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Wandervogel

Aus Frühling wurde Sommer. Grüngoldene Lichter huschten im Walde über den Moosboden; leise rauschte es in den schwarzen Wipfeln der märkischen Kiefern. Am Stamm hämmerte geschäftig der Specht; der Pirol flötete, und der graue Schlaubold unter den gefiederten Gesellen rief unermüdlich sein »Kuckuck«. Hoch oben zum blauen Äther schwang sich jubilierend die Lerche.

Horch – was für ein anderer Sang? Aus vielen jungen Kehlen erschallte er – kam näher und näher! Die Vöglein rings verstummten; sie lauschten den frischen Tönen.

»Das Wandern ist des Müllers Lust,
Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern.«

Aha – Meister Specht nickte bedächtig – ihre Kollegen unter den Menschenkindern – die Wandervögel! Die mag es wohl leiden, das gefiederte kleine Volk im grünen Gezweig! Hell stimmte es mit ein in die muntere Weise.

Hallo, da waren sie, ein stattlicher Trupp! Mädel und Jungen in wetterfesten Lodensachen, den Rucksack mit dem eingeschnallten Umhang auf dem Rücken. Hie und da unterbrach ein frisches junges Ding im buntgeblümten Bauernkleid malerisch das Einerlei der Farben. Auf derben Sohlen marschierten sie nach den Klängen ihrer Lieder. Die jungen Augen blitzten und lachten heller als das Sonnengold im Walde, und die Wangen blühten purpurner als die Lichtnelken im Moos zu ihren Füßen.

Voran ein fast erwachsenes junges Mädel, Lenas Schwester Ruth, die Blondzöpfe wie eine goldene Krone auf dem Kopf, im Arm die Zupfgeige mit den lustig flatternden bunten Bändern. Immer neue Weisen – kaum, daß die eine geendigt hatte, entlockte sie ihrer Mandoline eine neue. Unermüdlich stimmten die Wandervögel ein.

Neben ihr schritt der für den diesmaligen Ausflug feierlich erwählte Führer der Vogelschar, ein lang aufgeschossener Sekundaner. Er trug schwer auf seinen jungen Schultern. Nicht nur die Verantwortung für das Gelingen der diesmaligen Wandervogelfahrt, nein, über seinen Regenumhang hatte er noch den Kochtopf geschnallt, und in dem dickbäuchigen Rucksack schleppte er den Mittagsvorrat für die ganze Gesellschaft.

An jedem Kreuzweg ging sein Blick zurück und suchte die Kleinste des hinter den Führern marschierenden Mädchenquartetts in heimlich fragendem Einverständnis. Aber die lustigen Braunaugen der Zwillingsschwester gaben selten Antwort; meistens hingen sie schwärmerisch verzückt an einer jungen Dame, von deren Seite sie nicht wich.

Hopp! Lachend über einen Graben gesetzt – uff, einen harmlosen kleinen Waldberg emporgekeucht! Hallo, wie die wilde Jagd wieder heruntergesaust! Jetzt weg- und steglos durch feindseliges Brombeergestrüpp – ob der junge Führer sich nicht am Ende verirrt hatte? Manches Hasenfüßchen wälzte heimlich die bange Frage in bangem Herzen.

Aber da – ein allgemeines bewunderndes »Ah«! Die Wildnis öffnete sich; man stand an einem malerisch in grüne Berghänge gebetteten kleinen Waldsee.

»Halt!« erschallte es laut durch die Mittagstille der Natur. Der Führer pflanzte zum Zeichen, daß der erwählte Rastplatz erreicht sei, den grünumkränzten Lodenhut auf seinen Wanderstab.

Im Nu war der junge Führer von dem lustigen Völkchen umringt, das für die diesmalige Fahrt ihm aufs Wort zu folgen hatte. Alles harrte erwartungsvoll seinen weiteren sachkundigen Befehlen.

»Rucksäcke ab – Regenhäute heraus – Lagerplatz herrichten!« Schneidig fielen die Befehle von Ludwigs Lippen.

»Er tut sich mächtig!« Lilli lachte heimlich ihrer Freundin Ilse zu. Offen wagte auch selbst sie heute nicht eine so geschwisterliche Äußerung gegen den Führer, obwohl er ihr Zwilling war.

