Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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3. Kapitel.

Der deutsche Aufsatz

Olly ahnte nichts von diesem Spitznamen. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß die Schulkameradinnen ihre Glossen über sie machten. Verstockt und verschlossen war sie auch in der Schule. Sogar in den Stunden, den Lehrern gegenüber.

Es lohnte ihr nicht, wenn sie selbst eine Antwort wußte, sich dazu zu melden. Stumpf und teilnahmlos saß sie auf ihrem Platz. Und da ihre Gedanken meistens abliegende, trübselige Wege wanderten, hörte sie oft gar nicht die Worte des Lehrers. Dann wurde sie natürlich wegen Unaufmerksamkeit und mangelnden Fleißes getadelt. Das aber empfand die gekränkte Olly wieder als eine Ungerechtigkeit – selbst hier in der Schule setzte man sie zurück!

Trotzdem Senta fast ein ganzes Jahr jünger war als Olly, saß sie über der Schwester. Zuerst war das recht demütigend gewesen, aber auch daran hatte sie sich schließlich gewöhnt. Sie wurde nicht mehr rot, wenn die Lehrer sagten: »Olly Hildebrandt, nehmen Sie sich an der Schwester ein Beispiel!« Ob Senta »sehr gut« unter einer Arbeit hatte und sie »noch nicht genügend«, das war ihr alles ganz gleichgültig.

Aber heute hatte sie zum erstenmal wieder eine sogenannte Ungerechtigkeit in Empörung gebracht. Die deutschen Aufsätze waren zurückgegeben worden.

Senta war kein besonders begabtes, nur ein fleißiges und ziemlich ehrgeiziges Mädel. Der häusliche Aufsatz war immer eine wahre Tortur für sie. Da saß sie in ihrem netten Zimmer, den hübschen Blondkopf in die Hand gestützt, mit gefurchter Stirn vor dem unbeschriebenen Bogen, sah den rußgeschwärzten Spatzen nach, die vorüberflatterten, und zerbiß ihren Federhalter.

Da bei dieser Tätigkeit aber wenig Gedanken zutage gefördert wurden, so bat sie mit ihrer liebenswürdig schmeichelnden Art einen jeden, der ihr in den Weg lief, ihr zu helfen. Wenn Papa mittags aus der Fabrik herüberkam, mußte er ganz schnell nur mal den Anfang sagen, weil der doch immer das schwerste ist. Fräulein Arnold beim Einkochen der Gläser mit Obstmarmeladen, Rudi bei seinen Horazschen Oden, sie alle mußten unbedingt ihrer armen, verzweifelten Senta das schwere Dasein erleichtern und ihr ein paar Brocken zu ihrem Aufsatz stiften. Selbst Wolfgang lauerte das kleine, blondhaarige Hexlein auf, der wußte immer solchen feinen Schluß. Aus diesen milden Brosamen und wenigen eigenen hinzugefügten Ingredienzen fabrizierte Senta dann geschickt ein ganz schmackhaftes Aufsatzragout.

Auch der heutige Aufsatz war unter gütiger Mitwirkung zustande gekommen. Strahlend blickte Senta auf ihr in roten Lettern darunter prangendes »Gut«.

Olly hatte ihr Heft noch nicht zurückerhalten. Sie war niemals neugierig auf das Resultat einer Arbeit. Trotzdem sie entschieden geistig mehr veranlagt war als Senta, gab sie sich keine Mühe, nachzudenken. Meistens schmierte sie den Aufsatz am letzten Abend nur so herunter, gar nicht erst in Unreine, sondern gleich ins Heft. Die Arbeit sah dann schon äußerlich so unsauber und flüchtig aus, daß sie selten, trotzdem vielleicht hin und wieder ein netter Gedanke zutage trat, als genügend bezeichnet werden konnte.

