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Als Lilli Steffen das Licht der Welt erblickte, war sie nicht viel kleiner, als es im allgemeinen neugeborene junge Damen zu sein pflegen. Gegen ihren um drei ganze Stunden jüngeren Bruder Ludwig allerdings, der als Riesenkind seinen Einzug in das weinumrankte Lehrerhäuschen hielt, sah unsere Lilli wie ein Püppchen aus.
»Der Junge könnte der Vater von dem kleinen Wurm sein,« sagte Doktor Ernst Steffen und wiegte lachend in jedem Arm ein quakendes Bündel.
Frau Mieze aber lächelte.
»Mach mir mein kleines Mädchen nicht schlecht, Ernst! Das wird schon sein Recht in der Welt zu behaupten wissen.«
Als ob Klein-Lilli der Mutter Verteidigungsrede verstanden hätte, begann sie im selben Augenblick mit erhobener Stimme zu schreien, so laut und kräftig, daß man es dem zarten Dinge gar nicht zutraute.
Und so blieb es: Lilli hatte die erste Stimme im Hause! Während das Brüderchen still am Daumen lutschte und den größten Teil seines ersten Lebensjahres verschlief, zeigte sich Lilli als ein aufgewecktes, munteres Dingelchen, das bald laut krähte und jauchzte.
Selten waren Zwillinge so verschieden. Wenn Frau Mieze mit ihrem weißen Kinderwagen durch die Villenstraße des Berliner Vorortes fuhr, blieben oft die Vorübergehenden stehen, um sich am Anblick der reizenden Kinder zu freuen. Aber niemand wollte glauben, daß die beiden Zwillinge seien.
Geruhte der Junge ausnahmsweise mal seine Augen aufzumachen, so schien es zweifelhaft, welches das schönere von beiden Kindern sei. Brüderchen war ein rosiger Pausback mit tiefblauen Augen und seidenweichen dunklen Haaren; das Schwesterchen dagegen hatte ein zartes Gesicht, von goldenen Löckchen umrahmt. Wen Klein-Lilli aus ihren braunen Schelmenaugen anlachte, der mußte ihr gut sein.
Noch bevor das Pärchen den ersten Geburtstag feierte, tappelte das kleine Mädchen, in seinem lichten Kleid wie ein weißer Punkt anzuschauen, durch Haus und Garten, während die dicken Beine des Bruders noch lange das Gehen für zu anstrengend hielten.
Auch beim Sprechen bewies Lilli, daß sie die Ältere war. Papa – Mama – Lulu – eine Welt von Zärtlichkeit wußte die Kleine in die drei ersten Worte ihrer Sprechkunst zu legen. Besonders das Wort »Lulu« – so nannte sie ihr Zwillingsbrüderchen – plapperte sie von morgens bis abends, und bald wurde der Kleine allgemein mit diesem Namen gerufen.
Lilli und Lulu liebten sich abgöttisch. Darin zeigten sie, trotz ihrer äußerlichen Verschiedenheit, daß sie echte Zwillinge waren. Sobald Klein-Lilli auf eigenen Füßen in die Welt hineinmarschierte, fühlte sie eine Art mütterliche Sorge und Verantwortung für den unbeholfenen Bruder. Jeden Zwieback, den sie bekam, hielt sie zuerst ihrem Lulu hin; jedes Spielzeug, nach dem er das dicke Patschhändchen ausstreckte, überließ sie ihm großmütig.
»Unsere Lilli ist viel zu gut zu dem Jungen,« sagte die Mutter oft, ihre Zwillinge beobachtend. »Wenn der Lulu erst merkt, daß er der bei weitem stärkere ist, wird er die Kleine für all ihre Liebe oft genug verhauen.«
Mit dieser Weissagung behielt aber die Mutter nicht recht. Die Kinder vertrugen sich großartig. Lulu liebte seine Lilli fast mehr als die Eltern. Ja, als der Vater eines Tages der Kleinen, die schon früh ihr Köpfchen für sich hatte, einen Klaps gab, um ihren Eigenwillen zu brechen, schlug der noch nicht zweijährige Lulu, als getreuer Ritter seiner Lilli, sogar nach dem Vater. Da bekam auch Lulu sein Teil ab, und nun heulten sie im Duett.
An der Hand Lillis, die selbst noch ein wenig unsicher auf ihren Beinen einhertorkelte, machte Lulu seine ersten Gehversuche, bis sie schließlich alle beide auf dem Näschen lagen.
