Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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4. Kapitel.

Das häßliche junge Entlein

ommerfäden, lichtes, zart weißes Gespinst flog von der Heide her über die sich bräunlich färbenden Wiesen. Aber an dem großen Fabrikgebäude, vor dem unbarmherzig schwarzen Ruß zerflatterten die letzten Grüße des Sommers.

Olly blickte in den tiefblauen Himmel. Hier und da ein silbernflaumiger Streifen, als ob der himmlische Maler nur gerade seinen Wolkenpinsel daran ausgewischt. Der Garten stand im goldenen Herbstkleide, Astern und Georginen blühten. Lustig bunte Papierwimpel wehten von den Laubenkolonien, in weitem Bogen schossen die Schwalben darüber hin. Sie sammelten sich schon zur Winterreise.

Alles so schön – so wunderschön war die Welt, und nur sie allein darin häßlich und garstig! Olly hatte einen ausgeprägten Schönheitssinn, nie empfand sie die eigene Häßlichkeit mehr, als wenn sie die harmonische Schönheit der Natur in sich aufnahm. Darum kam sie selbst unter Gottes freiem Himmel nicht zu einem reinen Genießen, sogar die Freude an der Natur verbitterte sie sich selbst.

»Wer doch so schön wäre wie ihr!« Mit weichen Fingern strich sie über ihre Balkonblumen, hier ein gelbes Blättchen lösend, dort ein Hälmchen Unkraut auszupfend.

»Olly – Olly . . .« Sentas helle Stimme erklang aus ihrem gemeinsamen Zimmer.

»Was ist denn los?« Ziemlich brummig und verdrossen kam es vom Balkon zurück.

»Du, Olly, du hast ja deine Geometrieaufgaben noch nicht gemacht.« Senta kümmerte sich sonst wenig um Ollys Schularbeiten. Aber mit der verzwickten Geometrie wurde sie allein nicht fertig. Da war es ihr ganz wertvoll, von Olly, die für Rechnen begabt war, ein wenig abzuschreiben.

Die ältere Schwester antwortete nicht. Aber das war Senta nichts Neues. Olly war meistens wortfaul.

»Morgen setzt es wieder einen Tanz mit Doktor Elbing wie voriges Mal, wo du nicht gearbeitet hattest!« rief sie.

»Das geht dich nichts an!« Die Ältere hatte es abweisend hervorgestoßen. Gleich darauf aber biß sie sich erschreckt auf die Lippen.

Was hatte sie sich neulich an jenem Sonntag, als Senta es bei Tisch erzählt, daß die Schwester eigentlich ein »sehr gut« unter ihrem ungenügenden Aufsatz verdient hatte, gelobt? Sie wollte nicht mehr unfreundlich gegen Senta sein, und auch zu den übrigen nicht, sie wollte versuchen, sich die Herzen der Ihrigen durch Liebe zu gewinnen. Seit wieder jemand so gut und herzlich mit ihr gesprochen wie Wolfgang Steinhardt neulich, empfand das liebebedürftige Herz Ollys mehr als je den Wunsch nach der Zuneigung des Vaters und der Geschwister.

Aber die Kluft, die sich seit Jahren zwischen ihr und den übrigen Familiengliedern aufgetan, ward nicht so leicht überbrückt. Vor einem spöttischen Wort, ja, nur vor einem verwunderten Blick erlahmte Ollys guter Wille sofort.

Jetzt nahm sie wieder einen Anlauf zu einem besseren Einvernehmen mit der Schwester, ihre schroffe Abweisung tat ihr heimlich leid.

»Was verstehst du denn nicht?« fragte sie, in das Zimmer tretend, denn sie wußte sehr wohl, daß Sentas Sorge um ihre Arbeit lediglich eigenem Interesse entsprungen.

Senta war nicht stolz, wenn es galt, sich helfen zu lassen. Sie stützte den hübschen Blondkopf auf, sah Olly verzweifelt an und stöhnte herzbrechend.