Heute aber war Olly begierig auf die Kritik ihres Aufsatzes. Zum erstenmal hatte sie sich damit Mühe gegeben. Das Thema hatte sie merkwürdig angezogen. Es lautete: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu.« Es war ihr, als ob dieses Wort ihr geradezu aus der Seele gesprochen wäre. All das Weh, das ihr Spott und Demütigungen je bereitet, stieg in ihr auf. Gedanken kamen und scharten sich um sie, sie brauchte nur aus der Fülle die besten herauszugreifen und aneinanderzufügen. Der Aufsatz war ihr keine Arbeit, sondern ein endliches Aussprechen zurückgedrängter Empfindungen. Denn Olly war über ihre Jahre ernst geworden.

Und nun hielt Doktor Müller ihr durch den roten, marmorierten Deckel schon äußerlich kenntliches Heft in der Hand.

»Olly Hildebrandt – ungenügend!«

Das junge Mädchen starrte den Lehrer geradezu fassungslos an. Das hatte sie nicht erwartet!

»Sie wundern sich darüber, wie mir scheint, ebenso wie ich mich über Ihren Aufsatz gewundert habe. Und wie sich vielleicht auch Ihre Angehörigen, die Ihnen bei der Arbeit geholfen haben, über das Resultat wundern werden. Der Aufsatz an und für sich hätte zweifellos »sehr gut« verdient, es ist eine reife Arbeit. Aber da ich nicht die Gedanken Ihres Vaters, oder wer den Aufsatz sonst für Sie gemacht hat, über das gegebene Thema wissen will, sondern Ihr eigenes Können, ist die Arbeit für mich ungenügend!«

Olly warf den Kopf mit den schweren, dunklen Zöpfen empört zurück. Ein verächtliches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Senta, die sich den Aufsatz hatte machen lassen, bekam »gut«, und sie, der kein Mensch daran dachte zu helfen, »ungenügend«, weil man es ihr nicht zutraute. Sie hätte dem Lehrer am liebsten ins Gesicht gelacht.

»Ja, Mädchen, sind Sie denn ganz und gar nicht gescheit! Noch obendrein solch ein impertinentes Gesicht zu machen! Setzen Sie sich auf den letzten Platz!« fuhr Doktor Müller Olly aufgebracht an.

Olly war das Lachen vergangen. Auch die anderen machten entsetzte Mienen. Eine derartige Strafe pflegte in der Ia nicht mehr vorzukommen. Schweigend nahm sie den schmachvollen Platz ein. Nein – sie brachte es nicht über sich, sie vermochte es nicht, dem Lehrer frei und offen zu sagen, daß sie selbst sich das »sehr gut« erarbeitet hatte. Pah – wozu? Man würde ihr ja doch nicht glauben.

So ging es ihr ja nicht nur in der Schule, auch daheim, überhaupt ihr ganzes Leben hindurch. Das waren häßliche Gedanken, die da hinter der Stirn des sechzehnjährigen Mädchens kreuzten, während Olly mit tränenlosem Blick auf ihr rotes Heft starrte.

Senta schwankte. Zum erstenmal tat Olly ihr leid. Sie wußte ja ganz genau, daß ihr keiner zu Hause geholfen hatte. Aber warum sagte das dämliche Ding das denn nicht selbst? Sie war doch nicht der Vormund von Olly, daß sie es dem Lehrer mitteilen mußte . . . Nee – lieber nicht, nachher kam es noch heraus, daß sie selbst den Aufsatz nicht allein gemacht hatte! Und dann, es war auch immerhin ein beschämendes Gefühl, wenn das häßliche junge Entlein »sehr gut« hatte, und sie selbst bloß »gut«.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Das war ein merkwürdiger Tag für Kommerzienrats. Da ruhte das Rasseln, Hämmern und Lärmen, das sonst aus der Welt der Arbeit in das beschauliche Leben der Rokokovilla herüberdrang. Da war es so still, so feiertäglich: selbst die hohen Schornsteine hielten den Atem an. Papa saß des Morgens gemütlich mit der Zeitung am Kaffeetisch, ohne wie sonst in sein Bureau zu hetzen. Die Kinder, die an Schultagen jeder einzeln, wie sie gerade kamen, in Eile die Tasse Kakao heruntergossen, genossen heute ausgiebig das Behagen der gemeinsamen Frühstücksstunde.

