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Der erste Besuch

Es schien, als ob sich Petrus mit Mutter gegen die Herzensfreundschaft der beiden Mädel verbündet hätte. Jeden Morgen, wenn Lilli gleich barfuß ans Fenster eilte, ob denn nicht die Sonne scheine, sah sie in stumpfes Regengrau, auf tropfende Blätter und große Pfützen.

Tagelang tauchte kein schwarzer Lackhut auf dem Bahnsteig auf, und auch mittags forschte Lilli vergebens nach der Freundin. Ihr Schulweg war näher als der von Ilse, und sie wagte nach ihrem späten Heimkommen neulich nicht, auf die Freundin zu warten.

Fast eine Woche verging seit dem Abschluß des Herzensbündnisses der Braunen und der Blonden; da hatte der Himmel endlich ein Einsehen. In strahlender Bläue lachte er auf die mit ihm um die Wette strahlende und lachende Lilli herab.

»Endlich!« Wie aus einem Munde klang die Begrüßung der Wiedervereinten; dann knickste Ilse errötend vor Lillis Vater und bot dem Bruder schüchtern die Hand, die dieser kameradschaftlich schüttelte.

Ganz selbstverständlich, als könne es gar nicht anders sein, stieg Ilse Gerhard mit in das Abteil dritter Klasse. Aber wenn Lilli gedacht hatte, daß nun wieder ein herrliches Plauderstündchen für sie beginnen würde, hatte sie sich geirrt. Die kleine Lilli kam kaum zu Wort. Vater führte das Gespräch. Seine gütige Art wußte jede Befangenheit Ilses zu zerstreuen.

Sie erzählte von ihrem Leben daheim, gab auf alle Fragen offene Antwort, und bald hatte der Lehrer, der gewöhnt war, Kinderherzen zu erforschen, ein klares Bild von der jungen Mädchenseele. Da lag keine Gefahr für seine Lilli vor! Ilse war ein aufrichtiges und warmherziges Kind, das keine Überhebung und keinen dünkelhaften Stolz kannte. Und sein Liliputchen – ei, das sollte ganz ruhig mal das Näschen in andere Kreise hineinstecken! Es war alt genug, um den Unterschied zwischen äußerlichem und innerlichem Reichtum herauszufinden. Denn daß die braunlockige Ilse, die den größten Teil des Jahres die liebende Mutterhand entbehrte, ärmer war als sein Kind, war dem feinfühlenden Erzieher nicht entgangen. Frau Mieze hatte nichts zu befürchten; Lillis sonniges Wesen durfte ruhig in das liebebedürftige Herz der jungen Fremden Sonnenschein tragen.

Lilli fühlte sich zurückgesetzt. Nicht einmal zu dem Austausch der Freundschaftszeichen war es gekommen! Nun war man gleich da, und sie hatte überhaupt noch nicht gehört, ob Ilse in dieser Regenwoche auch so viel an sie gedacht hatte, wie es umgekehrt der Fall gewesen war! Zum erstenmal war sie mit Vatchen nicht einverstanden – es war doch ihre Freundin!

Aber als der Vater Ilse jetzt verabschiedend die Rechte reichte und freundlich sagte: Wie wäre es denn, wenn du unsere Lilli mal besuchtest, Kind? Vielleicht morgen nachmittag, falls du zu Hause die Erlaubnis bekommst?«, da griff Lilli in überschwenglicher Dankbarkeit nach der Linken des Vaters. Und während Ilse rechts mit glücklichen Augen versicherte, daß sie »ganz schrecklich gern« kommen würde, flüsterte Lilli links: »Du bist das aller-allerbeste Vatchen auf der ganzen Welt!«

War es da ein Wunder, daß sie in ihrer Vorfreude vergaß, den Glücksklee herauszunehmen, bevor sie ihr Rechenheft bei Fräulein Neubrink, der gestrengen Oberlehrerin, abgab?

Am nächsten Tage herrschte in dem weißen weinumsponnenen Häuschen in der Kirschallee eine Stimmung ähnlich der vor Weihnachten. Lilli war wie Quecksilber und von einer Aufregung, als ginge die Bescherung jeden Augenblick los.

Jetzt war sie im Garten, gleich darauf im Eßzimmer; nun steckte sie den Blondkopf in Margots Spielwinkel, und schon jagte sie die Treppe wieder hinauf in ihr Mansardenreich.

