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Inzwischen ging Ilse mit nachdenklichen Augen in dem großen Speisesaal ab und zu; sie wollte es ihrem heimkehrenden Papa recht gemütlich machen. Aber das war schwerer, als Lilli es sich vorstellte.
Den Tisch pflegte der Diener zu decken, und der würde sich höchlich gewundert haben, hätte das kleine Fräulein plötzlich seine Arbeit getan. Ilse konnte nichts dabei helfen, als noch eine Vase mit Blumen hinstellen. Um Tee hatte sie in der Küche gebeten, und nun ging sie, mit Papas Morgenschuhen bewaffnet, suchend durch alle Zimmer. Nirgends gab es einen Ofen, an dem sie die Schuhe hätte wärmen können; überall war Zentralheizung. Schließlich entschloß sich Ilse dazu, die Schuhe in Ermangelung eines Kachelofens auf die heißen Röhren zu legen.
Auch eine Petroleumlampe, die Lilli als besonders gemütlich empfohlen hatte, wollte sich durchaus nicht beschaffen lassen. In der ganzen Villa gab es elektrisches Licht; zahlreiche Flämmchen und Glühbirnen warfen ihren strahlenden Schein durch die Zimmer. Ilse steckte sich also hinter das zweite Hausmädchen, das besonders nett zu ihr war, und das besorgte auf ihr Bitten schließlich vom Pförtner eine alte Petroleumlampe.
So – die Lampe brannte auf dem festlich gedeckten Tisch! Sie nahm sich freilich neben dem prunkvollen Silber und kostbaren Kristall aus wie ein armer Bettler an der Tafel eines Reichen.
Das junge Mädchen schaltete das elektrische Licht aus; trübselig zitterte der Lampenschein durch den dunklen Riesenraum. Ilse fand eigentlich den Saal in dieser mangelhaften Beleuchtung höchst ungemütlich, aber da Lilli es ihr geraten hatte, mußte es wohl so richtig sein. Sie schraubte die Lampe etwas höher und nahm in der Diele Aufstellung, um sofort zur Hand zu sein, wenn Papa durchnäßt nach Hause kam.
Das Auto fuhr vor. Gleich darauf betrat der Bankdirektor Gerhard die Vorhalle.
Ilse hängte sich an seinen Hals. Sie hatte den Vater seit dem Morgen nicht gesehen, denn mittags speiste er der großen Entfernung wegen stets in der Stadt.
»Bist du sehr naß, Papa? Komm; ich helfe dir!« Sie zog ihm zum Erstaunen des Dieners, der die Sachen in Empfang nehmen wollte, den Überzieher aus.
»Naß?« Papa lachte. »Es ist ja herrliches Wetter draußen, und außerdem: im Auto regnet es überhaupt nicht.«
Ilse stand stumm; sie hatte nur mit der Möglichkeit des Regens gerechnet.
»Willst du warme Hausschuhe anziehen, Papa?« fragte sie etwas kleinlaut.
»Warme Schuhe? Ich bin doch kein Greis,« antwortete Papa sehr vergnügt. »Nein, ich fahre heute noch in die Stadt zurück; ich wollte mich nur mal nach meinem Liebling umsehen.«
Er schlang den Arm um die ihm bis zur Schulter reichende Tochter und schritt mit ihr auf den Speisesaal zu.
Ilse fühlte zwar etwas Enttäuschung, daß Papa nicht daheim blieb, aber sie kämpfte dieselbe tapfer nieder. Beim Essen sollte es um so gemütlicher werden.
»Nanu – was ist denn hier los?«
Papa hatte die Tür zum Speisesaal geöffnet. Da stand Ilses »gemütliche« Petroleumlampe und qualmte in aller Gemütlichkeit; eine dicke schwarze Rauchsäule schlug aus dem Zylinder empor. Der ganze große Saal war von Qualm und Ruß erfüllt; schwarz lag es auf dem weißen Damastgedeck, schwarz auf Tellern und Gläsern.
»Dear me – what is that?« Die von der anderen Seite eintretende Miß White wich erschreckt zurück.
»Ja, das möchte ich auch wissen, was das bedeutet,« rief der Bankdirektor ärgerlich, die Fenster aufreißend. »Friedrich« – er läutete Sturm.
Aber ehe der Diener noch erschien, hatte Ilse, die vor Entsetzen zuerst ganz erstarrt war, schon den braunen lockigen Kopf an Papas Schulter geschmiegt.
»Ich bin schuld, Papa; ich habe die Lampe zu hoch geschraubt. Sei nicht böse!«
Die Stirn des Bankdirektors glättete sich im Augenblick. Seinem Liebling konnte er nicht zürnen.
»Aber wie um alles in der Welt kommt denn dieses vorsintflutliche Ungeheuer von Beleuchtungsgegenstand überhaupt auf unseren Tisch? Das elektrische Licht ist doch in Ordnung?«
Die Miß knipste. Tageshell flammte es in dem Saal auf und zeigte jetzt erst deutlich die ganze schwärzliche Bescherung.
»Ich wollte es dir so gern gemütlich machen,« kam es leise und weinerlich von den Lippen des Töchterchens.
Jetzt lachte der Bankdirektor laut auf.
»Das hast du ja glänzend erreicht, mein Herzchen« – der Humor der Sache gewann die Oberhand bei dem Vater – »so, Friedrich, nun decken Sie uns mal im kleinen Wohnzimmer am Wintergarten auf! Hier ersticken wir ja.«
Zehn Minuten später stand ein tadellos sauber gedeckter Tisch im Wohnzimmer, und die elektrischen Birnen sahen mit mitleidigem Strahlenlächeln auf die geknickte Ilse, die mit einer Petroleumlampe gegen sie zu Felde ziehen wollte.