»Puttchen« nannten die Eltern das winzige Dingelchen, das wie ein Sonnenstrahl durch das Haus tanzte, überall Lachen und Frohsinn verbreitend.
»Putt« rief auch Lulu, als er sich endlich zum Sprechen bequemte, und wenn sie darauf noch nicht hörte: »Lilli-Putt«.
Vater saß an seinem Schreibtisch und verbesserte lateinische Hefte, als der Name »Liliput« zum erstenmal von den Lippen seines Sprößlings durch das Haus flog. Lachend sprang er auf und eilte zur Mutter.
»Mieze, Frau, hast du gehört, wie der Junge eben die Kleine rief? Liliput – eine treffendere Bezeichnung gibt es nicht für sie. Da« – er hielt das kleine jauchzende Ding in die Höhe – »schaut sie mit ihren zierlichen Gliedern nicht aus, als ob sie wirklich dem Lande Liliput entstammte?«
»Mein Liliputchen!« Die Mutter fing kosend das nach ihr angelnde Töchterchen auf.
»Liliput!« rief Lulu noch einmal und hing sich eifersüchtig an das Kleid der Kleinen.
Das war der entscheidende Augenblick in Lillis Leben. Von diesem Tage an hatte sie ihren Beinamen, der ihr später im Lauf der Jahre noch so manche Träne auspressen sollte.
Liliputchen! Vater und Mutter riefen sie von nun an so. Großmama bemächtigte sich voll Zärtlichkeit dieser Koseform. Die Onkel und Tanten nahmen sie an, die Freunde des Hauses, ja, auch die Dienstboten. Kein Name hätte besser für die kleine Lilli gepaßt.
Die Jahre vergingen. Liliputchen ritt auf Lulus Schaukelpferd, und Lulu schob den Puppenwagen des Schwesterchens. Dann kam ein Morgen, an dem das Zwillingspärchen Hand in Hand, die Schulmappe auf dem Rücken, voll ungeheurem Stolz neben dem Vater hertrabte – der erste Schultag! Mutter schaute ihren Kleinen mit schwimmenden Augen nach. Wie sie lachend und glücklich in das neue Leben hineinsprangen, ohne eine Ahnung, daß sich mit diesem Tage das eigentliche Kindheitsparadies, das Reich des unbewußten, sorglosen Spieles, hinter ihnen schloß! Ja, jetzt kam auch für ihre Zwillinge der Ernst und die Pflicht.
Mutter mußte unter Tränen lächeln. Was sie da gerade vor sich sah, war noch recht weit entfernt von Ernst. Liliputchen, deren Schulmappe fast größer erschien als sie selbst, versuchte Lulu, dem sie gerade bis zur Schulter reichte, das Gesicht mit ihrem heraushängenden Tafelschwamm zu waschen. Jetzt schien Vater Einspruch zu erheben – nun bogen sie um die Ecke – das letzte Zipfelchen von Lillis rotem Mantel grüßte noch einmal, ehe es dem Mutterauge entschwand.
Frau Mieze ging wieder an die Arbeit, aber ihre Gedanken wandelten mit ihren beiden Kleinen ins fremde Leben hinein. Und als von der nahegelegenen Station der Pfiff des Zuges herüberschrillte, der ihre Lieblinge jetzt täglich in das große Berlin zur Schule bringen sollte, drängte sich doch wieder eine fürwitzige Träne ihr ins Auge. Aber sie wurde entschlossen fortgewischt.
Die Zeitenspule schnurrte unentwegt weiter. Aus den kleinen Abcschützen wurden ein eifriges Schulmädel mit langen blonden Zöpfen und ein tüchtiger Lateiner.
Freilich, die Blondzöpfe waren, wie Vater lachend zu sagen pflegte, das Längste an seinem Liliputchen. Sie hingen der jungen Besitzerin weit über den Rücken herab, und da sie sich niemals im Ruhezustand, sondern immer in hüpfender Gangart befand, hopsten die langen Zöpfe stets mit ihr um die Wette. Es war, als ob alles Wachstum in Lillis Blondhaar hineingegangen wäre.
Während Lulu ein großer schlanker Junge wurde, beim Turnen der Anführer seiner Riege, bildete Lilli stets den Schwanz der Turnschlange in ihrer Schule. Sogar als sie ein Halbjahr lang mit der unteren Abteilung zusammen turnte, mußte sie die schmerzliche Erfahrung machen, selbst da noch die Letzte zu sein.