»Gott, tu' bloß nicht so!« wollte es Olly schon wieder entfahren, denn Sentas schauspielerischen Talente waren ihr vertraut. Aber sie schluckte es, ihrer Vornahme eingedenk, noch schnell herunter und rückte sich einen Stuhl an den zierlichen weißen Schreibtisch. Bald neigten sich der schwarze und der blonde Mädchenkopf eifrig über das mit Zahlen bedeckte Heft.

Die lustig durcheinander piepsenden Spatzen da draußen in ihren rußgeschwärzten Grauröckchen, die sich keck wie Berliner Straßenjungen bis auf den Balkon wagten, ahnten es nicht, daß dieses schwesterliche Einvernehmen nur eine Ausnahme bildete. Es sollte denn auch nicht von langer Dauer sein.

Diesmal war Olly unschuldig daran.

Als Senta an der geometrischen Klippe, an der sie fast gescheitert, glücklich vorbei war, war es auch mit ihrer Dankbarkeit gegen die Schwester vorbei. Ja, sie ärgerte sich sogar, daß »das häßliche junge Entlein«, das allgemein verlacht und hintenangesetzt wurde, irgend etwas besser verstand als sie.

»Spar' dir nur deine Kenntnisse für die morgige Geometriestunde, daß du nicht wieder dasitzt wie aus Dummsdorf, als ob du nicht bis drei zählen kannst!« unterbrach sie plötzlich Ollys Auseinandersetzungen höhnisch.

Olly sah sie groß an, mit Augen, die den jähen Stimmungswechsel gar nicht verstanden.

Dieser Blick war Senta unangenehm. Sie empfand ihr Unrecht und ließ es, wie man es ja leider oft tut, an dem anderen aus.

»Naja, Doktor Elbing hat doch erst neulich zur Klasse gesagt: ›Pst – seien Sie still – Olly Hildebrandt schläft wieder mal, wir wollen sie nicht wecken‹ –, denkst du, es ist angenehm für mich, wenn unser Name immerfort lächerlich gemacht wird?!« rief sie ärgerlich.

Über Ollys blasses Gesicht jagte eine Blutwelle. Das war der kritische Augenblick, den die übermütigen Geschwister stets zu benutzen pflegten, um sie mit einem hänselnden »Kß – kß – kß – kß« völlig in Wut zu setzen.

Auch jetzt konnte Senta der Lust nicht widerstehen, Olly zu reizen.

»Kß – kß – kß«, zischte sie, daß all ihre weißen Zähnchen zum Vorschein kamen.

Da kam Leben in Ollys Starre. Ohne zu wissen, was sie tat, hob sie die Hand und ließ sie klatschend auf Sentas rosige Wange niedersausen.

Das war seit ihrer Kinderzeit nicht mehr vorgekommen. So schlecht sie sich auch vertrugen, und so wenig schwesterlich das Verhältnis auch war, geschlagen hatten sie sich, seitdem sie die Kinderschuhe ausgezogen und in das Backfischalter getreten, niemals. Meist ließ sich Olly stillschweigend und verstockt alle Sticheleien gefallen, höchstens weinte sie Tränen ohnmächtiger Wut.

Um so entsetzter war Senta über diesen unerwarteten Angriff. Laut aufweinend, die Hände gegen die flammendrote Wange gepreßt, lief sie aus dem Zimmer. In der Tür wandte sie sich noch einmal zurück.

»Häßliches junges Entlein!« Olly zuckte unter dem Ton der Schwester schmerzhafter zusammen als Senta soeben unter ihrem Schlage.

Dann flog die Tür zu. Olly war allein.

Allein mit einer ganz merkwürdigen Empfindung. Das befreiende Gefühl, die Schmähreden Sentas endlich einmal gerächt zu haben, das die Ohrfeige zuerst in ihr ausgelöst, war brennender Scham gewichen. Das junge Mädchen schämte sich unsagbar, daß sie sich so hatte hinreißen lassen können. Dazu kam das Weh über die Worte, die ihr Senta noch zuletzt entgegengeschleudert.

Wie war es doch gewesen?

»Häßliches . . .« nur auf dies eine Wort konnte Olly sich besinnen, das andere hatte das Sausen und Brausen ihres zornig erregten Blutes übertönt. Aber es genügte auch. Es genügte, daß Olly in tränenlosem Schmerz auf Sentas Geometrieheft starrte, der unschuldigen Ursache zu ihrem Streit. Ihre eigenen Aufgaben zu machen, daran dachte sie nicht mehr.

