm aus dem Gelenk.

Unweit der Villa machte sich Olly aus dem Lodencape frei. Denn auf dem Erkersitz im Wohnzimmer, früher Mamas Lieblingsplatz, saß Fräulein Arnold und blickte durch die Scheiben mit erstaunten Augen auf die seltsame Gruppe.

In der Diele ließ Herbertchen seine Bleiregimenter gegeneinander aufmarschieren, er hatte hier den besten Platz für seine Kriegsübungen. Als der junge Feldmarschall Ollys ansichtig wurde, schwang er streitbar seine Fahne gegen sie und begann nach den Klängen »Deutschland, Deutschland über alles« mit Trompetenstimme »Olle, Olle, Olle, Olle« in Musik zu setzen.

Die Schwester war heute sanftmütig wie ein Lamm, stillschweigend schritt sie unter den Klängen der Hymne die Treppe empor.

Rudi aber packte den Sextaner bei seinen Locken.

»Warte, mein Bürschchen, wenn du noch mal frechdachsig gegen deine große Schwester sein wirst!« Er zog den Kleinen an den Haaren, daß dieser in ein lautes Wehgeheul ausbrach.

Was war denn bloß in Rudi gefahren? Sonst hatte er ihn doch immer noch angestiftet, wenn es galt, Olly zu ärgern, und er war doch oft schon viel frecher zu ihr gewesen!

Fräulein Arnold, die auf Herbertchens Lamento erschien, meinte lächelnd: »Das ist recht, Rudi, daß Sie sich als Ritter der verfolgten Unschuld annehmen!« Dieses Lob traf Rudis Jungenstolz empfindlich.

»Ach wo«, wehrte er verlegen ab und begann sich seiner Guttat gegen Olly heimlich zu schämen.

Diese aber hatte sich, ohne auf die den französischen Konjunktiv lernende Senta zu achten, an ihr Arbeitstischchen gesetzt. Mit großen Augen sah Senta, wie Olly voll Eifer schrieb und schrieb. Nanu, was war denn mit der los? Wollte die etwa in der letzten Woche vor den Zensuren noch nachholen, was sie das Halbjahr über versäumt?

In Olly hatten Rudis Worte eine unglaubliche Schaffenskraft entzündet. Energie besaß sie immer, aber für die Schule lohnte es ihr nicht, dieselbe anzuwenden. Jetzt aber wollte sie. Jetzt wollte sie den dummen Dingern in der Klasse, die sie über die Achsel ansahen, vor allem Senta, zeigen, daß sie konnte, wenn sie nur wollte. Sie schrieb und lernte, daß ihr der Kopf brummte. Denn Lücken von vielen Monaten lassen sich nicht in ein paar Stunden ausfüllen. Je mehr Olly in das Loch, das ihr Wissen aufwies, hineinstopfte, um so erschreckender ward sie inne, wie tief dieses Loch war. Da gehörte emsige Arbeit dazu, um ihre lange Teilnahmlosigkeit am Unterricht wieder wettzumachen. Aber Rudis Worte hatten ihr das Rückgrat gestählt.

Wie schön, daß sie oben in ihrem Zimmer essen konnte! Da brauchte sie das Lernen nicht dabei zu unterbrechen. Das, was ihr noch heute mittag als entehrende Strafe erschienen, hatte durch die Arbeit seinen bitteren Stachel verloren.

Und noch eins half die Arbeit zurückdrängen. Das fruchtlose Grübeln und Nachdenken über den Spottnamen, den man ihr angehängt. Olly vergaß für einige Stunden ihren Gram. Auch als sie im Bette lag, machte ihr der französische Konjunktiv, den sie sich noch zuletzt einzutrichtern versucht hatte, so viel in Gedanken zu schaffen, daß gar kein Denken für anderes, Unerfreuliches, blieb. Nur an Rudi und seine Kameradschaftlichkeit dachte sie noch im Einschlafen. Das löste alles Herbe in dem jungen Gesicht und wischte die häßliche Falte von der Stirn. Aus dem grünen Efeukranz an der Wand blickten heute die Mutteraugen zufrieden auf ihr sanft schlummerndes Kind.

Doktor Elbing war versöhnt. Olly hatte ihm zu Beginn der Physikstunde die nachträglich gefertigte Geometriearbeit auf das Katheder gelegt. Allerdings zu einer Entschuldigung hatte sie sich nicht aufschwingen können. Die wollte nun einmal nicht über die trotzigen Mädchenlippen. Jedoch Doktor Elbing war ein verständiger Mann. Er verlangte nicht alles auf einmal, er nahm die Tat für die Entschuldigung.

