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Auch dem staubigen, geräuschvollen Berlin hatte der Frühling das lichte Maienkleid angelegt. Hoch oben von ihrem Dachfenster blickte Lena Ritter auf die spärlichen grünen Bäume, welche die Straße besäumten, auf das Fleckchen samtweichen Rasen, das drüben von dem großen Platz herübergrüßte, und auf die vielen farbenfrohen Balkone, die mit ihren brennendroten Blüten jedem Hause wie Vogelnester angeklebt waren.
Oh, Lena und ihre Schwester Ruth hatten auch jede ihren Balkon! Er war zwar nicht groß – stehen konnte man darauf nicht; aber sitzen konnte man dort, sogar zu zweien! Er wurde von der sich verbreiternden Dachrinne gebildet, die vor den Fenstern entlanglief. Bruder Walter hatte passende Holzkästen dafür angefertigt, sie mit grasgrüner Farbe angestrichen und Bindfäden zu dem obersten Fenstergesims gezogen. Die Mutter hatte den Töchtern Winden-, Kresse- und Resedasamen geschenkt und die liebe Sonne ihr Möglichstes getan, um die beiden Schwestern bei ihrer sorgsamen Pflege zu unterstützen. Lustiges grünes Gerank schaukelte bereits im Maienwind vor den blütenweißen Vorhängen auf und nieder, und wenn auch noch keine Blüten daran waren: man ahnte sie doch bereits.
Lena machte heute ihrem Namen als Heimchen alle Ehre. Das Kränzchen sollte nachmittags bei ihr stattfinden. Dies war durchaus nicht so einfach wie bei den anderen Dreien. Wenn die Freundinnen auch bei den Vorbereitungen für ihre jungen Gäste gern selbst Hand anlegten und besonders Lilli sich dabei tüchtig erwies: Kopfzerbrechen wie der Lena machte es doch keiner von ihnen. Was sie zur Bewirtung brauchten, war reichlich vorhanden.
Anders sah es damit in der bescheidenen Dachwohnung aus. Da war Schmalhans oftmals Küchenmeister. Lena wußte, daß die Mutter, um ihren Kindern jungen, anregenden Verkehr zu gönnen, sich selbst mancherlei Entbehrungen auferlegte.
Nein, das sollte die Mutter, die ohnedies schon so angegriffen und abgearbeitet aussah, um ihres Kränzchens willen nicht!
Lange hatte Lena überlegt, wie sie sich wohl ein Taschengeld verdienen könne, das es ihr gleich ihrer Schwester Ruth ermöglichen sollte, für ihre kleinen Ausgaben selbst Sorge zu tragen. Walter, der nicht viel älter war als sie, hatte sich bereits durch Privatstunden in den unteren Klassen ein hübsches Sümmchen erspart. Konnte sie das nicht auch tun?
Lena überwand ihre Schüchternheit und bat Doktor Petersen, den Klassenlehrer der Klasse, sie für Nachhilfeunterricht bis zur vierten Klasse empfehlen zu wollen.
Doktor Petersen, sonst allgemein als brummig verschrien, war riesig nett zu der fleißigen Schülerin, die in so jungen Jahren schon die Not des Lebens kennen gelernt haben mußte. Seit Ostern hatte er ihr zwei kleine Schülerinnen verschafft, mit denen Lena Schularbeiten machte. Das junge Mädchen kam den neuen Pflichten mit derselben Gewissenhaftigkeit nach wie den alten, sowohl in der Schule als auch im Haushalt. Keinen Augenblick Ruhe gönnte sich die fleißige Lena. Aber sie hatte bald die Freude, ihrer Mutter von dem ersten, selbstverdienten Gelde den stärkenden Wein, der ihr so gut tat, kaufen zu können. Der Rest aber wurde zu dem heutigen Kränzchen verwendet. War es da ein Wunder, daß das »Heimchen« eine noch viel größere Vorfreude bei seiner emsigen Geschäftigkeit empfand als all die anderen Kränzchenschwestern?