Munteres Leben herrschte bald auf dem Lagerplatz. Die »Regenhäute« wurden abgeschnallt, über das weiche Moos gebreitet und so eine behagliche Ruhestätte geschaffen.

Lilli und ihre Kränzchenschwestern, alle vier allerliebst in ihren selbstgenähten bunten Bauernkleidern anzusehen, hatten von den Eltern die Erlaubnis erhalten, dem »Wandervogel« beizutreten. Jetzt schleppten sie einen großen Blätterberg herbei. Daraus errichtete das phantastische Backfischchen Lilli ihrer Herzenskönigin, Fräulein Gretchen, der »süßen«, einen Thron unter ihren Getreuen. Denn Lilli Liliputs Schwärmerei für die junge Lehrerin hatte sich noch immer nicht gegeben. Im Gegenteil, sie war erst kürzlich von den Freundinnen als »unheilbar übergeschnappt« erklärt worden.

Lilli kümmerte sich nicht um die Neckereien; selbst die übermütigen Scherze der Jungen ließ sie über sich ergehen. Fräulein Gretchens Lächeln, ihr Dank war überreicher Ersatz dafür.

»Lilli, Sie verwöhnen mich zu sehr,« neckte auch heute die junge Lehrerin, als der kleinen Blonden kein Moospolster weich genug erscheinen wollte, um von der Süßen »besessen« zu werden.

»Ich bin ein gewöhnlicher Wandervogel wie ihr alle und darf keine Vorrechte in Anspruch nehmen.«

»Aber Fräulein Gretchen!« Lillis funkelnde Augen widersprachen lebhaft gegen den »gewöhnlichen« Wandervogel; sie hoben die Auserkorene weit aus der Gemeinschaft aller sonstigen irdischen Wesen empor.

Aber jetzt war es keine Zeit zum Schwärmen. Die jungen Magen sträubten sich knurrend dagegen. In emsiger Geschäftigkeit flatterten die Wandervögel durcheinander. Die Vorbereitungen zum selbstzufertigenden Mittagessen begannen.

»Sammelt Holz vom Kiefernstamme – doch recht trocken laßt es sein,« rief der Führer Ludwig frei nach Schiller einigen seiner eifrig davonfliegenden Vögel nach. »Zur Kochgenossin wähle ich mir« – er machte eine kleine Pause, um den verschiedenen Mädchenherzen Zeit zu lassen, in Erwartung dieses allgemein begehrten Ehrenpostens höher zu schlagen – »Fräulein Lilli Liliput!«

Lilli wurde rot, teilweise aus Freude über die Ehre, zum Teil aus Ärger über den in die Öffentlichkeit posaunten Beinamen.

»Als ob er sich jemals eine andere als seinen Zwilling auswählen könnte,« murrte irgendwo eine enttäuschte Seele.

»Ich glaube, wenn du mal heiratest, Ludwig, nimmst du auch keine andere zur Frau als deine Lilli,« neckte Ilse Gerhard.

Der junge Führer gab keine Antwort. Er war zu sehr in Anspruch genommen.

»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Mittagbrot essen,« rief Lilli, als sie ihn mit krebsrotem Gesicht ein viereckiges Loch in den Waldboden graben sah.

Mittlerweile kamen die Holzsammler zurück, die Arme voll Reisig. Mit richterlicher Miene, als ob das Wohl Europas davon abhinge, prüfte der Führer jedes Ästlein auf seine Trockenheit.

»Iwan – du Kamelogram – das ist ja lauter nasses Zeug, was du mir hier angeschleppt hast! Hole mal gefälligst anderes,« befahl er dem kleinen Russen.

Der aber war vom deutschen Gehorsam gegen den Vorgesetzten noch nicht erfüllt. Er drehte dem ehrfurchtgebietenden Führer lachend eine lange Nase und warf sich faulenzend ins grüne Moos.

»Du, wer nicht gearbeitet hat, bekommt auch nichts zu essen,« drohte Ludwig, das zerkleinerte Holz in das gegrabene Loch versenkend.

Das half. Iwan sprang auf seine Beine und jagte wieder waldein.