Dafür war sie aber in den anderen Stunden allen voran. Durch sämtliche Klassen war sie die Erste. Keine war so lernbegierig, aufmerksam und fleißig wie Lilli Liliput.
Ja, das war der einzige dunkle Punkt in der Schule: sie wurde auch dort Lilli Liliput genannt! Wer es zuerst aufbrachte, ob eine Schulfreundin, die den Namen in Lillis Elternhaus gehört hatte, oder ob eine der Lehrerinnen auf die sehr naheliegende Bezeichnung für das zierliche Persönchen kam, war später nicht mehr festzustellen.
Gleich in der untersten Klasse riefen die Lehrerinnen das winzige Ding, das noch viel zu klein für den Schulbesuch erschien, Lilli Liliput, und dies Wort folgte ihm getreulich durch alle Klassen.
Solange die Kleine noch nicht in die Schule ging, hatte sie ihren Namen Liliputchen als etwas Selbstverständliches hingenommen. Im Gegenteil, wenn Vater oder Mutter sie mal ausnahmsweise »Lilli« riefen, wurde es ihr unbehaglich zumute. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß sie irgend etwas auf dem Kerbholz hatte.
Aber in der Schule – nein – dort wollte sie nicht kleiner sein als die übrigen Kinder! Wie sie geistig beim Lernen alle überflügelte, so hätte sie es auch gern körperlich getan. Aber da half nichts, weder das stundenlange Hängen an den Schaukelringen, bis sie Blasen an den Händen bekam, noch das Recken und Strecken der Beine abends im Bett. Lilli war und blieb ein Liliputchen.
»Ach, Lulu, könntest du mir doch etwas von deiner Größe abgeben; du behieltest immer noch genug übrig,« seufzte sie oft, zu dem stattlichen Zwillingsbruder emporsehend.
»Ich würde es gern tun, Liliputchen!«
Zärtlich schlang der Große den Arm um die kleine Schwester. Und das war gewiß: Lulu hätte keinen Augenblick geschwankt, sich ein Stück von seinen langen Beinen abzuschneiden, wenn er damit seiner Lilli hätte helfen können.
Als die Zwillinge ins neunte Jahr gingen, bekamen sie noch ein Schwesterchen, eine kleine Margot. Heller Jubel schallte durch das Haus.
»Nun bin ich endlich die Große,« frohlockte Lilli.
Sie wurde es nicht müde, an dem mullumbauschten Korb zu stehen, in dem das Schwesterchen schlief, und das kleine Wesen zu bewundern. Ganz behutsam legte sie ihre Hand neben das rosige Fäustchen des Kindes. Wirklich, es war ein größerer Unterschied, als wenn sie ihre Hand mit Lulus derber Jungenfaust verglich. In diesem Augenblick fühlte sich Lilli ungemein groß.
»Nun halte dich aber 'ran, Liliputchen, daß dir Klein-Margot nicht etwa über den Kopf wächst,« scherzte der hinzutretende Vater.
Lilli wurde rot und dann blaß. Um ihren erhebenden Stolz war es geschehen. Daran hatte sie noch nicht gedacht, daß das Schwesterchen nicht so klein blieb, sondern sie am Ende noch überholen könnte. Das war der erste bittere Tropfen in Lillis Glück.
Na, vorläufig hatte es aber damit gute Wege. Die kleine Margot war so hilfsbedürftig, daß Lillis zärtliche Fürsorge, die sie bisher nur ihren Puppen, den Hühnern, Vögeln, Blumen und allenfalls noch Schnauzel, dem Dackel, hatte angedeihen lassen, aufs lebhafteste sich betätigen konnte.
Mutter hatte wirklich Freude an ihrem umsichtigen Liliputchen. Hoch oben auf der Fußbank thronte es – denn sonst langte es nicht heran – und gab dem Schwesterchen geschickt die Flasche zu trinken. Es reichte der Mutter beim Baden Schwamm und Seife zu und beruhigte das Kleinchen zärtlich, wenn es weinte. Lillis Sonnenaugen bewiesen ihre Kraft selbst dem Schwesterchen gegenüber. Wenn sie es anschaute, verzog sich das noch eben weinerliche Mäulchen sogleich zum Lachen.