Sie grübelte, wie es nur möglich war, daß sie dieses eine kleine Wort »häßlich«, von dessen Wahrheit keiner mehr überzeugt war als sie selbst, so ins Innerste treffen konnte. Dann überlegte sie, wie schwer es doch war, gut zu sein. Sie hatte sich heute alle Mühe gegeben, nett gegen Senta zu bleiben, und dadurch gerade waren sie so böse aneinandergeraten. War es da denn nicht besser, sie sprach überhaupt nicht, war unfreundlich und abstoßend wie gewöhnlich? Wenigstens wurden so scharfe Auftritte wie der heutige vermieden.

Olly wußte nicht aus noch ein vor den gegen sie anstürmenden Gedanken. Sie empfand, daß nicht alles richtig war, was sie dachte. Wenn doch einer, den sie lieb hatte, zu dem sie Vertrauen haben konnte, ihr den richtigen Weg aus diesem Gedankenlabyrinth gewiesen! Wenn sie sich doch jetzt in ihrer Not an ein verständnisvolles Mutterherz hätte flüchten können!

Schritte auf der Treppe. Der dicke Teppich dämpfte sie, aber Olly hörte doch, daß sie sich ihrem Zimmer näherten.

Sicher Papa! Gewiß hatte Senta sie bei Papa verklagt, und er kam jetzt, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Aber Olly empfand keine Angst davor. Feigheit lag ihr fern. Im Gegenteil, sie wollte Papa alles erzählen, wie es gekommen, auch daß es ihr jetzt leid tue. Vielleicht verstand er sie, vielleicht war er heute gut gegen sie, ihr schöner, stattlicher Papa, nach dessen Zuneigung sie sich so sehnte.

Die Tür wurde geöffnet – Fräulein Arnold trat ins Zimmer. Mit strafendem Gesicht ging sie auf Olly zu. Diese fühlte alle weichen Gefühle, die sie noch soeben durchdrungen, beim Anblick der ihr unsympathischen Hausdame schwinden. Trotz und Verstocktheit lagerten sich auf der Mädchenstirn.

»Schämst du dich denn gar nicht, du großes Mädel, dich gegen deine Schwester so unerhört zu benehmen?!« begann sie.

Olly, die sich soeben noch ganz entsetzlich ihrer Handlungsweise geschämt hatte, fühlte bei den Vorwürfen Fräulein Arnolds keine Spur von Reue mehr. Nur stumme Auflehnung drückte ihr Wesen aus.

»Ich werde Papa von deinem unglaublichen Benehmen in Kenntnis setzen . . .«

»Ich lasse mich nicht von einer Fremden abkanzeln, daß Sie's nur wissen – ich bin ein fast erwachsenes Mädchen – bald siebzehn!« Das war wieder ganz die in ihren Ausbrüchen ungezügelte Olly, mit der noch keine Hausdame fertig geworden.

»Ja, so benimmst du dich auch – ganz wie ein erwachsenes Mädchen!« Fräulein Arnold verließ das Zimmer.

Ollys geballte Hände sanken schlaff herab. Ihrer Heftigkeit folgte tiefe Niedergeschlagenheit.

Wenn doch Fräulein Arnold das Haus wieder verlassen würde!

Ein Gedanke kam Olly plötzlich. Ein heller, verlockender Gedanke. Ostern hatte sie ihre Schulzeit beendigt, dann wollte sie Papa bitten, Fräulein Arnold zu entlassen und überhaupt keine Hausdame mehr zu engagieren. Dann wollte sie selbst versuchen, dem Hause die verstorbene Mutter zu ersetzen. Mit etwas gutem Willen würde es schon gehen. Daß sie alles andere eher als guten Willen besaß, daran dachte Olly nicht.