Fräulein Gretchen aber, die bisher lächelnd das muntere Treiben um sich herum beobachtet hatte, stand mit drollig entsetztem Gesicht von ihrem Blätterthron auf.

»Himmel – weisen Sie mir Arbeit an, Ludwig! Ich verhungere, wenn ich nichts zu essen bekomme,« rief sie lustig.

»Nein, Fräulein Gretchen, Sie waren doch damit nicht gemeint,« stotterte Ludwig, noch röter als krebsrot werdend.

»Sie dürfen nur als schützender Genius über dem Ganzen schweben,« rief die poetische Lilli schwärmerisch.

»Der Genius hat aber auch einen menschlich knurrenden Magen,« versetzte lachend die junge Lehrerin. »Kommt, ihr Mädel! Sonja, Ilse, Lena und auch Sie, Ruth – wir werden für den Nachtisch Sorge tragen.«

Lilli Liliput hätte ihren Ehrenplatz jetzt gern einer anderen abgetreten, als sie die Freundinnen in Gemeinschaft mit der »Süßen« sich auf die Beerensuche begeben sah. Aber – ein pflichtgetreuer Soldat bleibt auf seinem Posten!

Walter Ritter hatte inzwischen brauchbare Steine ausfindig gemacht. Vier davon wurden über die Feuerung geschichtet und so erfinderisch ein »Wanderherd« hergestellt. Nur eine kleine Schwierigkeit gab es noch zu überwinden, da es sonst mit dem Mittagessen bös aussah: das Feuer wollte nicht brennen!

Ob Iwan, der Deibelsjunge, doch noch nasses Holz dazwischen geschmuggelt hatte, oder ob der Platz nicht windgeschützt genug war? Darin waren sich die Sachverständigen nicht einig. Genug, das Feuer ging immer wieder aus.

Meister Specht, der seine Werkstatt droben am Kieferstamm errichtet hatte, hielt plötzlich mitten in seinem fleißigen Hämmern inne. Kopfschüttelnd äugte er zu den Wandervögeln herab.

Da lag das Zwillingspaar neben der Feuerstelle der Länge nach im Gras und blies und pustete aus vollen Lungen. Der Rauch schlug beiden ins Gesicht, aber das erhöhte die gute Laune.

Lilli blies aus Leibeskräften, mit Backen wie ein Posaunenengel. Der Schmerz, das angebetete Fräulein Gretchen dem Hungertode preiszugeben, nur weil das nichtsnutzige Feuer nicht gehorchen wollte, den hätte Lilli Liliput nicht überlebt.

Hurra – es brannte! Lustig züngelten Flammen aus dem Steinherd. Bald konnte die junge Köchin dem übermütig brausenden und blasenschlagenden Wasser die mitgebrachten Nudeln anvertrauen.

Hurra – es brannte! Lustig züngelten die Flammen aus dem Herd.

Als die Beerensucherinnen, umfangreiche Tüten verheißungsvoll im Arm, zurückkehrten, gab es hellen Jubel. Bald stand die fertige Mahlzeit auf des lieben Gottes grüner Tischdecke. Im Nu hatte ein jedes seinen Teller und Löffel aus dem Rucksack hervorgekramt; dann trat man im Gänsemarsch bei dem Führer und seiner Kochgenossin an.

Der gewissenhafte Ludwig war dafür, jedem eine bestimmte Anzahl von Nudeln zuzuzählen, aber Lillis quecksilberigem Sinn war dieses Verfahren viel zu umständlich und langwierig. Nach Gutdünken füllte sie aus dem großen Topf freigebig die Anteile auf, als ob der Vorrat niemals zu Ende gehen könne, während Ludwig Zucker, Zimt und Apfelmus dazu verteilte.

»Himmlisch – wunderbar schmeckt es – zum erstenmal, daß das Essen nicht angebrannt ist – iich niicht hab' Nudels mit Zimt; nein, Nudels mit Grras und Holzstückers – « so riefen die deutschen und russischen Wandervögel durcheinander.

Auch die jungen Köche, die bisher nur an das Wohl der anderen gedacht hatten, fühlten jetzt ein menschliches Rühren in der Magengegend. Ludwig hielt seiner Lilli erwartungsvoll den Teller hin.