Den Tisch hatte Lena dicht an ihre »Laube« herangerückt und mit der hübschen Kreuzstichdecke, ihrer letzten Weihnachtsarbeit, belegt. Einen großen Strauß bunter Anemonen hatte Mutter ihr aus dem Laden gespendet. Da sah die kleine Dachstube noch lichter und freundlicher aus als sonst. Ruth aber, die gute Schwester, war eine Stunde früher aufgestanden und hatte zur Überraschung für Lena von ihrem Spargeld einen billigen Pulverkuchen gebacken. Wohlgeraten prangte er jetzt auf dem Tisch, und das eifrig die Tassen ordnende Heimchen sah so liebevoll auf sein knusperiges Goldbraun, als ob es Schwester Ruth selbst wäre.
Aber auch Walter hatte seinen Anteil zu Lenas Kränzchengesellschaft beisteuern wollen. Er fand plötzlich, daß er den neuen Schlips, den er sich eigentlich zum Sommer hatte kaufen wollen, wirklich noch nicht so nötig brauchte. Statt dessen brachte er Lena eine Flasche Himbeersaft zu Limonade mit, denn an dem warmen Maitage konnte sie doch unmöglich abends Tee zu den Brötchen geben.
Lena war ganz gerührt von den Liebesgaben der Geschwister. Die Freude darüber verklärte ihr zartes Gesicht. Auch Hans und Heinz, die kleinen Brüder, waren heute musterhaft brav, um ihrer Lena nicht noch mehr Arbeit zu machen.
Der Kaffee war fertig, und der Kuckuck steckte viermal den Kopf aus seinem Fensterchen. So – nun konnten die jungen Gäste kommen.
Sie ließen auch nicht auf sich warten. Gerade als Lena freudestrahlend beobachtete, daß der Nachbar seine Tauben wieder hatte ausfliegen lassen, und wie diese girrend ihre »Laube« umflatterten, klang die Türglocke.
Märchenkobold und Knurr-Murr! Sie kamen aus der Turnstunde und hatten Iwan mitbringen müssen, da man es nicht wagen konnte, ihn allein nach Hause zu schicken. Lilli war nicht sehr erbaut davon, aber Lenas kleine Brüder begrüßten jubelnd den Spielgefährten. Der Herr Sekundaner Walter beruhigte außerdem Lillis allerlei Unfug fürchtendes Herz, indem er sich erbot, die Oberaufsicht über den kleinen Russen zu führen.
Lilli vertauschte als Erste die absatzlosen Turnschuhe mit ihren gewöhnlichen Stiefeln.
»So, nun bin ich wieder Mensch und kein am Boden kriechendes Gewürm mehr,« sagte sie, sich reckend.
»Wie hübsch ist es heute bei dich, Heimchen,« lobte Sonja, sich verwundert in dem sonnenhellen Zimmerchen umblickend.
»Ei, sieh mal an, also ist eine Dachwohnung doch gar nicht so übel, was?« neckte Lena.
»Ich glaube, ich warr früherr grräßlich,« gestand Sonja, rot werdend.
»Jedenfalls gefällst du mir jetzt tausendmal besser,« bestätigte nun lachend auch Lilli. »Ich schlage deshalb vor, dir heute feierlich einen anderen Namen beizulegen, denn Knurr-Murr paßt nicht mehr für dich.«
Dieselbe Meinung äußerte auch Ilse, die inzwischen gekommen war. Eigentlich hatte sie gar nicht teilnehmen wollen, um bei ihrer Mama zu bleiben. Aber Frau Gerhard drang darauf, daß Ilse unter fröhliche Altersgenossinnen kam. Es ging ihr ja auch fortschreitend besser.
Bei dem Kaffee und Ruths vorzüglichem Kuchen wurde Sonja in »Rattenschwänzchen« umgetauft, denn in ein solches hatte sich ihre Bubenhaartracht im Laufe der Zeit gewandelt.
Der Tisch war zu klein; die jungen Herren mußten ihren Kaffee im Nebenzimmer aufgetragen bekommen. Aber als Lena mit dem vollen Brett eintrat, hätte sie beinahe vor Lachen alles hingeworfen.