Ihr Zukunftsplan brachte sie ein wenig über die unerquickliche letzte Stunde hinweg. Sie saß und träumte, wie dann alles werden würde. Ach, am Ende würde Papa sie dann auch ein wenig lieb haben, so häßlich sie auch war, wenn er sah, daß sie sich für ihn mühte und sorgte. Und die Geschwister würden sich dann mit allem an sie wenden müssen, sie wollte ja so gern auf die Wünsche eines jeden eingehen. Dann würde man nicht mehr auf sie herabblicken und sie verspotten, wenn sie etwas leistete. Sie war dann die Seele des Hauses, die treibende Kraft der komplizierten Wirtschaftsmaschine.

»Olle, du sollst zu Papa ins Bureau kommen, aber dalli!« Herbertchen steckte den lockigen Blondkopf zur Tür herein. Er nannte die große Schwester oft »Olle«, um sie zu ärgern, und heute, wo Fräulein Arnold und Senta so böse auf sie waren, machte er natürlich gleich gemeinsame Sache mit der Gegenpartei.

»Dalli, Olle!« drängte er noch einmal, da sie sich nicht rührte, und gab dann plötzlich Fersengeld. Olly hatte sich erhoben, und der Kleine fürchtete wohl, von ihrer heutigen Schlagfertigkeit auch noch eine Probe zu erhalten.

Aber die Schwester dachte nicht daran.

»Die treibende Kraft der Wirtschaftsmaschine«, als die sich Olly noch soeben geträumt, ging langsam, ganz langsam, als ob sie nicht einmal die Kraft hätte, sich selbst zu treiben, die Treppe in das Untergeschoß hinab. Wenn Papa sie in sein Bureau rufen ließ, dann stand es schlimm. Olly wußte, wie böse Papa werden konnte.

Als sie durch den sonnenbeflimmerten Garten schritt, erblickte sie unter dem großen Birnbaum Fräulein Arnold und Senta. Auf einer Leiter aber stand, mit dem Obstheber bewaffnet, der lange Rudi und pflückte den Damen die herrlichen Früchte.

Es war zu spät, einen Bogen um ihre Gegnerinnen zu machen. So schritt Olly erhobenen Hauptes, gravitätisch wie der Hahn drüben im Hühnerhof, an der Gruppe vorbei. Da sauste es unweit ihrer hochgetragenen Nase vorüber. Rudi, der übermütige, hatte gut gezielt. Der Birnenstiel streifte gerade noch ihr nicht eben kleines Näschen.

Die möglichst Gleichmut zur Schau tragende Miene Ollys wurde bitterböse.

»Du, Olly, ziehe dir doch meinen Winterüberzieher an, der ist dick, da fühlst du Papas Wichse nicht so durch«, schallte es noch neckend von dem Birnbaum herab hinter ihr her.

Tränen schossen in die schwarzen Mädchenaugen. Alle hackten auf ihr herum, selbst Rudi war jetzt immer so eklig zu ihr!

Auch der gutmütig ehrerbietige Gruß der ihr in den Fabrikhöfen begegnenden Arbeiter vermochte sie nicht zu trösten. Man hatte das junge, häßliche Fräulein, das nie stolz tat, sondern diesen und jenen, den sie noch aus ihrer Kinderzeit her kannte, oft freundlich nach seiner Familie befragte, in der Fabrik allgemein gern.

Lange Reihen von Kohlenwagen zogen an ihr vorüber. Aus den Maschinenräumen schallte ohrenbetäubender Lärm. Rußgeschwärzte Gesichter tauchten auf, feuriger Funkenregen prasselte hernieder. Aber all das, was Olly sonst mit lebhaftem Interesse erfüllte, das Zischen, Schnaufen und Zucken der gewaltigen Maschinenkörper, heute ließ es sie gänzlich teilnahmlos.

Sie trat in den einstöckigen, den Fabriksälen angegliederten Bau, in dem die Bureauräume lagen. Um in das Privatkontor des Vaters zu gelangen, mußte sie die Ingenieurzimmer durchschreiten.

Das war das schlimmste an der ganzen Sache. Wolfgang Steinhardt würde es merken, daß sie etwas ausgefressen hatte und nun wie ein Gör von Papa abgekanzelt wurde. Ach, wie sie sich schämte!