»Einen ordentlichen Berg, Liliputchen! Der Führer hat Anspruch auf doppelten Anteil.«

»Der Pott ist leer« – die Braunaugen der kleinen Blonden blickten entsetzt in die gähnende Tiefe des Kochtopfs; hatte ein arger Waldkobold ihnen diesem Schabernack gespielt?

»Siehst du, ich habe dir gleich gesagt, wir wollen die Nudeln abzählen,« rief der sonst so zärtliche Zwillingsbruder aufgebracht, denn wenn der Magen aufsässig wird, wankt selbst Bruderliebe.

Allgemeines Gelächter erhob sich. Solches Pech! Man lachte und ließ es sich weiter gut schmecken.

Die drei Kränzchenschwestern aber, die Getreuen, hielten inne, um wenigstens den schäbigen Rest noch mit der halbverhungerten Freundin zu teilen. Iwan dagegen, der Vielfraß, schlang drauflos, als gelte es ein Wettessen, damit er nur ja nicht in die mißliche Lage käme, seinem Zimmergenossen Ludwig etwas abgeben zu müssen.

Aber Fräulein Gretchen, der »über dem Ganzen schwebende, schützende Genius«, legte sich ins Mittel.

»Nein, das wäre ja noch schöner, wenn die zwei, die sich für unser aller Wohl geopfert haben, jetzt ihr Leben von milden Brosamen fristen sollten. Verbindet dem Zwillingspaar mal die Augen! Wir wollen eine neue Mahlzeit für sie herzaubern.«

Unter Lachen, Jubeln und Mogeln wurde den beiden eine Binde vor die Augen gelegt. Währenddessen holte die junge Lehrerin eine Büchse Fleischkonserven hervor, die sie stets für alle Fälle auf den Fahrten bei sich trug, wenn das Essen mal allzu ungenießbar ausfiele.

Durch Umdrehen der Büchse erwärmte sich der Inhalt – es war wirklich Zauberei – denn als den beiden Hungrigen jetzt die Augenbinde gelöst wurde, da hatte Fräulein Gretchen innerhalb weniger Minuten ein Fleischgericht mit Reis für sie gekocht, und zwar – was das wunderbarste war – ohne jedes Feuer!

Eine eigenhändig von der Angebeteten bereitete Mahlzeit – war die nicht viel zu schade, gegessen zu werden? Die mußte man sich eigentlich zur ewigen Erinnerung unter den übrigen ergatterten Heiligtümern, wie eine vertrocknete Blume und ein entsprungener Knopf, sorgsam aufbewahren. Aber da Ludwig durchaus nicht für diese poesievolle Enthaltsamkeit zu haben war, sondern sehr hungrig in den Reisberg Bresche schlug, ließ auch Lilli es sich munden. Sie aß sogar mit Beschleunigung, denn dem Märchenkobold wäre es nur natürlich erschienen, wenn das Tischlein-deck-dich so plötzlich, wie es aufgetaucht war, auch wieder versunken wäre.

Nachdem die »Futterrung derr Rraubtiere«, wie Sonja sich ausdrückte, beendet war, mußte ein jeder, wie ausgemacht, seinen Teller und Löffel drunten am See reinigen und mit Sonnenstrahlen trocknen.

Während Lilli, als diesmalige Kochgenossin, die Ehre hatte, den Kochtopf auszuscheuern, erblickte sie in der Tiefe des Sees so mancherlei, was niemand von den übrigen sah.

Da haschten sich die Wasserrosenelfen mit den schlanken Schilfmädchen; da blies und trompetete lustig eine Froschkapelle, und der schöne Froschprinz machte Hochzeit mit dem lieblichsten Seenixlein. Ganz deutlich schauten Lilli Liliputs Märchenaugen das aus lauter Wasserperlen gebaute Silberschloß des Nixenkönigs tief drunten.

Da – ein trompetender Schrei! Das war nicht das Froschorchester! Lilli fuhr erschreckt empor und schaute sich um.