Nur Olly begrüßte den Sonntag nicht freudig. An keinem anderen Tage kam sie sich so verlassen vor. Da war sonst die Schule, die sie beschäftigte, und dann vor allem die Fabrik. Von klein auf war Olly mit den großen Rädern, den arbeitenden Riesenmaschinen gut Freund gewesen. Stundenlang konnte sie irgendwo in einem Winkel der Fabrikräume kauern und den ratternden Ungetümen zuschauen. Je größer das Mädel wurde, um so lebhafter interessierte es sich für das Entstehen und Zusammensetzen der gewaltigen Maschinenkörper, die aus der Hildebrandtschen Fabrik hervorgingen. Aber auch für die blassen Menschen, die da den ganzen Tag in den dunstigen Räumen zusammengepfercht bei der Arbeit hockten. Es fühlte etwas Verwandtes mit ihnen, waren sie nicht auch zurückgesetzt hinter vielen anderen, hatte das Leben ihnen nicht auch seine Gaben kärglicher zugemessen? Freundlicher, als es sonst seine Art war, grüßte es die Arbeiter in den blauen Blusen, die bleichen Frauen, die in langen Reihen den Fabriksälen zueilten. Da waren Mädchen darunter, nicht älter als Olly selbst. Sie alle regten die Finger zur einförmigen Arbeit. Olly begann sich zu schämen. Was hatte sie denn vor ihnen voraus, daß sie hier im faulen Nichtstun dem Schaffen so vieler emsiger Hände zuschauen durfte und es trotzdem viel besser hatte als sie alle, die Fleißigen?

Besser – nein, sie hatte es nicht besser! Weiter, als bis zu diesem Satze kam Olly nie mit ihrem Denken und Grübeln. Wie hatte neulich der Arbeiter Schulz seiner jungen Tochter, die ihm mittags das Essen in dem buntgewürfelten Zipfeltuch gebracht, liebevoll die Wangen mit den schwieligen Händen geklopft. Und das Mädel war doch auch nicht hübsch, nee, ganz im Gegenteil, mit ihrem sommersprossigen Gesicht!

Aber war ihr Papa nicht auch lieb und zärtlich zu den Geschwistern? Ja, bei den Reichen war das wohl anders als bei den Armen. Reiche Leute sahen mehr auf das Äußere – mit solchen unverständigen Überlegungen quälte sich Olly fast täglich. Es war ein seltsames Gemisch von frühzeitig reifen und wiederum kindisch törichten Gedanken in dem schwarzhaarigen Mädchenkopf.

Am Sonntag, wenn Papa sich seiner Familie mehr widmen konnte, empfand sie die innerliche Kluft, die sie von den anderen trennte, doppelt. Papa war Sonntags stets guter Laune. Er neckte Senta, interessierte sich lebhaft für Rudis Arbeiten zum Abiturientenexamen und ließ sich sogar herbei, mit Herbertchen an den Turngeräten auf dem Gartenplatz die Muskelstärke zu prüfen. Für Olly hatte er am Sonntag ganz besonders häufiges Kopfschütteln und Ermahnungen. Denn gerade in seiner heiteren Feiertagsstimmung empfand er ihr ablehnendes, unzugängliches Wesen um so störender.

Nur der allwöchentliche Mittagsgast söhnte das junge Mädchen mit den Sonntagen, an denen ihm die Stunden zu schleichen schienen, aus. Dieser Sonntagsgast war Wolfgang Steinhardt. Wenn der Freund da war, stand Olly nicht mehr abseits von den anderen. Er richtete das Wort an sie, er bildete die Brücke, die sie wieder mit Papa und den Geschwistern verband. Ja, es war sogar vorgekommen, daß Olly einmal über ein lustiges Wort des jungen Ingenieurs ganz richtig gelacht hatte. Hell und jung, wie das ihren sechzehn Jahren zukam. Ganz betroffen hatten sich die anderen bei diesem ungewohnten Ton angesehen. Keiner hatte Olly seit Mamas Tod lachen gehört. Sie aber war errötend in den Garten hinausgelaufen.