Sie hielt die Augen gesenkt, als sie die Zimmer, in denen fünf oder sechs Ingenieure eifrig über ihre Zeichnungen und Berechnungen saßen, durcheilte. Ihr »guten Tag« klang so leise, daß selbst Wolfgang nicht von seiner Arbeit aufblickte. Ungesehen kam sie hindurch.

Papas Privatbureau hatte stets etwas Beklemmendes für die Hildebrandtschen Kinder. Die schweren Möbel, die dunklen, wuchtigen Ledersessel, die vielen großen Bücher und Folianten, all das wirkte ernst und streng. Auch Papa pflegte in dieser Umgebung niemals so freundlich und heiter auszusehen wie drüben in der Villa. Er hatte hier seine Arbeitsmiene aufgesetzt, ernst und streng wie das Zimmer. Selbst Senta, sein Liebling, wagte hier kaum ihre Zärtlichkeiten und kleinen Schmeicheleien. Dazu kam, daß die Kinder fast nur das Bureau betraten, wenn ihnen irgend etwas Unangenehmes bevorstand. Wenn ein Lehrer sich beklagt hatte oder die Hausdame; Papas Privatbureau war mit einer Strafpredigt aufs innigste verwachsen.

Heute wirkte es ganz besonders düster und streng auf die herzklopfend eintretende Olly, und der rasche Seitenblick, den sie zu Papas Gesicht hinwarf, offenbarte wenig Gutes.

Vorläufig kümmerte sich Papa nicht um sie. Er saß da, schrieb und schrieb. Mit jedem Federzug auf dem knisternden Bogen wurde es Olly schwüler zumute.

»Du hast mich rufen lassen, Papa«, wagte sie nach einer ganzen Weile leise zu sagen.

Papa wandte sich um und zog die Augenbrauen zusammen. Ein schlechtes Zeichen, dann war er sehr böse.

»Mir sind ganz unerhörte Dinge zu Ohren gekommen«, begann er vorläufig ruhig. »Senta kam schluchzend zu mir mit brennendroter Backe, so hast du sie geschlagen – eine Schwester schlägt die andere, ein fast erwachsenes Mädchen, das eine gute Erziehung bekommen hat – ja, bist du denn ganz von Sinnen, Olly?« Des Kommerzienrats Stimme war drohend angeschwollen.

Angstvoll sah Olly nach der Tür – Herrgott, das mußten ja die Ingenieure nebenan hören, jeden Ton mußte Wolfgang Steinhardt vernehmen. Sie hatte die Worte des Vaters gar nicht erfaßt, nur seine heftige Stimme.

»Da stehst du nun wieder stumm und steif und verstockt, ich weiß es nicht, wie ich zu solch einer Tochter komme!« Papa stieß es mit einem tiefen Seufzer hervor.

Es zuckte Olly in den Gliedern, zum Vater hinzueilen, die Arme um seinen Hals zu schlingen, wie Senta es zu tun pflegte, alles Weh an seiner Brust auszuweinen und Besserung zu geloben. Aber die Beine waren ihr so schwer, als ob Zentnergewichte daran hingen, sie vermochte sie nicht von der Stelle zu heben. Und der zuckende Mädchenmund, der die Worte »es tut mir leid« aussprechen wollte, brachte keinen Ton hervor.

Papa merkte nicht, wie sie kämpfte.

Er hatte sich jetzt erhoben. Trotzdem Olly hoch aufgeschossen war, überragte der Vater sie noch um Kopfeslänge. Wie stattlich und schön ihr Papa war, es kam ihr selbst in diesem Augenblick wieder zum Bewußtsein. Sie hätte ihn bitten mögen: »Schilt mich, aber habe mich wenigstens lieb!« wenn ihr Stolz es zugelassen hätte, um Liebe zu betteln.

»Nicht einmal ein Wort der Entschuldigung hast du für dein unglaubliches Benehmen, und das Schlimmste von allem« – Papas Stimme wurde vor Erregung wieder lauter –, »daß du sogar gegen Fräulein Arnold respektlos und ungezogen gewesen bist! Gegen diese liebenswürdige Dame, die dir in gütiger Weise Vorstellungen gemacht hat . . .«

»In gütiger Weise – hahahaha.« Olly hatte Papa unterbrochen und bitter aufgelacht. Aber ihr Lachen klang in ein seltsames Schluchzen aus.