Iwan Pietrowicz, der noch eben neben ihr seinen Löffel abgewaschen hatte, war verschwunden. Der sonst so Wasserscheue hatte sich zu weit an das Wasser herangewagt; sein Fuß war auf dem glitschrigen Boden ausgeglitten, und jetzt hing er schreiend, strampelnd und prustend zwischen Schilf und Binsen, mit jeder Bewegung tiefer in den Schlamm versinkend.

Während die Wandervögel von allen Seiten voll Entsetzen der Unglückstätte zueilten, hatte Lilli, die Zunächststehende, bereits ihren Rock abgeworfen. In ihren blauen Turnhöschen watete sie ohne Besinnen in den See, dem brüllenden kleinen Russen die rettende Hand hinstreckend.

Der schlug denn auch gleich wie ein Krebs seine »Scheren« um Lillis Finger. Mit Anspannung aller Kräfte versuchte sie den Jungen zu sich zurückzuziehen. Aber – er war stärker als das zierliche Liliputchen! Lilli fühlte, wie der Boden auch unter ihren Füßen zu wanken begann – wie sie tiefer und tiefer in morastigen Grund sank.

Ludwigs lange Beine waren als erste am Unglücksplatz. Freilich, der Führer hatte ja auch die größte Verpflichtung, für das Wohl der ihm anvertrauten Schar einzutreten. Aber was dachte Ludwig augenblicklich an seine Führerpflichten? Der sah nur seinen Abgott, sein Liliputchen, in einer Gefahr, sie und den Jungen, dem er trotz aller seiner Streiche im Laufe der Zeit von Herzen zugetan war! Mit drei Schritten war der Sekundaner neben der sinkenden Lilli. Das schlammige Wasser, das dem zierlichen Backfischchen fast bis zum Munde ging, reichte ihm kaum bis zur Brust. Da hatte er sie bei ihren langen Blondzöpfen gepackt – jetzt schlang er die Arme um die leichte Last –

Vergebens! Er hatte die Rechnung ohne Iwan gemacht. Der zog mit der Kraft des Verzweifelnden in entgegengesetzter Richtung, »Iwan – laß los – ich hole dich sofort hinterher,« bat Ludwig.

Aber der Selbsterhaltungstrieb des kleinen Russen war stärker als sein Glaube an Ludwigs Versprechen. »Nein – nein – du lassen mirr verrsaufen!« jammerte er und krallte sich nur um so fester an Lilli. Der waren die Sinne geschwunden; sie war bereits drunten im Wasserperlenschloß unter tanzenden Nixlein und blasenden Froschmusikanten.

Ludwig stand der Schweiß auf der Stirn von der gewaltigen Anstrengung. Da tauchte als Retter in der Not sein getreuer Freund, Walter Ritter, neben ihm auf. Der fischte den strampelnden Iwan, der es nun doch für geratener hielt, seine »Fänge« von Lillis Arm zu lösen und dafür dem kräftigen jungen Burschen um den Nacken zu schlagen, aus dem Schlamm. Ludwig aber entriß triumphierend seine Lilli den Armen der Schilfmädchen und legte sie den vor Aufregung und Angst zitternden Freundinnen zu Füßen ins weiche Moos.

Fräulein Gretchen, die so weiß war wie die weiße Bluse, die sie trug, kniete bereits neben der Ohnmächtigen.

»Bringen Sie die Feldflasche mit Wein, Lena, und ihr anderen, was wir an trockenen Sachen besitzen! Flink – flink! Daß es nicht erst noch eine Erkältung gibt! Es ist mit dem Schreck schon genug. Ludwig und Walter, die Brombeerhecke dort drüben gibt ein Umziehzimmer für Sie beide! Vorwärts, ziehen Sie sich um! Für Iwan werden wir sorgen.«

Ruhig und klar gab die junge Lehrerin ihre Anordnungen, trotzdem ihr Herz noch von der ausgestandenen Sorge pochte.

Lilli schlug nach einigen Tropfen stärkenden Weines die Augen auf. Als sie das Antlitz der Süßen so liebevoll über sich gebeugt sah, da umfing sie zärtlich den Hals der Angeschwärmten.

Die schüttelte sich lachend.