Im Laufe der Physikstunde, die für Olly stets besonderes Interesse hatte, wenn sie auch tat, als ob die ganze Sache sie nichts anginge, zuckte ihr Arm plötzlich empor, da keine eine zufriedenstellende Erklärung für Adhäsion und Kohäsion zu geben vermochte. Aber erschreckt zog sie ihre Hand schnell wieder zurück. Scheu blickte sie um sich, hatte es auch keiner gesehen, daß sie sich von selbst gemeldet?

Doktor Elbing hatte trotz seiner Kurzsichtigkeit die plötzliche Bewegung wahrgenommen.

»Nun, Olly Hildebrandt, können Sie es uns am Ende sagen, eine blinde Henne findet auch manchmal ein Korn!« scherzte der Lehrer.

Die Klasse kicherte über den Witz. Olly aber biß sich auf die Lippen. Nein, sie brachte keinen Ton heraus, wenn Doktor Elbing sich so voreingenommen zeigte. Daß sie selbst durch monatelange Gleichgültigkeit den Grund dazu gelegt hatte, bedachte sie natürlich nicht.

Was für ein schadenfrohes Gesicht Irmgard von Buschen machte! Rudis Worte: »Du mußt ihnen imponieren, dann werden sie schon nicht mehr lachen!« wurden in ihr laut. Und ehe sie wußte, was sie tat, war sie aufgestanden und hatte, ohne zu stocken, geantwortet: »Adhäsion ist die Kraft, mittels der die Oberflächen zweier verschiedener Körper aneinander haften – Kohäsion ist die Kraft, durch welche die Teilchen ein und desselben Körpers sich aneinanderschließen.« Es war, als ob eine ganz andere aus ihr sprach.

Doktor Elbing war so erstaunt über ihre richtige Antwort, daß er sich die Brillengläser putzen mußte. Dann blinzelte er sie durch die funkelnden Gläser an und sagte schmunzelnd: »Brav! Olly Hildebrandt wird noch das Lumen der Klasse Ia

Diesen Witz hätte er nicht machen sollen. Die Klasse, die noch eben geradezu erstarrt auf die fast immer stumme Letzte gesehen, brach in ein wieherndes Gelächter aus.

Ollys mimosenhaftes Empfinden aber kroch wieder ganz in sich selbst zurück.

Nicht um alles in der Welt hätte sie sich in dieser Stunde wieder gemeldet. Aber Doktor Elbing wartete das auch gar nicht ab. Zweimal, da Senta, die Physik für das geisttötendste Zeug der Welt hielt, nichts zu antworten wußte, wandte er sich an Olly. Diese schwankte, ob sie sprechen sollte. Aber die Verlockung, Senta, die stets auf sie herabblickte, auch einmal auszustechen, war zu groß. Olly gab die richtige Antwort. Merkwürdigerweise aber hatte sie kein erhebendes Gefühl danach, sondern solch eine lästige Empfindung, als ob sie sich unschwesterlich gegen Senta benommen hätte. Und das hatte doch diese wahrhaftig nicht um sie verdient!

Auch in den anderen Stunden hatten sowohl die Lehrer als auch die Schülerinnen Grund, sich über die plötzlich erwachte Regsamkeit der schläfrigen Letzten zu verwundern.

»Sie will sich lieb Kind machen!« sagte Senta laut in der Zwischenpause zu ihrer Intima Irmgard und streifte die nur in Gesellschaft ihres Frühstücksbrotes einsam im Schulhof herumspazierende Schwester mit einem feindseligen Blick.

Olly ließ sich dadurch nicht irre machen. Sie blieb dabei, ihre Arbeiten pünktlich anzufertigen und Versäumtes nachzuholen. Melden tat sie sich nicht mehr in den Stunden, es war ihr peinlich, sich herauszustellen. Aber wenn sie gefragt wurde, wußte sie zu antworten. Zuerst freilich immer noch leise und scheu, aber durch das ermunternde Wort der Lehrer begann ihre Unfreiheit sich zu verlieren.

Rudi schien recht zu behalten. Olly Hildebrandt hörte auf, der Zielpunkt des Spottes der Klasse zu sein. Das plötzliche Wissen der allgemein für dumm und einfältig Gehaltenen imponierte den Mädeln in der Tat. Ja, es war sogar schon vorgekommen, daß sich eine, die eine Geometrieaufgabe nicht verstanden, an Olly mit der Bitte um eine Erklärung gewandt hatte. Im ersten Augenblick hatte Olly es als eine Verhöhnung aufgefaßt, so sehr war sie in den Gedanken verrannt, daß man sich allgemein über sie lustig machte. Aber als sie sah, daß es der Betreffenden Ernst mit ihrer Frage war, setzte sie allen Stolz darein, dem Glauben an ihr geometrisches Verständnis gerecht zu werden.