Heute freute sich Olly ganz und gar nicht auf den Sonntag. Nicht nur, daß sie böse auf Wolfgang war, sie war auch mit sich uneinig, wie sie ihn anreden sollte. Da sie nun einmal in ihrem Ärger »Sie« zu ihm gesagt, mochte sie nicht wieder zum »Du« zurückkehren. Nein, »du« sagte sie bestimmt nicht mehr! Ihre Freundschaft miteinander war aus! Und »Sie«? Wenn er sie nur nicht neulich deswegen ausgelacht hätte! Sie würde ihn einfach gar nicht anreden, ja gewiß, er war jetzt Luft für sie!

Als Olly herzklopfend das Wohnzimmer betrat, saß Wolfgang mit Papa im eifrigen Gespräch über eine neue Maschinenzeichnung.

»'n Tag«, brummte Olly, ohne ihm die Hand zu geben.

Er merkte es in seinem Eifer gar nicht. Er redete von Rädern, Spulen und Hebeln, zeichnete und rechnete.

Rudi las die Zeitung, Senta gähnte, und Herbertchen fing Fliegen.

Olly hatte sich hinter Wolfgang gestellt. Sobald sie etwas von Maschinen hörte, war ihr Interesse geweckt. Sie verstand zwar durchaus nicht alles, was er da vor Papa entwickelte und zeichnete, aber sie vermochte doch immerhin einigen seiner Ausführungen zu folgen.

Jetzt war er fertig. Papa nickte beifällig mit dem Kopf. Olly stand ganz vertieft da.

»Wieso meinst du« – nein, sie wollte ja nicht mehr »du« zu ihm sagen – »wieso meinen Sie« – wie die anderen jetzt alle grinsten – »wieso meint man, daß diese neue Maschine die vierfache Arbeit der bisherigen leisten wird? Das habe ich nicht verstanden«, half sie sich stotternd aus der Enge. Sie hatte es in ihrem Eifer ganz vergessen, daß sie ja nicht mehr mit Wolfgang reden wollte.

»Das brauchst du auch wirklich nicht zu verstehen, Kind; sieh lieber nach, ob wir noch nicht essen können«, sagte Papa, seine Pläne zusammenlegend.

Olly entwischte aus dem Zimmer. Es war ihr ganz angenehm, daß erst einige Minuten über ihre merkwürdige Anrede verstreichen konnten, vielleicht hatte man sie inzwischen vergessen.

»Tag, Olly, haben wir uns eigentlich schon begrüßt?« empfing Wolfgang sie, als sie am Mittagstisch wieder auftauchte.

»Keine Ahnung.« Olly zuckte gleichgültig die Achsel.

»Es gehört sich, daß die Tochter des Hauses einen Gast freundlich bewillkommt, Olly«, mischte sich Fräulein Arnold mit leisem Vorwurf ins Gespräch.

»Ich weiß allein, was sich gehört!« begehrte das junge Mädchen, das sich schämte, getadelt zu werden, auf.

»Du weißt es ganz und gar nicht, wenn du in diesem ungehörigen Ton zu Fräulein Arnold sprichst.« Auf Papas Stirn erschien die unheilvolle Falte. »Alt genug bist du allerdings, um so was zu wissen; ich verlange, daß du dich nachher bei Fräulein Arnold entschuldigst.«

Olly warf der Hausdame einen feindseligen Blick zu. Eher biß sie sich die Zunge ab, als daß sie irgend jemand um Entschuldigung bat. Olly mußte sich alle Mühe geben, daß ihr die Tränen nicht ihre Suppe versalzten.

Der Augenblick der allgemeinen Beklommenheit, der einer öffentlichen Rüge stets zu folgen pflegt, war von den Wogen lustiger Unterhaltung längst davongeschwemmt worden. Olly saß mit niedergeschlagenen Augen, erregt an dem Zipfel ihrer Serviette zupfend, einsilbig da.