»Lilli, Sie sind ja naß wie ein Frosch! Für solche kühlen Liebkosungen danke ich! Erst wollen wir Sie mal wieder menschlich machen.«

Damit begann Fräulein Gretchen, Lilli die schlammigen Stiefel aufzuschnüren. Der wurde es trotz der triefenden Kleidung heiß bis ins Herz hinein. Fräulein, Gretchens zarte weiße Hände in Berührung mit ihren schmutzigen Stiefeln ... nein, das war gegen jede Weltordnung!

Aber es half nichts; sie mußte sich wie ein Wickelkind umkleiden lassen. Merkwürdig war die Bekleidung allerdings, die man für sie zusammenstellte. Sie bestand aus trockenen Strümpfen, die jeder Wandervogel vorschriftsmäßig bei sich zu führen hatte, dem noch flugs abgestreiften buntblumigen Bauernrock und dem Regenumhang. So wurde Lilli Liliput mitten in die Prallsonne gesetzt und letzterer die Aufgabe zuteil, sämtliche Bazillen zu verbrennen, die sich die junge Dame etwa dort unten bei den Seebewohnern geholt hatte. Auch das Trocknen der nassen Kleidungstücke lag der lieben Sonne ob.

Lilli aber schlang voll Dankbarkeit die jetzt trockenen Arme um Fräulein Gretchen und wußte ihren Gefühlen keinen anderen Ausdruck zu geben, als durch die leise geflüsterten Worte: »Bitte, sagen Sie doch von heute an ›Du‹ zu mir, Fräulein Gretchen!«

Wer das Lilli Liliput vor einem halben Jahr gesagt hätte!

Inzwischen hatten Sonja und die umsichtige Lena auch den russischen Jungen, dem wieder mal der ganze Schrecken zu verdanken war, aus seiner feuchten Haut geschält. Er und die beiden Lebensretter lagen jetzt ebenfalls auf dem sonnigen Trockenplatz.

Die liebe Sonne erfüllte die ihr aufgetragenen Obliegenheiten schnellstens. Die Freundinnen brachten die getrockneten und gesäuberten Kleider den »Badeengeln« zurück. Hinter Brombeerwänden und grünen Wacholdervorhängen verwandelten sich die vier wieder in regelrechte Wandervögel.

Ludwig übernahm aufs neue die Führung. Das Lager wurde abgebrochen; die zittrigen Klänge von Ruths Zupfgeige erklangen durch den Wald, und bald lag der grüne Moosplatz, auf dem sich eben noch so viel lachende Jugend getummelt hatte, wieder still und einsam im Sonnenschein. Nur die Vöglein aus Baum und Busch hielten eifrig Nachlese.

Die Wandervögel aber zogen lustig weiter über Berg und Tal. Zum erstenmal hatten sie eine Wanderfahrt von zwei Tagen unternehmen dürfen. Das geplante Heulager beim Bauer hatte schon tagelang vorher in den jungen Köpfen gespukt. Leider aber nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den aus ihnen hervorgegangenen Schularbeiten. Selbst das fleißige Zwillingspaar war öfters mit seinen Gedanken aus der engen Klasse zum duftigen Heu und weiten Sternenhimmel entwischt.

Es dämmerte schon, als man das Ziel, ein Dörfchen mit leuchtenden Ziegelmützen, erreichte. Allenthalben saßen die Bewohner auf den Hausbänken unter nickenden Sonnenblumen beim Abendpfeifchen oder Strickstrumpf.

Mit Sang und Klang hielten die Wandervögel ihren Einzug. Lautes »Heil!« tönte ihnen entgegen. Die Barfüßchen des Dorfes, Mädel und Jungen, liefen eilig herzu und schlossen sich der singenden Schar an. Wußten sie es doch, die kleinen Schlauköpfe, daß da so manch Zuckerplätzchen, manch Stücklein Schokolade oder gar Kuchen in ihre Mäulchen wanderte.

So kam man ins Quartier, einem großen, sauberen Bauernhof, bei dessen freundlichen Besitzern Ludwig seine Schar bereits angemeldet hatte.

Der Bauer schmunzelte über das ganze breite Gesicht, als er der lustigen Gesellschaft ansichtig wurde.