Da geschah etwas in der Zehnuhrpause, was Olly fast ebenso perplex machte wie die Klasse. Kätchen Lehmann, der sie vorher die Aufgabe erklärt hatte, forderte sie auf, mit ihr zu gehen. Olly mochte das freundliche Anerbieten nicht zurückweisen, trotzdem es ihr tausendmal peinlicher war, untergeärmelt mit dem flachshaarigen Kätchen durch den Hof zu pendeln, als ihre sonstige Solopromenade. Daran war sie und die anderen seit Jahren gewöhnt. Heute aber tuschelten sie, stießen sich an, wenn sie an den beiden vorübergingen, und drehten die Köpfe. Es war geradezu schrecklich. Olly war wie erlöst, als es wieder zur Stunde läutete.

Trotzdem die einsilbige Begleiterin durchaus nicht amüsant für das muntere Kätchen war, stellte es sich zur Zwölfuhrpause getreulich wieder ein. Olly Hildebrandt tat ihr leid. Sie fühlte, daß man ihr unrecht tat. Und besonders von Senta fand sie es nicht schön, daß sie sich so wenig um die Schwester kümmerte. Der wollte sie mit gutem Beispiel vorangehen.

Jetzt wandten sich die Mädchenköpfe schon seltener nach den beiden um, wie an alles im Leben, gewöhnte man sich auch an den Anblick der zwei.

Olly hatte eine Schulfreundin. Freilich nur eine, mit der sie allenfalls die Vorkommnisse in der Klasse besprach, jedes persönliche Gespräch vermied das so wenig zugängliche Mädchen ängstlich. Kätchen war klug genug, nicht in sie mit Fragen zu dringen, sie mußten erst warm miteinander werden.

Die Lehrer waren jetzt mit ihr zufrieden – woran lag es nur, daß Olly trotz alledem nicht froh werden konnte, sondern immer noch gedrückt und mißmutig einherging?

Nicht nur die Erinnerung an Wolfgang Steinhardts ihr angetanes Weh war es, was kein frisch-fröhliches, jugendliches Empfinden in ihr aufkommen lassen mochte. Auch Rudis Verhalten schmerzte sie.

Auf den Bruder hatte sie nach ihrer gemeinsamen Gartenpromenade in Sturm und Nebel fest gebaut. Und wenn er sie auch nicht geradezu enttäuscht hatte, gefoppt oder gehänselt hatte er sie seitdem nie wieder, er tat auch nichts, um ihr seine brüderliche Kameradschaft zu beweisen. Im Gegenteil, er ging ihr geradezu aus dem Wege. Ja, das tat er! Als ob er Furcht vor ihr hatte, daß sie sich vertraut zu ihm stellen könnte.

Olly ahnte nicht, daß Fräulein Arnolds harmlose Worte das Aufblühen der Gemeinschaft zwischen den Geschwisterherzen im Keime erstickt hatten.

So kamen die Oktoberzensuren heran.

Sonst hatte Olly das Verteilen der Zeugnisse stets mit stumpfer Gleichgültigkeit hingenommen. Ob da genügend, mangelhaft oder gar noch nicht genügend prangte, ließ sie völlig kalt. Heute aber war sie doch ein wenig begierig, ob sich der Fleiß der letzten Tage nicht günstig bemerkbar machen würde. Die Zensuren waren freilich schon seit geraumer Zeit geschrieben, aber wenn man sie noch zum Schlechten abändern konnte, vermochte man das doch auch zum Guten.

Um so niederschmetternder war das Resultat.

Olly war wie vor den Kopf geschlagen. So schlecht war ihr Zeugnis noch nie ausgefallen. Nur in Geometrie und Physik genügend, sonst lauter mangelhaft und ungenügend. Freilich war noch eine Bemerkung hinzugefügt: »Olly Hildebrandt bat sich in der letzten Woche erfreulicherweise zusammengenommen und gezeigt, daß nicht mangelnde Fähigkeiten, sondern nur Trägheit der Grund ihres Zurückbleibens ist. Hoffen wir, daß ihr Streben von Dauer sein wird.«

Diese Klausel, die ein Lob enthalten sollte, kam einem Tadel gleich. Wie ein Hohn auf das fleißige Arbeiten der letzten Woche erschien Olly das Zeugnis.

»Ekelhafter Wisch!« stieß sie in ihrer Erbitterung hervor, und trotz des hinter ihr sitzenden Kätchens mahnenden »Aber Olly!« zerknüllte sie die Zensur vor den Augen des Lehrers zu einem Knäuel.