»Du lachst, wenn ich böse bin? Ich will dich nicht mehr sehen, in den nächsten Wochen kannst du in deinem Zimmer essen – marsch!« Das war jene Stimme, vor der die Arbeiter zitterten, die ab und zu unheilvoll bis zur Villa herüberschallte. Der Kommerzienrat zeigte gebieterisch nach der Tür.

Den Kopf in die Schultern gezogen, so schlich sich Olly hinaus.

Nur Wolfgang Steinhardt war im ersten Ingenieurzimmer. Die anderen hatten es bei des Kommerzienrats aufgebrachter Stimme vorgezogen, lieber ein Zimmer weiter zu gehen.

»Olly, armes Kind, was hat's denn gegeben?« Wolfgang legte die Hand auf die Schulter des vorübereilenden jungen Mädchens und sah sie voll Mitleid an.

Aber Olly konnte jetzt keinem Rede und Antwort stehen. Der Schmerz über Papas letzte Worte war zu groß.

Unsanft machte sie sich frei, und mit einem kurzen: »Ach, laß mich!« war sie davon.

Sie lief und lief, unbekümmert um die erstaunt neugierigen Mienen der Angestellten. Ganz hinten im Garten machte sie erst halt. Unter dem Reinettenbaum, ihrem Lieblingsplatz, dem »Schmollwinkel«, wie die Geschwister ihn getauft. Dicht am Stachelzaun, verdeckt von den Johannisbeerbüschen, hatte sie sich aus welkem Laub einen Sitz geschichtet. Dort saß sie und blickte mit brennenden Augen in den goldenen Herbsttag.

Papa wollte sie nicht mehr sehen!

Sie, ein bald siebzehnjähriges Mädchen, wurde wie ein ungezogenes Kind gestraft! Sie verbarg das Gesicht in den Händen, sie schämte sich vor der sie mit flimmernden Strahlenfingern streichelnden Sonne.

Schrilles Tuten ließ Olly aus ihrem schmerzhaften Grübeln emporfahren.

Feierabend.

Hunderte von Arbeitern zogen, nach dem Aufenthalt in den dunstigen Fabriksälen die herb frische Spätsommerluft in langen Zügen einatmend, heimwärts. Lachen und Scherze erschallten, Stimmen von Kindern, die den Vater aus der Fabrik abholten. So manchen sehnsüchtigen Blick aus Kinderaugen hatte Olly öfters aufgefangen, zu der schönen Rokokovilla hin, zu dem herrlichen Blumen- und Obstgarten und den feingekleideten Kommerzienratstöchtern. »Die haben's mal gut!« stand deutlich in den bewundernden Kinderaugen zu lesen. Ach, Olly hätte ja gern mit dem ärmsten getauscht, das der Vater zärtlich in seine Arme nahm!

Immer mehr, immer neue Scharen strömten heraus, Olly empfand die Größe des gewaltigen Betriebes, dem ihr Vater vorstand. So viele Hände einten sich zu einem Werke, so vielen gab die Fabrik den Lebensunterhalt. Der Wunsch regte sich in dem Mädchenherzen, den Leuten, die da all ihre Kräfte für die Arbeit des Vaters einsetzten, es mal später durch Vergünstigungen im Alter, durch tatkräftiges Sorgen für ihre Kinder danken zu können. Drüben, in der großen Gewehrfabrik, gab es Arbeiterhäuser mit freundlichen Gärten davor, ein großes Haus, in dem die Alten, Arbeitsunfähigen in Frieden den Feierabend ihres Lebens genießen durften. Das war es, wovon Olly oft träumte: Ihre liebe Fabrik sollte auch ein Segen für viele werden!

Die langen Reihen hatten sich allmählich gelichtet, nur vereinzelt kamen noch einige Nachzügler. Die Maschinenmeister, die Werkführer, das Bureaupersonal, die Ingenieure. Nun würde auch Wolfgang Steinhardt bald heimgehen.

Sie kannte seinen Schritt. Gleichmäßig und hart klang er auf dem gepflasterten Steig. Er kam näher, aber dazwischen tönte noch eine andere Gangart, leichtfüßig, schnell, fast hüpfend. Er war nicht allein.