»Holla, Mutter, sie sind da!« rief er statt jeder Begrüßung und eilte ins Haus; aber bald trat er, gefolgt von der behäbigen Bäuerin, wieder heraus, beide Riesenschüsseln mit Butterbroten tragend, denn sicherlich waren die Vögel ausgehungert.

Das wurde ein fröhlicher Schmaus auf grüner Weide, unter brüllenden Kühen, meckernden Ziegen, girrenden Tauben und gackernden Hühnern! Nie hatte dem »Prinzeßchen« ein vom Diener angebotenes Abendessen so gut geschmeckt, wie die derben Butterschnitten und die saure Milch hier bei Mutter Grün. Dann sangen die jungen Gäste ihren Wirten zum Dank ihre schönsten Weisen, und auf blumigem Anger sprangen und tanzten sie nach den Mandolinenklängen wie die Zicklein.

Aber als die himmlischen Wandervögel, der Silbermond mit seiner funkelnden Sternenschar, aufzogen, hieß es für unsere Wandervögel: »Ins Nest!« Früh ins Bett und früh aus den Federn – dieser Wahlspruch gehört nun einmal zum frohen Wandern.

Es gab große Enttäuschung. Die Bäuerin wollte durchaus den »jungen Damen« kein Heulager bereiten – nein, das ging ihr gegen jede Gastlichkeit! Man durfte die gute Frau nicht kränken, die ihre Betten für die jungen Gäste schon hergerichtet hatte.

Während der Bauer die jungen Burschen in die Tenne aufs duftende Heu führte, folgten die »jungen Damen« schweren Herzens der umfangreichen Gestalt ihrer Herbergsmutter ins Haus. Besonders Lilli Liliput war untröstlich. Auf das schöne Heulager hatte sie sich doch am allermeisten gefreut.

Ja, die Jungen, die hatten es wie immer gut!

»Kinder, ich will euch mal ein Rätsel aufgeben,« sagte Ilse Gerhard verschmitzt, als Lilli durchaus keine Ruhe geben wollte. »Welches ist der Unterschied zwischen Lilli und Ludwig? Na, ihr ratet es ja doch nicht! Ich werde es lieber gleich sagen. Also: Ludwig ist unser Leithammel, und Lilli augenblicklich unser Neidhammel!«

Helles Lachen belohnte Ilses Witz. Selbst Lilli lachte von Herzen mit. Die Stimmung war gerettet.

Aber als die Bäuerin sie in ein großes, niedriges Zimmer mit einem grünen Kachelofen und einem Riesenhimmelbett in der Ecke führte und treuherzig sagte: »So, dat wär dat Bett von mein Schwiejermutter selig! Da jehen Stückers vier von di spillerigen jungen Fräuleins jut und jerne rin,« da gab es einen Jubel, wie ihn die ehrwürdige alte Bauernstube wohl nicht oft gehört hatte.

Das Kränzchen beschlagnahmte natürlich sofort das Himmelbett der »Schwiegermutter selig«. Lilli war wieder vollständig mit ihrem Los ausgesöhnt. Ruth wurde auf die Ofenbank gebettet, die übrigen im Nebenzimmer untergebracht. Fräulein Gretchen durfte sogar auf dem »Kanapee« in der Putzstube schlafen, denn »den Lehrer muß man ehren«, sagte die Bäuerin.

Da lagen nun Märchenkobold und Prinzeßchen zu Häupten, Heimchen und Rattenschwänzchen am Fußende des gewaltigen Himmelbettes in den sauberen Kissen. Aber ein Juchhei herrschte darin, als ob nicht vier, sondern vierzig Mädel dort ihr Wesen trieben.

»Au – au, du klemmst mir meinen Fuß ein – Kinder, Rattenschwänzchen schnarcht wie ein Grenadier – Iist niicht wahrr, Märrchenkobold rredet aus Schlaf; erzählt Geschichtens – Huuh, Kinder, seid doch ruhig, ich bin ja so müde!« So flog das lachend und gähnend hin und her.

Aber achtstündiges Wandern macht seine Rechte geltend, wenn man auch noch so lustig ist. Bald verstummten die übermütigen Neckereien der Mädchen. Tiefe, gleichmäßige Atemzüge kamen aus den geblümten Federbergen von »Schwiejermutter selig«.


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