Sobald die Schularbeiten beendigt waren, hockte Lilli an Margots Wagen. Wie glücklich war sie, als sie die Kleine zum erstenmal eigenhändig herumfahren durfte! Zuerst freilich nur auf den Gartenwegen, später aber auch in den baumbestandenen Straßen. Da trabten allerdings Lulu und Schnauzel als Wächter noch nebenher. Es war erstaunlich, wie geschickt die kleine Lilli den großen Kinderwagen meisterte; nur an den Dammübergängen griff der stärkere Bruder helfend ein.
Man kannte die hübschen Zwillinge, die so liebevoll ihre kleine Schwester spazieren fuhren, da draußen in dem stillen Vorort allgemein. Manch freundliches Wort wurde ihnen; ja, auch manches Stück Schokolade spendete man den reizenden Kindern. Besonders in dem großen Sanatorium an der Ecke hatten Oberlehrers Vier – denn auch Schnauzel wurde mit zur Familie gerechnet – viele gute Freunde. Dort mußte die weiße Kutsche von Klein-Margot stets haltmachen.
Lulu wurde eifersüchtig. Das heißt, so weit kam es eigentlich gar nicht bei ihm; dafür war er ein viel zu guter Junge. Aber er fand, daß Lilli sich jetzt viel mehr um Klein-Margot kümmerte als um ihn selbst. Sie hatte entschieden mehr Aufmerksamkeit für Margots Kunststücke als für seine neueste indische Briefmarke. Dabei hatte er dieselbe doch gegen ein ganzes Stück Gummizucker, zwei neue Löschblätter, fünf Knallerbsen und mehrere Murmeln glücklich in der Klasse eingetauscht.
Eines Tages kam es denn auch zur Aussprache zwischen den Zwillingen. Die Mütze auf dem Kopf, durchschritt Lulu mit möglichst gleichgültiger Miene den Vorgarten, in dem Lilli in Gemeinschaft mit Schnauzel das schlafende Schwesterchen behütete.
»Wo gehst du hin, Lulu?« fragte Lilli erstaunt.
»Was kümmert dich denn das noch?« wollte der Junge schon aus dem Gefühl des Zurückgesetztseins heraus antworten; da sah er seiner Lilli zum Glück in das liebe Gesicht, und merkwürdig: den fragenden Braunaugen der Schwester gegenüber brachte er das unfreundliche Wort nicht über die Lippen.
Nur ein hastiges: »Kümmerst du dich denn überhaupt noch um mich?« stieß er hervor.
Lilli lachte hell auf. Sie hob sich auf die Zehen, packte den größeren Bruder am Genick und schüttelte ihn, als ob er der Schnauzel wäre.
»Lulu – Junge – du hast ja 'nen Piepmatz!« Lilli tippte mit nicht mißzuverstehender Gebärde gegen die Stirn. »Was, ich kümmere mich nicht mehr um dich?«
»Nein,« versetzte Lulu ein wenig kleinlaut. »Margots Windeln sind dir jetzt tausendmal wichtiger als meine Angelegenheiten! Hast du meinen neuen Drachen etwa schon bewundert?«
Er zog aus der Laube einen weißen selbstgefertigten Papierdrachen mit prächtigem langem Schweif.
Lilli schaute nun doch betroffen auf das sie mit runden gemalten Tintenaugen anglotzende Drachenungetüm. Ihrem liebevollen Herzen tat es weh, daß Lulu sich vernachlässigt fühlte. Und ohne sie wollte er diesmal auf die Wiese hinaus zum Drachensteigen, was doch bisher stets ihr schönstes gemeinsames Frühlingsvergnügen gewesen war?
»Junge, du hast ja 'nen Piepmatz,« sagte sie noch einmal, aber es klang nicht mehr so übermütig lachend, sondern leise, fast weinerlich.
Jetzt war es an Lulu, ein betroffenes Gesicht zu machen. Er sah, daß er ihr wirklich unrecht tat.
»Liliputchen, ich wollte dich doch nicht kränken; sei wieder gut und lache wieder, ja?« Damit schlang der Große reuevoll den Arm um die kleine Schwester, während sich seine blauen Augen mit Tränen füllten.
Aber auch zwei Braunaugen standen voll Wasser, soviel sich der rote Mund darunter Mühe gab, zu lächeln. Und die einzige, die lachte, war die Frühlingsonne. Die lachte die dummen Zwillinge tüchtig aus, die da beide im Garten standen und abwechselnd heulten und sich küßten.