Der wilde Iwan war mit dem schwarzen Haar an das von der Gaslampe hängende, leimbeschmierte Fliegenband geraten. Jetzt hing er zappelnd wie eine Fliege daran und konnte nicht wieder los, zum Jubel der jungen Zuschauer, die um ihn herumtanzten.
Das war ein Juchhei! Bis Heimchen sich schließlich des armen Opfers erbarmte und die festklebenden Haare mit warmem Wasser von dem Fliegenleim löste.
Nachdem man Kaffee und Kuchen genügend Ehre erwiesen hatte, setzten sich die Mädel zu zweien in die »Laube« und zogen ihre Handarbeiten hervor. Auch Sonja oder vielmehr »Rattenschwänzchen« hatte inzwischen die schwere Kunst erlernt. Allerdings nicht bei Lilli, sondern bei Frau Doktor Steffen, da die jugendliche Lehrmeisterin sich nicht als ausdauernd genug erwies.
»Hier ist man dem Himmel so schön nah,« sagte Ilse bewundernd; Prinzeßchen hatte die glückliche Gabe, an allem etwas Gutes herauszufinden und jedem etwas Liebes zu sagen.
Aber als Heimchen jetzt Kuchenkrümel auf das Fenstersims streute, gleich darauf die Täubchen des Nachbars zutraulich heranflatterten und sich die süßen Leckerbissen schmecken ließen, ja, als sie Lena, die sie gut kannten, sogar aus der Hand die Krümchen pickten, fand die Begeisterung der Freundinnen keine Grenzen.
Auch die Knaben kamen herbei, sich das allerliebste Schauspiel mit anzusehen. Lenas kleine Brüder klatschten vor Freude in die Hände. Iwan Pietrowicz aber begnügte sich nicht mit derartigen zahmen Freudenbezeigungen. Ehe es sich die anderen versahen, hatte er ein allerliebstes schieferblaues Täubchen bei dem einen Flügel gepackt und das ängstlich flatternde Geschöpf zum Fenster hereingezogen.
»Ich mirr nemmen mit nach Haus – werrde ich machen Brrieftaube aus sie – soll brringen Grrieße nach Peterrsburrg,« erklärte er mit der größten Selbstverständlichkeit und versuchte, das arme, verängstigte Ding in seine Matrosenbluse zu stopfen.
»Aber, Junge, bist du denn ganz und gar verdreht? Du kannst doch nicht fremde Tauben stehlen,« entlud sich Lilli Liliputs Empörung.
Prinzeßchen und Rattenschwänzchen lachten, daß sie sich gar nicht beruhigen konnten. Lena aber machte ein nicht weniger ängstliches Gesicht als das gefangene Täubchen.
»Bitte, laß sie sofort wieder fliegen, Iwan,« bat sie in ihrer bescheidenen Art. »Der Nachbar soll ein sehr sonderbarer alter Junggeselle sein; den ›verdrehten Vogeladolf‹ nennen ihn die Leute. Der versteht sicher keinen Spaß.«
»Iist sich kein Spaß, iist sich Errnst,« beharrte Iwan, der nicht mal einem Befehl, wieviel weniger einer Bitte nachzukommen pflegte. »Wirrd komisches, verrdrehtes Vogeladolf gar nicht merrken; hat sich noch serr viele Tauben.«
»Iwan, gib die Taube heraus!«
Lilli ging entschlossen auf den Jungen los. Der aber begann mit den Füßen zu stoßen, da er die Arme zum Festhalten seines Raubes gebrauchte.
Sonja und Ilse lachten jetzt nicht mehr, und Lenas brave Brüder sahen entsetzt auf den ungezogenen Jungen.
Sonja redete russisch auf Iwan ein; aber auch dies machte keinen Eindruck auf den halsstarrigen kleinen Gesellen.
Da erschien Walter Ritter, der bisher im Nebenzimmer über seinem Xenophon gesessen hatte.
»Was ist denn hier los?«
Die vier Backfische stürzten auf ihn zu; eine überschrie die andere. Aber schließlich wurde Walter doch klug aus der Sache. Er trat auf den verstockt dastehenden kleinen Taubenräuber zu und streckte ganz ruhig die Hand aus.