Das häßliche junge Entlein tat Wolfgang Steinhardts gutem Herzen leid. Auch er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, Olly in Gedanken so zu nennen, der Name paßte zu treffend auf sie.

»Wölfchen, ich habe ›gut‹ unter meinem Aufsatz, du hast auch an dem Ruhm Anteil«, berichtete Senta freudig.

»Und du, Olly?« Er benutzte die Gelegenheit, um das junge Mädel mit ins Gespräch zu ziehen. Es war ihm entgangen, daß ihre Miene sich bei Erwähnung des Aufsatzes noch verfinstert hatte.

»Das geht dich – das geht Sie – das geht keinen was an!« Die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit in der Schule machte ihren Ton noch schärfer.

»Olly . . .« Der Kommerzienrat sah sie mit warnendem Blick an.

»Ei, Olly, noch immer nicht von neulich ausgebockt – na, schlechter als ungenügend wird der Aufsatz ja wohl nicht ausgefallen sein«, neckte Wolfgang harmlos.

Da brach das junge Mädchen plötzlich in Tränen aus, verbarg das Gesicht hinter ihrer Serviette und eilte hinaus.

Verdutzt sahen sich alle an. Keiner verstand diesen plötzlichen Schmerzensausbruch. Nur Senta kannte die Ursache. Aber die mochte nicht reden.

»Es ist mit dem Mädchen wirklich nicht mehr auszuhalten, ich denke allen Ernstes daran, sie in eine Pension zu tun«, meinte der Kommerzienrat sorgenvoll.

»Hat sie denn ›ungenügend‹ gehabt?« Wolfgang wandte sich an Senta. Er versuchte sich vergeblich, den Vorgang zu erklären.

Diese nickte errötend. Dann aber bekam das Gute in ihr doch die Oberhand.

»Eigentlich hätte sie ›sehr gut‹ verdient, aber Doktor Müller hat gedacht, sie hätte sich den Aufsatz machen lassen, darum hat er ihr ›ungenügend‹ runtergeschrieben«, bequemte sie sich zu berichten.

»Na, hat denn der Schafsbock Doktor Müller dabei gelassen?« Rudi nahm es mit seinen Ausdrücken nicht genau.

»Ja, natürlich – die ist doch viel zu faul und zu verstockt, um den Mund zu einer Entgegnung aufzumachen.« Senta lachte schon wieder.

»Weißt du, Sentchen, ich finde, dann wäre es deine Pflicht als Schwester gewesen, dem Lehrer von dem wahren Sachverhalt Mitteilung zu machen.« Wolfgang Steinhardt sah das blonde Mädchen ernsthaft an.

»Ja, Senta, das ist auch meine Meinung!« Kommerzienrat Hildebrandt war ein durch und durch rechtlich denkender Mann.

Senta war wütend. Hätte sie doch bloß geschwiegen. Das kam von ihrer Gutmütigkeit!

»Na, das fehlte mir auch noch, mir um des häßlichen jungen Entleins willen Ungelegenheiten in der Schule zu machen!« sagte sie und schwippte mit den Fingern.

»Was – um wessen willen – wie hast du Olly eben genannt?« Alle, mit Ausnahme von Wolfgang, bestürmten sie mit Fragen.

Der aber blickte sie mahnend, den Finger auf den Lippen, an. Wenn Wölfchen wüßte, daß die ganze Klasse Olly nicht anders mehr nannte!

»Ach – nichts – wirklich gar nichts«, versuchte sie sich herauszureden.

Fräulein Arnold kam ihr zu Hilfe.

»Wie wär's denn, wenn wir nach dem Kaffee einen weiten Spaziergang in die Jungfernheide unternehmen würden?« schlug sie vor, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Au ja« – »famos« – »jetzt im Herbst sind die Laubfarben dort besonders schön« – »wir können ja bis zum Walde das Auto benutzen.« Papa lächelte über die allgemein lebhafte Zustimmung. Weiß der Himmel, Fräulein Arnold traf doch immer das Rechte.