Bald aber machten es Lillis Augen der lieben Sonne nach.
»Quatsch,« sagte sie, »du bleibst doch immer mein Bester, Lulu!« Dann sahen sie sich an, und dann lachten sie, und alles war wieder gut ...
Klein-Margot vertauschte den Kinderwagen mit dem Sportwägelchen; sie lernte laufen, lernte sprechen. Da geschah es eines Tages, daß auch sie, die jetzt Dreijährige, die große Schwester mit dem allgemein im Hause üblichen Namen »Liliputchen« rief.
Lilli glaubte zuerst, nicht recht gehört zu haben. Margot pflegte zu ihr, der bei weitem Älteren, sonst mit wohltuender Bewunderung aufzusehen. Nein, das ging doch nicht, daß auch das Kleinchen sich den gräßlichen Namen angewöhnte! Wo blieb da der »schuldige Respekt« vor der großen Schwester?
»Ich bin für dich nicht Liliputchen, sondern Lilli,« sagte sie ärgerlich, wie sie sonst nie zu dem Kinde sprach.
Aber damit reizte sie Klein-Margot in ihrer ausgelassenen Stimmung nur um so mehr.
»Liliputchen – Liliputchen,« sang die Kleine nun erst recht und tanzte dazu, ihren Bären im Arm, im Zimmer lachend auf und ab.
Da geschah es. In einer jähen zornigen Anwandlung hob Lilli die Hand gegen das Schwesterchen. Ein tüchtiger Klaps brannte auf Klein-Margots noch eben lachendem Mündchen. Das lachte nicht mehr, sondern verzog sich zu jämmerlichem Gebrüll.
»Pfui,« rief entrüstet Lulu, der an seinem Pult Schularbeiten machte. »Schäme dich, so ein kleines Wurm zu verwichsen!« Zum erstenmal war er mit seiner Lilli nicht einverstanden.
Aus dem Nebenzimmer aber trat der Vater. In seiner liebevollen Art beschwichtigte er das weinende Nesthäkchen und wandte sich dann seiner erglühenden Ältesten zu.
»Warum hast du das Kind geschlagen? Was hat es dir getan?«
Lilli wagte den Vater nicht anzusehen.
»Margot hat mich Liliputchen genannt – und das soll sie nicht – nein, das kommt solchem kleinen Jör nicht zu, mich so zu rufen! Das lasse ich mir nicht gefallen – ich will überhaupt nicht mehr Liliputchen genannt werden! Was kann ich denn dafür, daß ich so klein bin?«
Lilli schlug die Hände vor das Gesicht, während das ganze kleine Persönchen von wildem Schluchzen geschüttelt wurde. Sie war außer sich.
»Geh in dein Zimmer, Lilli,« sagte der Vater in ernstem Ton, »und denke dort erst allein mal darüber nach, was für ein törichtes Mädchen du bist. Hernach magst du in meine Studierstube kommen; dann will ich weiter mit dir sprechen.«
Lilli wagte keine Widerrede. Sie warf noch einen schnellen Blick zu Lulu hin, ob der ihr nicht wenigstens beistand. Aber der Bruder hatte den dunklen Kopf tief über das Heft gebeugt. So wollte nicht einmal Lulu mehr etwas von ihr wissen!
In schluchzendem Schmerze eilte sie aus dem Zimmer, vorüber an der nichtsahnenden Mutter, die eben mit den ersten selbstgeernteten Kirschen aus dem Garten kam. Frau Miezes erschrecktes »Aber Liliputchen!« verklang ungehört. Die Treppe ging es hinauf zu der netten Mansardenstube, die Elternliebe dem Töchterchen zum elften Geburtstage eingerichtet hatte.
Lilli sah heute nichts von all dem, was sonst ihre Freude und ihren Stolz bildete. Nicht das große altmodische Ledersofa, das Großmama zu ihrem Reich gespendet hatte, nicht die großen bunten, Muttchen abgebettelten Fächer an der Kornblumentapete. Nicht einmal ihr »Goldschopf«, der von Onkel Martin zum Geburtstag gestiftete Kanarienvogel, bekam einen Blick. Das goldgelbe Vögelchen flatterte erschreckt von der Stange und riß die schwarzen munteren Äuglein erstaunt auf. Was war denn heute mit seiner kleinen Herrin los, die sonst noch heller sang und jubilierte als er selbst?