»So, jetzt gibst du sofort die Taube her!«
»Mirr nicht einfallen im Trraum!«
Aber da hatte ihm Walter schon mit geschicktem Griff seinen gefiederten Raub entrissen. Natürlich wollte der ungebärdige Junge jetzt auf den großen Knaben losgehen; aber Lilli packte ihn rechts, Sonja links, und so hielten sie ihn wie zwei Schutzmänner in festem Gewahrsam.
»Wenn du dich nicht anständig benimmst, gehen wir sofort nach Hause,« flüsterte ihm Lilli mahnend zu.
Inzwischen hatte der Untersekundaner dem Täubchen das blaugraue Gefieder glattgestrichen und es behutsam hinaus in die »Laube« gesetzt. Aber ob es sich seiner plötzlichen Freiheit noch nicht recht bewußt war? Es machte vorläufig keinen Gebrauch davon.
In größter Spannung beobachteten alle den kleinen Gast. Er spazierte zwischen den Windenranken einher und ließ sich die dort ausgestreuten Kuchenkrümel schmecken. Die ausgestandene Angst schien schnell vergessen. Von allen Seiten flogen jetzt wieder die Täubchen hinzu – es war allerliebst.
Bis Iwan, der Tunichtgut, der noch von seinen Schutzmännern am Oberarm gehalten wurde, plötzlich – klitsch, klatsch – in die Hände patschte. Tschschsch – da flog der Taubenschwarm auf.
Nur Iwans Täubchen nicht! Das breitete die Flügel und ließ sie dann wieder sinken, als seien sie zu schwach, es zu tragen.
Noch einmal versuchte die Taube ihre Fittiche. Sie flatterte ein paar Zentimeter auf dem Blumenbrett entlang und nahm dann Abstand von dem eitlen Bemühen. Traurig blickte sie den davonfliegenden Gefährten nach.
Der ruhige Walter Ritter geriet jetzt auch in Aufregung.
»Nanu? Da ist irgend etwas nicht in Ordnung! Hast du die Taube verletzt? Dann freu' dich, Iwan!«
»Iich mirr frreuen serr. Wenn Taube niicht kann fliegen, iich ihr nemmen bestimmt nach Haus,« triumphierte der unverbesserliche Strick.
Indessen hatte Walter Ritter behutsam das Täubchen wieder ergriffen und einer eingehenden Untersuchung unterzogen.
»Mir scheint, der rechte Flügel ist etwas angeknickt.«
»Himmel, was fangen wir dann bloß an?« Entsetzt blickte Lena auf das unschuldige Täubchen.
»Kannst du machen niichts als Unfug! Brringst alle hierr im Aufrruhrr! Müssen wirr sich schämen wegen dirr,« entlud sich jetzt die schwesterliche Empörung über Iwan.
Lilli Liliput weinte fast vor Ärger.
»Ich wollte ihn nicht mitnehmen! Ich habe Muttchen gleich gesagt: der Junge verdirbt das ganze Kränzchen!«
»Hat gemacht Walterr – kann ich nichts dafierr – hat Walterr gemacht entzwei Täubchen, als err genehmt mirr forrt,« verteidigte sich Iwan, dem jetzt doch ein wenig schwül zumute wurde.
»Ih, da soll doch aber –« der höfliche Walter vergaß vor Entrüstung sogar, daß Iwan sein Gast war, »jetzt kommst du sofort mit zum Nachbarn, entschuldigst dich und bringst ihm selbst die Taube wieder,« befahl er. »Lena, du kannst auch mitgehen; du kennst ihn ja schon vom Sehen.«
Ganz blaß wurde die scheue Lena.
»Nein, nein – er schaut immer so böse drein! Ich fürchte mich vor dem verdrehten Vogeladolf.«
»Ich gehe natürlich mit; ich bin verantwortlich für Iwan!« Lilli Liliput reckte sich zu ihrer ganzen Größe empor.
»Natierrlich, ich begleiten dirr auch zu Nachbarr,« fiel Sonja ein.