Unweit des Reinettenbaumes blieb Wolfgang Steinhardt stehen.

»Nun sage bloß mal, Sentchen, was war denn heute Nachmittag bei euch los? Erst kommst du heulend zum Papa gelaufen, hinterher Fräulein Arnold mit empörtem Gesicht, und den Schluß macht unser häßliches junges Entlein, ganz geknickt und flügellahm. Papa hat entsetzlich mit ihr geschimpft, was hat das arme Mädel denn nur wieder begangen?« so hörte die dicht am Stachelzaun hockende Olly die Stimme Wolfgangs.

Es war ihr, als ob eine eisige Hand plötzlich nach ihrem warmen Herzen griff und es zusammenpreßte, als ob all die spitzen Stacheln des Zaunes, der sie verbarg, sich in ihr Herz hineingruben. Sie hätte vor Weh aufschreien mögen. Da war es, das Wort, das ihr Senta heute wuterfüllt entgegengeschleudert, auf das sie sich nicht besinnen gekonnt! Aus dem Munde des einzigen Menschen, von dem sie geglaubt hatte, daß er ihr wohlwollend gesinnt sei, tönte es ihr jetzt aufs neue entgegen! Olly preßte das Taschentuch gegen den Mund, damit kein Laut die heimliche Lauscherin verrate.

»Ja, nimm sie nur noch in Schutz, das häßliche junge Entlein,« das war Sentas aufgebrachte Stimme, »geschlagen hat sie mich, das rohe Ding, und gegen Fräulein Arnold ist sie mehr als unverschämt gewesen! Hoffentlich hat Papa sie tüchtig abgekanzelt!«

»Ihr behandelt das Mädel falsch, durch Strenge und Härte macht ihr sie nur noch rebellischer. Olly ist einzig und allein durch Liebe zu gewinnen, glaube es mir, Senta! Versuche es doch mal, schwesterlich und liebevoll zu ihr zu sein, wie es in den Wald hineinschallt, schallt es auch wieder heraus. Du sollst mal sehen, sie ist nicht unempfänglich gegen Güte und Liebe!«

»Na, das sollte mir einfallen, auch noch liebevoll zu der zu sein, wo sie immer so gemein gegen mich ist, nee, Wölfchen, das kann dein Ernst nicht sein!«

Olly hörte nicht, daß die Stimmen sich entfernten, sie hatte überhaupt nichts weiter vernommen, was die beiden gesprochen. Ihr Bewußtsein war an Wolfgang Steinhardts Wort »unser häßliches junges Entlein« hängen geblieben. Das schrillte ihr noch immer ins Ohr, als es schon längst im Luftraum verhallt war.

»Häßliches junges Entlein« – der Wind, der in den Blättern des Apfelbaumes flüsterte, rief es ihr hohnlachend zu, die Spatzen ringsum schirpten es kreischend in die Luft, die Abendsonne brannte es mit glühender Purpurschrift ihr wie ein Kainszeichen auf die Stirn.

»Das häßliche junge Entlein« nannte man sie, man spottete und lachte heimlich über ihre Häßlichkeit!

Olly brach in ein wildes, trockenes Schluchzen aus, sie fand keine Träne.

Die Sonne ging hinter dem düsteren, großen Fabrikschlot zur Ruhe, in der Rokokovilla glänzten Lichter auf. Dort saß man jetzt in angeregter Unterhaltung beim Abendbrot. Olly war das Essen auf Papas Anordnung in ihr Zimmer geschickt worden.

Das junge Mädchen wußte nicht, wie lange es unbeweglich unter dem Reinettenbaum gesessen. Empfindliche Abendkühle ließ es zusammenschauern. Olly sah auf. Dunkel, alles dunkel ringsumher, wie es auch in ihr war. Da war nirgends ein freundliches Licht, das dem einsamen Mädchenherzen Wärme und Helle spendete.