Wie würde es Ilse bloß bei ihr gefallen? Ihr kleines Zimmer war immer aufgeräumt und ordentlich, aber heute konnte sich Lilli gar nicht genug an Ordnungsliebe tun. Jeder Wandfächer wurde geradegerückt; kein gelbes Blättchen durften die Blumentöpfe auf dem Fensterbrett zeigen. Eine frisch gewaschene Decke für den Tisch hatte sie Mutti abgebettelt, und das alte Ledersofa, das hie und da Narben von allzu lebhaften Kinderfüßchen aufwies, hatte sie an den schadhaften Stellen erfinderisch mit Tinte geschwärzt. Am liebsten hätte sie auch Goldschopf frisiert, der mit seinem plusterigen gelben Federkleid recht wenig besuchsmäßig ausschaute; aber da sie ihren Stolz darein gesetzt hatte, den Kaffeetisch ganz allein zu decken, blieb ihr – zum Glück für das Vögelchen – keine Zeit mehr.

Lillis Aufgabe war es stets, die Vasen in den Zimmern mit Blumen aus dem Garten zu füllen. So erzog die Mutter ihr Kind zu gutem Geschmack und zur Schönheitsliebe. Heute hatte sie wundervoll abschattierte Astern vom Mattrosa bis zum tiefsten Lila in der bauchigen Schale geordnet, das einzige, was der Herbstgarten noch hergab. Selbst die Gußzwiebäcke – zu Kuchen hatte sich Muttchen durchaus nicht bereit finden lassen – bekamen dadurch ein festtägliches Aussehen.

Nun stand Lilli, mit einer weißen Schürze angetan, am Gartentor und reckte den Hals. Ludwig spähte aus dem Bodenfenster, als dem besten Aussichtspunkt, während Klein-Margot sich am Fenster aufgepflanzt hatte, um das feine Auto zu sehen.

Aber da kam kein Auto vorgefahren, sondern ganz bescheiden zu Fuß tauchte Ilse auf, diesmal im blauen Matrosenkleid. Neben ihr aber – o Himmel, an diese Möglichkeit hatte Lilli noch gar nicht gedacht – schritt ernst und feierlich die Miß!

Lillis Jubelschrei, mit dem sie der Freundin sonst wohl entgegengestürzt wäre, wurde durch diesen Anblick in eine wohlerzogene Begrüßung verwandelt. Trotzdem sie ziemlich enttäuscht war, die Freundin nicht allein zu genießen, bat sie die Miß freundlich, näher zu treten.

»O yes, I wish to speak your mother,« war die Antwort.

Ratlos sah Lilli auf Ilse. Sie hatte immer »Sehr gut« in Englisch, und nun verstand sie von den durch die Zähne gesprochenen Worten nicht das geringste. Eigentlich recht beschämend!

»Miß White will gern deine Mutter kennen lernen,« verdolmetschte Ilse, die fließend Englisch sprach.

Frau Mieze kam ihren Gästen schon begrüßend entgegen. Ihre herzliche Art, mit der sie Lillis neue Freundin willkommen hieß, ließ selbst die meist etwas gefrorene Miß auftauen.

»O yes – I see, I can trust you with our Ilse,« erklärte sie beruhigt.

»Ich denke, daß Ihre kleine Pflegebefohlene gut bei uns aufgehoben ist,« gab Frau Mieze lächelnd in deutscher Sprache zurück. »Aber wollen Sie uns schon verlassen?«

»O, I have to shop something in town; I will come in the evening to call for Ilse.«

Trotzdem Miß White in Deutschland lebte und die deutsche Sprache beherrschte, pflegte sie dieselbe nie zu gebrauchen; das wäre ihr als ein Verrat an ihrer Muttersprache erschienen. Zum Glück verstand Frau Mieze mehr Englisch als ihr Töchterchen. Aber das begriff Lilli zu ihrer größten Erleichterung, daß sich die Miß jetzt empfahl, und auch Ludwigs geringschätziges Gemurmel verstand sie: »Gottlob, daß die absockt!«.

Nun saß man um den blumengeschmückten Kaffeetisch, und Ilse ließ sich die Gußzwiebäcke schmecken, als gäbe es überhaupt keinen Kuchen auf der Welt. Es wurde ein Lachen und Scherzen, daß Frau Mieze das noch immer junge Herz mit aufging – daß sogar Ludwig heimlich zu der Ansicht kam: »Mädchenfreundschaften sind eigentlich gar nicht so öde,« und Klein-Margot in Zweifel geriet, wer netter sei, ihre Lilli oder die neue Freundin.