So setzte sich denn die jugendliche Karawane in Bewegung: voran der Untersekundaner, die verwundete Taube im Arm, dahinter Lilli und Sonja, den kleinen Schuldigen zwischen sich führend, aus Angst, daß er unterwegs vielleicht Fersengeld geben könnte.
Der Vogeladolf bewohnte ein Dachzimmer in einem der Nebenhäuser. Mit Herzklopfen stiegen die vier die Treppen empor. Viele Türen mündeten auf den obersten Treppenabsatz. Welches war die richtige? –
Lilli verlegte sich pfiffig auf das Horchen, trotzdem sie wußte, daß dies nicht anständig war. Not kennt kein Gebot.
»Hier weinen Kinder; da kann es nicht sein – da schimpft eine alte Frauenstimme; wenn er Junggeselle ist, wird das wohl auch nicht stimmen. Aber hier« – noch einmal lehnte sie den Blondkopf an den Türpfosten – »hört ihr's?« – sie winkte den anderen – »als ob viele Vögel durcheinanderpiepsen! Hier wohnt er bestimmt.«
Die kleine Lilli gab sich einen entschlossenen Ruck und klopfte, trotzdem auch ihr das Herz bis in den Hals hinein schlug, mutig an die betreffende Tür.
Kein »Herein« erschallte; keine Schritte ließen sich hören.
»Err wirrd sich sein gegangen spazierren,« ließ sich Iwan, ungeheuer erleichtert, hören, denn er war immer nur dreist und unverschämt, solange die Strafe nicht unmittelbar bevorstand.
»Nein, wenn er seine Tauben ausfliegen läßt, ist er zu Hause.«
Walter Ritter, als Ältester, setzte kühn den Porzellangriff der altmodischen Türschelle in Bewegung. Die ließ einen heiser krächzenden Ton vernehmen.
Schlurfende Schritte näherten sich. Die Tür wurde geöffnet. Ein alter Mann, ein grünes, verschossenes Samtkäppchen mit langer Troddel auf dem kahlen Kopf, stand mit verdutztem Gesicht vor den unwillkürlich zurückweichenden vier Besuchern. Piepsen, Kreischen, Durcheinanderflöten und Schmettern einer Unzahl von Vögeln drang aus der geöffneten Tür.
»Na, rein oder raus?« brummte der Alte wenig einladend. »Meine Vögel können den Zug nicht vertragen.«
Trotzdem sie eigentlich alle im Grunde ihres Herzens mehr für »raus« waren als für »rein«, entschlossen sie sich doch, näherzutreten. Den zurückweichenden Iwan schoben Lilli und Sonja mit vereinten Kräften vor sich her.
»Was verschafft mir die Ehre?« fragte der Alte brummig mit derselben heiseren, krächzenden Stimme wie die Türschelle draußen.
Die jungen Gäste vermochten zuerst gar keine Antwort zu geben. Sie waren völlig benommen von dem Gezwitscher und Geflatter in dem engen Stübchen. Bauer neben Bauer hing an den leeren Wänden, und in jedem flötete, tirilierte, piepte und schmetterte es, je nach der Art. Etwa ein Dutzend Vögel flogen frei in dem Zimmer umher. Papageien schaukelten sich in ihren Ringen, und eine große schwarze Elster am Ofen plapperte unaufhörlich unverständliche Worte.
Nachdem Lilli sich einigermaßen von ihrem Staunen erholt hatte, gab sie Iwan einen freundschaftlichen Rippenstoß als Aufforderung, sich nun endlich zu entschuldigen. Unbehaglich schob sich der kleine Russe vorwärts.
»Derr Taube sein gekommt gefliegt in Fenster; hab' ich ihm genemmt – – –«
Aber er kam mit seiner Rede nicht weiter.
»Halt den Dieb!« schrie es plötzlich hinter ihm dazwischen, daß er entsetzt zur Seite sprang. Wer wußte denn hier bloß, daß er die Taube hatte stehlen wollen – daß er die Unwahrheit sprach?