Da kauerte sie in einer Ecke von Großmamas Sofa, preßte den Blondkopf gegen die kalte schwarze Lehne und weinte herzbrechend.
Goldschopf begann zu singen. Erst ganz leise, als ob er seine kleine Freundin in ihrem Kummer trösten wollte, dann lauter, immer lauter, als müßte er ihr Weinen übertönen.
Und wirklich – Lillis Schluchzen wurde ruhiger. Der wilde Trotz, der sich in dem Schütteln und Stoßen der jungen Brust Luft machte, besänftigte sich allmählich. Lilli begann auf das Zwitschern und Tirilieren ihres Vögelchens zu lauschen. Sie hob den zerzausten Blondkopf und trat zum Bauer. Goldschopf flatterte zutraulich näher und sah sie aus seinen schwarzen Perläugelchen mitleidig an.
»Doch wenigstens einer, der es gut mit mir meint – der mich noch lieb hat,« murmelte Lilli halblaut; aber gleich darauf schämte sie sich ihrer häßlichen Äußerung.
Was – Vater und Mutter, Lulu und Margot hätten sie nicht lieb? Das war ja heller Unsinn! Wenn Vater unzufrieden mit ihr war, dann hatte er sicherlich Grund dazu.
Lilli begann über ihr Tun nachzudenken, und je länger sie darüber nachsann, um so purpurner färbte sich ihr zartes Gesicht. Die Schamröte stieg ihr bis an die blonden Stirnlocken empor.
Pfui – Lulu hatte ganz recht mit seinem Ausruf! Das arme kleine Schwesterchen, das nichts Böses getan und nur ausgelassen den Namen gebraucht hatte, mit dem man sie allgemein rief, das hatte sie zum erstenmal geschlagen!
»Sie sollen mich aber nicht Liliputchen nennen – nein!«
Da meldete er sich wieder, der böse Trotz von vorhin. Lilli stampfte mit dem Fuße auf, warf die langen Zöpfe zurück und trat an die Tür. Ein leichter Bleistiftstrich war an dem weißen Holz zu sehen, ein kaum wahrnehmbares Strichlein. Und doch für unsere Lilli von ungeheurer Wichtigkeit!
Ihr Größenmaß zeigte das Bleistiftzeichen an. Am Ersten eines jeden Monats mußte Bruder Lulu es frisch ziehen, nachdem er festgestellt hatte, ob Lilli in den letzten vier Wochen gewachsen war. Ach – leider veränderte der Bleistiftstrich nur ganz, ganz langsam seinen alten Platz. Oft rückte er kaum um einen Millimeter aufwärts, soviel auch Lilli den Blondkopf reckte. Ja, neulich hatte Lulu steif und fest behauptet, daß sie im letzten Monat wieder kleiner geworden sei. Wirklich, sie reichte nicht mehr ganz an ihren Größenzeiger heran! Aber daran waren sicherlich nur die neuen Schuhe mit den abscheulich niedrigen Absätzen schuld.
Lilli und Lulu bewahrten tiefes Stillschweigen über ihre Messungen. Lulu hatte ihr die rechte Hand darauf geben müssen, nichts davon zu verraten. Es war das einzige Geheimnis, das Lilli vor den Eltern hatte. Aber sie schämte sich, daß sie so unglücklich über ihre Winzigkeit war.
Auch heute machte Lilli, als sie an der Tür stand, wieder einen Hals so lang wie eine Giraffe. O Wonne! Lulus Strich ging ihr bis an den Haaransatz – ganz bestimmt! Sie war also in der letzten Zeit ungeheuer gewachsen! Und da wagte es noch Margot, so ein kleiner Quack, sie »Liliputchen« zu nennen!
Das erfreuliche Ergebnis der Messung zauberte wieder Sonnenschein auf Lillis verweintes Gesicht. Nur ein Rest unbehaglicher Stimmung blieb zurück, wenn sie an die Unterredung in Vaters Studierstube dachte.
Ach was! Feige war sie nicht, und Mutter sagte immer, das, was einem am schwersten würde, solle man zuerst tun. Lillis weiches Herz hielt es auch gar nicht aus, länger als eine Stunde mit jemandem in Unfrieden zu leben. Nun gar mit ihrem Vater, den sie über alles liebte und verehrte!
Es war schon schummerig, so recht die Stunde zur Aussprache, als es leise an die Tür von Vaters Studierstube klopfte.