Ilse war von allem begeistert: von den gemütlichen Räumen, die viel anheimelnder wirkten als die hochherrschaftlichen Zimmer daheim, wie von dem Garten mit den Turngeräten und dem kleinen Hühnerhof, in dem es lustig scharrte und pickte. Den langen Ludwig fand Ilse, die eigentlich solche großen Jungen nicht recht leiden konnte, riesig nett und Klein-Margot mit ihrem blonden Lockenkopf einfach süß. Aber das beste war Lillis Mutter. Frau Miezes warmes Wesen hatte ihr sofort das Herz der jungen Fremden gewonnen. Ach, wenn ihre Mama doch auch gesund wäre!

Am begeistertsten jedoch war Ilse von dem Reiche ihrer Lilli. Das Mansardenstübchen mit den Blumen und dem jubilierenden Goldschopf hatte es ihr gleich im ersten Augenblick angetan, als ob sie es fühlte, daß sie hier die schönsten Stunden ihrer Mädchenfreundschaft verbringen würden.

»Und dies ist das Märchensofa,« erklärte Ludwig, der es sich nicht nehmen ließ, als Führer mitzugehen.

Ehe Lilli noch: »Vorsicht – Tinte!« rufen konnte, saß er schon mit seinen neuen grauen Schulhosen auf dem von Lilli so kunstvoll lackierten Sitz.

O weh – das sah bös aus! Die Hosen zeigten eine düstere Kehrseite, und auch an Ludwigs heiterem Stimmungshimmel zog es düster auf, wenn er an der Mutter Vorwürfe dachte.

»Ach, was mache ich denn jetzt bloß? Ist es sehr schlimm, Lilli?« Er lief ängstlich im Zimmer auf und ab.

Aber Lilli konnte keine Antwort geben. Die hielt sich die Seiten vor Lachen über den drolligen Anblick.

Ilse fühlte Mitleid mit dem armen Jungen.

»Es ist nicht so arg, und meine alte Alwine hat neulich mit Milch einen großen Tintenfleck aus meinem weißen Kleid herausbekommen; man sieht nichts mehr davon. Du mußt die Flecke in Milch waschen.«

»Das merkt doch Mutter, wenn ich plötzlich andere Hosen anhabe. Ach, was mache ich denn bloß?«

Jetzt erwachte auch Lillis Tatkraft, als sie den Bruder so unglücklich sah.

»Laß sein, Lulu! Ich schaffe Rat.«

Wie der Wind war sie aus dem Zimmer, und im Umsehen kam sie auch schon wieder zurück, in den Händen vorsichtig die Katzenschüssel tragend.

Im Mansardenstübchen wurden die lustigsten Spiele veranstaltet.

»Mija hat ihre Milch heute nicht getrunken. Komm, setze dich hinein! Dann gehen die Flecke aus.«

Damit stellte sie die Schüssel auf einen Stuhl und drückte den noch etwas widerstrebenden Bruder in das weiße Bad.

»Wir leisten ihm Gesellschaft – nicht, Ilse? Wir können ja Unterhaltungsspiele vornehmen,« schlug sie treu schwesterlich vor.

Ilse war natürlich einverstanden, und nun wurden in dem Mansardenstübchen die lustigsten Spiele veranstaltet. Nur kam es vor, daß Ludwig bei der Frage: »Wie gefällt dir dein Nachbar?« nicht von seinem Sitz aufspringen konnte, aber das erhöhte noch die Fröhlichkeit.

Als Mutter zum Abendbrot rief, hatten Ludwigs Hosen inzwischen von der in die Tinte gelaufenen Milch eine blitzblaue Färbung angenommen. Es half nichts, er mußte sich umkleiden. So hatte Ilses erster Besuch in dem Lehrerhäuschen, so schön er auch gewesen war, ein trauriges Nachspiel.

Aber nicht nur für den in Tinte und Milch gesetzten Ludwig! Auch seine Zwillingsschwester Lilli weinte am nächsten Tage in der Schule bittere Tränen. Das war, als Fräulein Neubrink die Rechenhefte zurückgab und in unzufriedenem Ton sich zur Ersten wandte: »Natürlich, Lilli, wenn man Allotria im Kopf hat, ist es kein Wunder, daß man, statt zu multiplizieren, dividiert. Du hast alle Aufgaben falsch gerechnet.« Damit hielt die gestrenge Oberlehrerin strafend einen winzigen rosa Bogen in die Höhe, auf dem ein vierblättriges Kleeblatt »zur ewigen Erinnerung« prangte. Mittendurch riß sie den unschuldigen Glücksklee und übergab ihn hartherzig dem Papierkasten. Lilli aber hatte in der durchstrichenen Rechenarbeit eine bleibende Erinnerung an Ilses ersten Besuch.


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