Nirgends? Doch, aus dem väterlichen Hause schimmerte es hell und traulich. Als ob es dem verzagten jungen Menschenkinde den Weg weisen wollte, den es gehen mußte, um nicht mehr allein und verdüstert zu sein. Aber Olly schlug den Weg nicht ein. Papas Strenge stellte sich als ein unüberwindliches Hindernis ihr entgegen. Mit steifen Gliedern schlich sie sich um das Haus herum zum Hintereingang und zu ihrem Stübchen hinauf.

Die bereitstehende Abendmahlzeit blieb unberührt, Olly war der Hals wie zugeschnürt. In dem Eckspindchen, das ihre Kinder- und Mädchenbücher enthielt, begann sie mit rascher Hand zu kramen. Da – da war es, was sie suchte. Ein einbandloses, zerlesenes Buch – Andersens Märchen. Mama hatte den Kindern oft daraus vorgelesen. Dann hatte es Herbertchen in die zerstörenden Finger bekommen. Erst vor kurzem hatte Olly es wieder ihrer Bibliothek eingereiht. Was Mama mit ihren schlanken, weißen Händen berührt hatte, sollte wert gehalten werden.

Ollys schönste Kindererinnerungen waren mit diesem Buche verknüpft. Sie sah sich wieder, ihr Stühlchen ganz dicht neben den Sitz der Mutter gerückt, den dunklen Kopf gegen das lichte Frauengewand geschmiegt. So lauschte sie mit großen Augen den wunderbaren Geschichten, welche auch ihr Mütterchen mehr als alle anderen Märchen liebte. So oft sie nach Mamas Tode ihr altes Märchenbuch aufgeschlagen, glaubte sie wieder die weiche, melodische Stimme der geliebten Mutter zu vernehmen. Aber heute sprach die Erinnerung nicht zu ihr, die Vergangenheit schwieg, um so lauter aber redete die Gegenwart.

»Das häßliche junge Entlein« – – mit brennenden Augen starrte Olly auf den Titel des vor ihr liegenden Märchens.

Dann begann sie zu lesen.

Ja, so war's – ganz so! Kein Name hätte besser auf sie gepaßt.

Groß und häßlich, von ganz anderer Art als die zierlichen, schönen Entlein des Hofes, verlacht und verhöhnt, zurückgesetzt und herumgestoßen, von keinem verstanden, gebissen und fortgejagt, selbst von den Geschwistern – war es nicht ganz dasselbe mit ihr? Man brauchte nicht auf einem Entenhof geboren zu sein, um all diese Schmerzen zu durchleben, man konnte sie geradeso in einer Kommerzienratsvilla empfinden!

Ein dichter Schleier begann sich Olly vor die Augen zu legen, langsam löste sich Tropfen um Tropfen von ihren dunklen Wimpern.

Die ersten befreienden Tränen. Den Druck, der auf der jungen Brust lag, das Knäuel, das ihr die Kehle zusammenpreßte, wuschen sie nach und nach fort.

Wieder knisterten die Seiten. Blatt um Blatt schlug Olly voll Erregung um, als ob es ihr Schicksalsbuch sei, das sie durchblätterte.

Ein Schwan – ein edler Schwan war aus dem armen, mißhandelten Entlein geworden! Schöner und herrlicher als alle die, welche es verspottet hatten, ward das kleine, zurückgesetzte Entlein!

Mutlos ließ Olly das Buch sinken.

So ging's im Märchen – nur im Märchen! In der Wirklichkeit, da blieb man, was man war, da wurde aus einem grauen, häßlichen Entlein niemals ein blendend weißer, stolzer Schwan!

Olly fröstelte zusammen und schloß die Balkontür. Wieder und wieder las sie die Geschichte ihrer kleinen Leidensgenossin, und als sie schließlich mit zerschlagenen Gliedern ihr Lager aufsuchte, um Senta nicht mehr sehen zu müssen, legte sie das alte Märchenbuch gleich einem Heiligtum unter ihr Kopfkissen.

Ihr war zumute wie dem Bettelmann, dem man das letzte Stücklein Brot, das er in den Händen gehalten, mitleidlos entrissen und ihm dafür einen harten Kieselstein gereicht hatte. Leer war es in ihrem Herzen – statt der guten Worte Wolfgangs, die sie darin aufbewahrt, nur der grausam harte Spottname: »Das häßliche junge Entlein!«



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