Ilse gab sich redlich Mühe, ihrer trübseligen Stimmung Herr zu werden, denn das gehörte doch vor allem zu einem gemütlichen Abend. Aber es wurde ihr nicht ganz leicht.
Sie erzählte von dem Besuch ihrer neuen Freundin Lilli, und was für einen hübschen Nachmittag sie heute verlebt hatte. Auch von der Theaterkarte berichtete sie.
Papa wollte seinem Liebling für die mißglückte Lampengeschichte gern einen Ersatz bieten.
»Nun, mein Mädel, wenn du Lust hast: es gibt sicher noch mehr Karten zu ›Maria Stuart‹«.
»Ja?«
Wie der Wirbelwind war das große Mädel auf Papas Knien. Noch nie hatte eine in Aussicht gestellte Theaterkarte bei ihr solche lebhafte Freude hervorgerufen.
»Ich weiß auch die Nummer von Lillis und Lenas Plätzen,« frohlockte sie. »Ich habe sie mir für alle Fälle gemerkt, falls du vielleicht auf den großartigen Gedanken kommen würdest, mir eine Karte zu schenken.«
»Sieh mal an, du Schlauköpfchen,« neckte Papa lächelnd.
Lange hatte er nicht solchen Jubel von den Lippen seines Kindes gehört.
Aber nun erinnerte sich Ilse, daß sie ja noch nicht damit zu Ende war, es ihrem Papa gemütlich zu machen. Sie hatte jetzt doch allen Grund, ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen.
Den Tee, den sie eigentlich hatte eingießen wollen, hatte der Diener gleich in den Tassen aufgetragen; überdies trank Papa Bier.
Nun aber eilte sie diensteifrig davon und kam, mit Zigarren, Feuerzeug und Zeitung beladen, zurück. Sie baute alles zierlich vor dem Vater auf und wartete auf den Erfolg.
»Danke, mein Kind! Ich rauche vorläufig nicht, und die Zeitung habe ich schon unterwegs gelesen.« Papa sah seine Ilse mit unverhohlenem Staunen über diese emsige Tätigkeit an.
»Ja, wenn du nichts willst – keine Morgenschuhe und keine Petroleumlampe und keine Zeitung – wie soll ich es dir denn da gemütlich machen?« Es klang höchst kläglich.
Papa zog seinen Liebling näher zu sich heran, während Miß White der Sache noch verständnisloser gegenüberstand als er.
»Nun erzähle mir mal, mein Herzchen: was ist denn heute plötzlich in dich gefahren, daß du es mir durchaus gemütlich machen willst?« fragte er leise.
»Ich – du – Lilli meinte, wenn ich es dir hier zu Hause behaglich mache, dann würdest du nicht abends immer fortgehen, sondern bei mir bleiben,« kam es noch leiser von den Lippen seines Töchterchens.
Ganz still fast Papa; nur seine Hand streichelte in Gedanken Ilses weichgelocktes Braunhaar. Die wenigen Worte hatten ihn in tiefster Seele getroffen. Ilses ganze große Einsamkeit und Sehnsucht nach einem trauten Familienleben offenbarten sie ihm. Nein, sein Kind, das schon die Mutter den größten Teil des Jahres entbehren mußte, sollte künftig nicht mehr so viel allein bleiben.
»Dürfen wir uns zurückziehen, Mister Gerhard?« fragte Miß White in englischer Sprache.
Der Bankdirektor schüttelte den Kopf.
»Nein, Ilse kann mir mal ihre letzte Sonate vorspielen!« Er griff jetzt doch nach den Zigarren.
»Du – bleibst bei mir?« Kaum wagte Ilse diesen kühnen Gedanken in Worte zu formen.
Als Papa nun lächelnd nickte, da brach ein Jubel von den jungen Lippen, stürmischer noch als vorher über die in Aussicht gestellte Theaterkarte. Ilse erdrückte ihren Vater fast vor Liebe und Dankbarkeit, trotzdem die Miß solch ungezügeltes Benehmen »shocking« fand.
Der Vater aber ging erst noch einmal prüfend von Zimmer zu Zimmer. Es roch angesengt – unbedingt; doch man fand die Ursache nicht. Wegen Feuersgefahr wurde die ganze Villa abgeleuchtet.
Auch Ilse trippelte schnüffelnd hinter Papa her. Da holte sie plötzlich errötend etwas hinter der Heizung vor; es waren Papas angesengte Morgenschuhe, die sie an ihrem heißen Platz vergessen hatte.
Dann aber wurde es wirklich ein gemütlicher Abend. Ilse spielte für ihr Alter recht hübsch Klavier, und heute gab sie sich alle erdenkliche Mühe. Papa war erfreut über ihre Fortschritte. Dann mußte sie ihre Schulhefte herbeiholen, von denen der Vater Einsicht nahm; er lobte hier und munterte dort auf. Zum Schluß des schönen Abends trieb Papa noch allerlei lustige Schreibspiele mit seinen beiden Damen, wobei das Englisch-Deutsch der Miß viel Stoff zum Lachen gab.
Als für Ilse die Stunde des Schlafengehens gekommen war, wußte sie nicht, wo der sonst so langsam dahinschleichende Abend geblieben war. Aber auch der Bankdirektor zog ganz erstaunt die Uhr.
Leise flüsterte Ilse ihrem Papa beim Gutenachtkuß ihren Dank ins Ohr, daß er bei ihr geblieben war.
»Solch gemütlichen Abend, wie heute, wollen wir uns jetzt doch öfter machen, mein Herzchen,« entgegnete Papa zärtlich, und scherzend setzte er hinzu: »Es bedarf dazu nur des frohen Lachens meiner Ilse, nicht aber qualmender Petroleumlampen und gebratener Morgenschuhe!«