»Wenn sich Olly nicht bis zum Kaffee bei Ihnen entschuldigt hat, bleibt sie zu Haus.« Damit ging Papa in sein Zimmer, um das gewohnte Sonntagnachmittagsschläfchen zu halten. Der Gedanke an Olly verdarb ihm jedesmal seine besten Stimmungen.

Wolfgang schob seinen Arm in den von Senta und Rudi und zog sie mit sich in den Garten.

»Weißt du, Sentchen, geh rauf zu Olly und rede ihr zu, sich zu entschuldigen. Damit sie nicht den ganzen schönen Nachmittag zu Hause hocken muß!«

Senta, die noch eben lächelnd neben dem Freund einherstolziert war, machte sich ungestüm los.

»Nee, so stehen wir beide nicht miteinander, Olly und ich. Ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten.«

»Das hast du ja gestern in der Schule auch bewiesen.« Wolfgang war unzufrieden mit dem jungen Ding.

»Alter Sittenprediger, du bist mir heute zu tranig!« Damit machte das Backfischchen ihm einen schnippischen Knicks, ließ ihn stehen und jagte lachend hinter Herbertchen, der nach der Scheibe schießen wollte, her.

»Wolfgang, kommst du mit?« fragte Rudi, auf die Flinte weisend.

»Nee, ich möchte mich lieber ein wenig ruhen.« Er wollte Senta bestrafen.

»Rücke doch dem alten Großpapa den Lehnstuhl zurecht!« schrie die unverbesserliche Senta übermütig herüber durch die klare, jedes Wort tragende Herbstluft.

»Du kannst dir's in meinem Zimmer bequem machen, Wolfgang.« Damit ging auch Rudi zu dem Schießstand.

Wolfgang Steinhardt war bei Kommerzienrats wie Kind im Hause. Man machte absolut keine Umstände mit ihm. Dadurch gerade fühlte er sich auch so wohl dort. Er stieg zu Rudis Zimmer, das neben dem der Schwestern lag, empor.

Ehe er sich aber auf das Ledersofa niederließ, trat er ans Fenster. Die Aussicht von hier über die Herbstwiesen bis zur Heide, die Olly so liebte, nahm auch ihn stets gefangen.

Er stand und schaute. Da hörte er plötzlich ein unterdrücktes Weinen dicht neben sich, jetzt ein lautes Schluchzen – aha – vorsichtig lugte er um den Fensterpfeiler zu dem angrenzenden Goldgitterbalkon. Eine bunte Wand von Bohnen, Winden und Kressen verbarg ihm die Weinende. Aber er wußte Bescheid, auch ohne das Loch in der Blumenwand, durch das er gerade Ollys schwarzes Haar durchschimmern sah. Sie hatte den Kopf fest gegen ihre Blütenlieblinge gepreßt, als ob die sie in ihrem Jammer trösten könnten.

Jetzt schluchzte sie wieder ganz besonders herzbrechend auf.

Mitleidig streckte Wolfgang die Hand durch das Blütentor und strich sanft und beruhigend über das dunkle Mädchenhaar. Zuerst beachtete Olly es nicht, sie glaubte, es seien die im Nachmittagshauch wehenden Blumen. Dann aber hob sie jäh den Kopf.

Wolfgang hatte keine Zeit mehr, seine Hand zurückzuziehen. Olly hatte sie ungestüm ergriffen.

»Rudi, hältst du wenigstens zu mir?« – Nein, das war nicht des Bruders knochige Knabenhand, das war . . . Ebenso ungestüm, wie Olly die tröstende Hand ergriffen, ließ sie dieselbe jetzt wieder sinken.

»Kindchen, was quälst du dich denn hier so allein?«

Keine Antwort. Nur das krampfhafte Aufzucken der schlanken Gestalt ward ab und zu durch den Blumenvorhang sichtbar. Sie schien sich aufs neue ihrem Jammer hinzugeben.