Kaum wagte er den Kopf nach der Ecke zu drehen, aus der die ärgerliche Stimme erklungen war. Da saß ein unscheinbarer grauer Papagei und sah Iwan aus seinen Äuglein strafend an. Erleichtert atmete der Junge auf. Lilli aber konnte sich nicht helfen: trotz des befangenen Drucks, den die merkwürdige Umgebung auf sie ausübte, mußte sie lachen – lachen – – –
Die anderen stimmten schüchtern mit ein. Aber auch der alte Mann verzog sein Gesicht in tausend kleine Fältchen; selbst auf ihn wirkte Lilli Liliputs junges Lachen ansteckend. Aus seinem Munde klang ein Ton, wie das Quietschen eines eingerosteten Schlosses. Viele Jahre war es her, daß er nicht mehr gelacht, daß er das Lachen verlernt hatte.
Lilli hatte jetzt ihre sonstige Unbefangenheit wiedergewonnen. Mit ihrer gewinnenden Liebenswürdigkeit trat sie auf den seltsamen Alten zu.
»Bitte, seien Sie Iwan nicht böse; er hat das Täubchen, das auf das Blumenbrett meiner Freundin geflogen war, ins Zimmer hineingenommen. Dabei hat er es wohl am Flügel verletzt – es tut uns allen so schrecklich leid –« bittend sahen ihre sonnigen Braunaugen den Alten an.
Dem wurde es ganz seltsam bei diesem Blick zumute, als ob nach langer, langer Zeit wieder ein vermauertes Tor aufspringe und er hinausblicke in lichte grüne Weiten. Seit er die Menschen, von denen er Undank erfahren hatte, mied und sich auf den Umgang der Vögel beschränkte, hatte zum erstenmal wieder eines Menschen Wort und Blick ihm an das verknöcherte alte Herz gerührt.
Walter reichte dem Alten die verletzte Taube dar. Mit unverständlichem Gebrumm nahm er sie in Empfang.
Lilli, die glaubte, daß der alte Mann ärgerlich sei, versuchte noch einmal ihr Heil.
»Bitte, seien Sie doch nicht mehr böse! Das arme Tierchen – wird es nun nie mehr fliegen können?« fragte sie mitleidig.
Der Alte befühlte die Taube umständlich und setzte sie darauf nieder.
»Das heilt sich aus,« knurrte er dann. »Hast doch noch ein Herz für die Tiere, Kind! Das haben die wenigsten – weder für Mensch noch für Tier.«
Er griff nach einem kleinen Holzbauer, in dem ein munteres Rotkehlchen vergnüglich herumhüpfte.
»So, das schenke ich dir zur Erinnerung daran, daß du einem alten Mann, der die Menschen verachtet, gezeigt hast, daß es auch noch gute unter ihnen gibt. Und wenn man dich fragt, von wem du das Rotkehlchen hast, dann sage, vom ›verrückten Vogeladolf‹; so pflegen mich die Leute zu nennen. Guten Abend!«
Er wandte sich jäh ab, als ob er dem jungen Mädchen irgend eine Grobheit gesagt und ihm nicht etwas Gutes angetan hätte.
Lilli Liliput, die das »Du« zuerst nicht gerade angenehm berührt hatte, überwand ihre Verstimmung darüber schnell. Sie ergriff mit der einen Hand das Rotkehlchen, mit der anderen die Rechte des sich Abwendenden.
»Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Freundlichkeit!«
»Unsinn – will keinen Dank – – –«
»Halt's Maul!« schrie auch der Papagei.
Das waren die letzten Worte, welche die vier aus dem merkwürdigen Vogelstübchen vernahmen. Dann schlug die Tür hinter ihnen zu.
Draußen machten sich die drei, die drin geschwiegen hatten, Luft.
»Hu – ich mirr haben gefurchten,« rief Sonja.
»Das also war der verrückte Vogeladolf, von dem hier so oft die Rede ist? Den habe ich mir noch schlimmer vorgestellt,« ließ sich Walter Ritter hören.
»Derr Rrotkehlchen gehörren mirr,« behauptete Iwan plötzlich wieder ganz dreist. »Wenn niicht iich hätten genehmt der Taube, du niicht hätten gekriegen geschunken das Vogel.«
Lilli sagte gar nichts. Nachdenklich blickte sie auf den munteren kleinen Sänger in ihrer Hand. Der alte Mann, der dort oben so einsam, fern von den Menschen, die ihn enttäuscht hatten, zwischen Tieren hauste, tat ihrer jungen Seele weh.