Doktor Müller, der Ordinarius, schüttelte den Kopf und sagte trocken: »Die ist wohl nicht recht bei Troste!« Die Klasse jubelte, Olly war wieder der Mittelpunkt des Gespöttes. Der Ordinarius aber ließ sich das mißhandelte Zeugnis reichen, glättete es und schrieb mit roter Tinte darunter: »Olly Hildebrandt hat sich ungebührlich benommen.«

Die blonde Senta war mit ihrer Oktoberzensur recht zufrieden. Betragen »lobenswert«, trotzdem das Plappermäulchen ein paarmal beim Sprechen ertappt worden war, und sonst alles durchweg »gut«. Senta strahlte über das ganze rosige Gesicht, als sie die Stufen zur Rokokovilla heraufsprang.

Den dunkelhaarigen Kopf tief gesenkt, folgte Olly.

Fräulein Arnold stand am Fenster. Als sie die Schwestern in augenscheinlich entgegengesetzter Gemütsverfassung mit ihren Zensurmappen nach Hause kommen sah, wußte sie, was die Glocke geschlagen hatte.

Gerade als das junge Mädchen die Treppe hinauf in ihr Zimmer entwischen wollte, trat sie ihr entgegen. Senta hing der Hausdame bereits am Hals.

»Hurra, feine Zensur, Fräulein Arnold!« Damit wirbelte der Unband sie im Kreise herum.

Fräulein Arnold wandte sich an die Ältere.

»Na, und du, Olly?«

Das junge Mädchen zuckte die Achsel und wollte stillschweigend seinen Weg fortsetzen. Aber Fräulein Arnold legte ihm die Hand auf den Arm.

»Willst du mir deine Zensur nicht zeigen?«

»Nein!« sagte Olly kurz und versuchte die Hand abzuschütteln.

»Ich wünsche dein Zeugnis zu sehen.« Fräulein Arnolds Lächeln schwand.

»Und ich geb' es nicht!« Feindselig maß Olly die Hausdame.

Aber ehe Olly noch wußte, wie ihr geschah, hatte Fräulein Arnold mit geschicktem Griff ihr das Zensurenheft entwunden.

»Dazu haben Sie kein Recht!« Olly ballte in ohnmächtiger Wut die Hände.

»Kein Recht, wo ich Mutterstelle an euch vertrete?« Die Dame warf einen anklagenden Blick gen Himmel.

»Mutterstelle!« – Olly rief es in schneidendem Ton.

»Was geht denn hier vor – Olly, vergiß dich nicht!« Auf der Schwelle erschien der Kommerzienrat. Er kam heute etwas früher zu Tisch.

»Herr Kommerzienrat,« sagte Fräulein Arnold leise, »ich bin dieser ständigen Aufregungen mit Olly nicht gewachsen. Es tut mir leid um Ihre anderen Kinder, die ich in das Herz geschlossen habe, als wären es meine eigenen, aber es ist besser, ich verlasse dieses Haus!«

Zweistimmiges Wehgeheul erfüllte die Diele. Senta und das schon seit geraumer Zeit neugierig herbeigekommene Herbertchen, der frischgebackene Obersextaner, packten von jeder Seite den Arm ihres geliebten Fräuleins, als ob sie ihnen sogleich entrissen werden sollte. Oben auf dem Treppenpodest erschien Rudi mit erschrecktem Gesicht.

»Meine Kinder geben Ihnen selbst die beste Antwort, Fräulein Arnold, wir lassen Sie nicht fort! Versuchen Sie es, bitte, noch einmal mit dem Mädchen, und geht es trotzdem nicht,« – die liebenswürdig verbindliche Art des Kommerzienrats wurde drohend, er wandte sich der mit verschlossenem Gesicht dastehenden Olly zu – »merke es dir, eher gehst du mir aus dem Hause, als daß Fräulein Arnold durch dich von uns geht!«

»Papa – – –« schrie Olly auf und schlug die Hände vor das Gesicht. Davongejagt sollte sie werden, sie, die Tochter des Hauses, um einer Fremden willen!

Noch einmal ward Ollys Zeugnis heute zusammengeballt, und zwar von Papas eigener Hand.

»Natürlich, dieselbe Leier in der Schule wie zu Hause, ungebührliches Benehmen und Faulheit dazu – man könnte wirklich verzweifeln, wenn ich euch nicht hätte!« Papas Blick umfaßte liebevoll seine drei Blondköpfe, die ihm alle drei zufriedenstellende Zensuren heimgebracht.

Droben in dem duftigen Mädchenzimmer saß Olly wieder mal in tiefem Jammer. Und wieder mal flüchtete sie sich mit ihren Schmerzen zu Andersens Märchenbuch. An den Verfolgungen des häßlichen jungen Entleins maß sie die ihrigen, und es war ihr ein wonniges Gefühl, daß es ihr selbst noch tausendmal schlechter erging.



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