»Sei verständig und geh' zu Fräulein Arnold, Olly. Papa hat gesagt, er ließe dich heute nachmittag zu Hause, wenn du dich nicht entschuldigst«, klang es überredend aus dem Fenster.

»Nein!« – Hart tönte es vom Balkon zurück.

»Auch nicht, wenn ich dich darum bitte, Olly?«

»Nein.« Das zweite Nein klang lange nicht so schroff wie das erste.

»Glaubst du denn nicht, daß ich es gut mit dir meine?«

»Ich – ich habe es geglaubt – bis neulich – aber jetzt nicht mehr . . .« Die Stimme ging in erneutes Schluchzen über.

»Warum in aller Welt denn aber jetzt nicht mehr?« Wolfgang spähte ratlos durch die Blütenzweige.

»Weil – weil Sie mich – weil man mich mit Senta bei Buschens neulich verspottet hat!«

Ein Erschrecken ging über das scharf geschnittene Männergesicht. Hatte Senta nicht reinen Mund gehalten, wußte das arme Ding von jenem Spottnamen, den er ihr angehängt?

»Sie – ich – man hat mir Blumen an die Nase geworfen und mich noch obendrein ausgelacht.« Es tat Olly wohl, ihrem Herzen Luft zu machen.

Wolfgang atmete erleichtert auf. Sie schien nichts zu wissen.

»Wer wird so empfindlich sein, Olly, ich meine es doch nicht böse, wenn ich dich auch ein wenig necke. Das weißt du doch!«

Olly hob den Kopf und lächelte unter Tränen.

»Ich danke dir, Wolfgang, daß du so gut gegen mich bist,« – sie fand nun wieder das natürliche »du« »und ich bleibe jetzt heute nachmittag sehr gern zu Hause.«

»So willst du mir nicht den Gefallen tun und dich entschuldigen?«

»Jeden anderen, aber – das kann ich nicht!« Olly schüttelte energisch den Kopf.

»Dann gib mir wenigstens deinen Aufsatz zu lesen, für den du ein ›sehr gut‹ verdient hast.«

»Woher weißt du?« Olly stammelte es in errötender Freude.

»Von Senta.« Er zog die Hand mit dem Heft durch die Blumenlücke zurück. Dann lag er auf dem Sofa und las die frühreifen, aus schweren Stimmungen geborenen Gedanken, die in dem unschönen Mädchenkopf erstanden.

Durch den grauen märkischen Sand jagte das Hildebrandtsche Auto dem Waldesduft entgegen. Eine Wolke von Staub und Benzindunst folgte ihm. Drinnen merkte man nichts davon. Lachen und Kreischen erschallte.

»Gut, daß Olly nicht mit ist, dann wäre es noch enger«, sagte Herbertchen, den man zwischen den Damen auf dem Vordersitz eingeklemmt hatte, während auf dem Rücksitz die drei Herren vergeblich bemüht waren, sich so dünn wie nur irgend möglich zu machen.

Noch einer gedachte der einsam Daheimgebliebenen, das war Wolfgang Steinhardt. Während die blonde Senta ihn übermütig wegen seines Weltschmerzes aufzog, mußte er immer wieder an jenes häßliche, schwarzhaarige Mädchen denken, das so tief die Zurücksetzung empfand. Man tat unrecht an dem jungen Kinde – ob er mal mit dem Kommerzienrat sprach oder mit Senta?

Die, der diese ernsten Gedanken galten, saß inzwischen in stillem Sinnen zwischen ihren Blumen auf dem Balkon. Zum erstenmal fühlte sie wieder etwas wie Freude und Glücksempfinden in sich erwachen. Senta hatte doch der Wahrheit die Ehre gegeben, die Schwester war nicht so treulos zu ihr, wie es bisher geschienen! Und Wolfgang – ach, der war so gut zu ihr gewesen – so gut . . .

Olly lächelte still vor sich hin.

Nur die wehenden Blüten sahen, wie merkwürdig dies Lächeln ihr Gesicht verschönte.



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