Aber als sie nun wieder Lenas sonniges Stübchen betraten, wo ihnen die Freundinnen in höchster Aufregung mit tausend Fragen entgegenstürzten, da gewann auch sie bald ihre sonstige Lebhaftigkeit wieder und erzählte mit den anderen um die Wette den aufhorchenden Freundinnen von ihren Erlebnissen. Nein, war das sonderbar! Ilse und Lena bedauerten aufrichtig, dem Vogeladolf nicht auch ihren Besuch abgestattet zu haben. Den ganzen Nachmittag über war in der »Laube« von nichts anderem die Rede als von dem wunderbaren Abenteuer.
Plötzlich rief Lilli Liliput: »Kinder, über der Vogelgeschichte habe ich ja den allerwichtigsten Vogel vergessen – ich habe eine große Neuigkeit!«
»Schieße los!« drängten die Freundinnen.
»Also sie ist süß,« erklärte Lilli und warf einen himmelnden Blick zu dem Schornstein empor.
»Das wissen wir ja schon längst, daß dein Fräulein Gretchen süß ist,« lachte Ilse.
»Und heute haben wir die letzte Turnstunde gehabt,« fuhr Lilli fort, ohne den Einwurf zu beachten.
»Auch das ist uns bekannt. Wo bleibt die große Neuigkeit?«
»Ja, und wo bleibt der wichtigste Vogel?«
»Geduld – Geduld! Also Fräulein Gretchen will mit uns, ihren Turnschülerinnen – wenn unsere Eltern es erlauben, aber das müssen sie! – während des Sommers einen Wandervogelverein gründen. Und unsere Freundinnen und Brüder dürfen wir auch dazu auffordern! Ist das nicht süß?«
Wieder hing Lilli Liliputs Blick schwärmerisch an dem qualmenden Schornstein.
»Himmlisch!« Dreistimmig erklang es jubelnd.
»Heute haben wir es aber wirklich mit lauter Vögeln zu tun,« meinte das Heimchen.
»Was ist eigentlich ein Wandervogelverein?« erkundigte sich das Prinzeßchen, nachdem sich die erste Freude gelegt hatte.
»Das ist – das ist – das ist eben ein Wandervogelverein! Da macht man Ausflüge und kocht selbst im Freien ab und übernachtet im Heu – wenigstens manchmal – und es ist einfach wundervoll,« lautete Lilli Liliputs Erklärung, »und das Allerschönste daran ist, daß sie – die Süße – das alles mit uns unternehmen will.«
»Märchenkobold, du hast ja selbst einen Vogel mit deiner Begeisterung für die Süße,« neckte die »Intimste«.
Dann begann man eifrig Pläne für den Wandervogelverein zu machen. Abends forderte Lilli sogar Ruth und Walter Ritter dazu auf; dabei hatte sie selbst noch gar keine Erlaubnis.
Das Kränzchen bei Heimchen war entzückend gemütlich. Die Stullen von dem selbstverdienten Gelde schmeckten wie nirgends. Iwan, Lillis Angstkind, war jetzt von einer geradezu beunruhigenden Zahmheit. Erst als er beim Abendbrot sein Glas Himbeerwasser über das Tischtuch goß, verspürte Lilli, so unangenehm es ihr auch war, eine gewisse Erleichterung. Sie war nach dem Vorangegangenen noch auf Schlimmeres gefaßt gewesen.
Ludwig holte die »jungen Damen« ab. Strahlend zeigte Lilli ihm ihr Rotkehlchen und erzählte ihm von dem sonderbaren Geber. Auch der Bruder wurde sofort in den Bund der Wandervögel mit aufgenommen.
Hell klang das Lachen und Scherzen der jungen Menschenkinder in den linden Abend hinaus. Der Abendwind trug es auf seinen Schwingen davon bis zu einem Dachfensterchen, an dem ein einsamer alter Mann lehnte, der das Lachen völlig verlernt hatte.