Doktor Steffen schrieb sein Buch über griechische Dichtkunst, an dem er in den Freistunden daheim arbeitete. Er hob lauschend den klugen Gelehrtenkopf. Aha, die kleine Sünderin!
Lilli kam langsam und etwas unsicher auf Vaters »Herein« näher. Es ging einem merkwürdig in Vaters Stube. Wenn man draußen auch noch so verstockt und von seiner Vortrefflichkeit überzeugt war, da drinnen kam einem das begangene Unrecht mit einem Male ganz deutlich zu Bewußtsein. Waren die ernsten Bücher daran schuld, die bis zur Decke die Wände bedeckten? Oder Vaters ernste Augen, die so durchdringend bis auf den Grund der Seele zu forschen schienen und dabei doch soviel Güte offenbarten?
Vater sprach nicht. Er wartete auf Lillis Entschuldigungsworte.
Aber bei solchen Gelegenheiten fand Lilli es für ratsamer, überhaupt nicht zu sprechen. Ihre Arme, die sich fest um Vaters Hals strickten, und ihr tränennasses Gesicht, das sich gegen seine blondbärtige Wange preßte, baten mehr um Verzeihung als tausend Worte.
»Es tut dir also leid, Lilli, das arme Kleinchen, das dich so lieb hat, geschlagen zu haben?«
Lilli nickte. Ja, jetzt in Vaters Stube kam ihr ihre Handlungsweise geradezu sträflich vor.
Da hob Vater ihren Kopf zu sich empor und sah ihr in die feuchten Braunaugen.
»Ich bin davon überzeugt, Lilli, daß du an unsere heutige Unterredung denken wirst, wenn dir die rasche Hand wieder mal gegen das Schwesterchen emporzuckt. Du bist noch zu klein, um beurteilen zu können, ob das Kind Schläge verdient oder nicht.«
Das Wort »klein« traf Lilli wieder an ihrer empfindlichen Stelle.
»Ach, warum bin ich klein – warum bin ich nicht so groß wie Lulu?« Der heißeste Wunsch ihres Lebens, den sie bisher keinem anderen als dem Zwillingsbruder offenbart hatte, löste sich ihr von den Lippen.
»Aber, Liliputchen« – es wurde Vater schwer, ein Lächeln zurückzudrängen – »das ist doch ganz gleich, ob man klein oder groß ist. Jeder Mensch muß so bleiben, wie unser Herrgott ihn geschaffen hat. Dazu bist du doch nicht zu klein, um zu wissen, daß es auf derartig Äußerliches überhaupt nicht ankommt. Ein gutes Herz, ein aufgeweckter Geist können in einem kleinen Körper geradeso wohnen wie in einem großen. Unsere bedeutendsten Forscher und Gelehrte waren oft kleine unscheinbare Menschen. Ich habe mein Liliputchen für klüger gehalten – habe geglaubt, mein Mädel strebe danach, die fehlende körperliche Größe durch geistiges Wachstum zu ersetzen.«
Lilli schmiegte den blonden Kopf fest an Vaters Hals. Jetzt, da der Vater in diesem Ton zu ihr sprach, so ernsthaft und liebevoll, schämte sie sich ihres kindischen Leids.
»Ich will aber nicht mehr Liliputchen genannt werden – auch von euch nicht – von keinem hier zu Hause – nein, Vatchen?«
Das mußte doch trotz alledem noch ausgesprochen werden. Zu lange trug Lilli diesen Wunsch auf dem Herzen.
»Kind, was bist du für ein törichtes Mädel! Vielleicht bittest du uns noch mal darum, dich wieder wie früher mit dem Kosenamen zu rufen. Also beherzige das, was ich dir gesagt habe – verstanden, Lilli?«
Bei dem aus Vaters Munde ungewohnten Namen zuckte Lilli zusammen. Nun hatte sie ja, was sie so heiß ersehnte. Woran lag es nur, daß der freudige Stolz ausblieb, den sie dabei zu fühlen geglaubt hatte? Daß sie ganz tief im Herzen die Empfindung hatte, als ob Vater sie jetzt nicht mehr so lieb habe wie sonst, da er sie stets »Liliputchen« rief?
Leise schlich sie sich hinaus und in die Kinderstube. Klein-Margot schlief schon; süß und friedlich lag das Schwesterchen unter der weißen Himmelbettgardine. Es lächelte im Schlaf; längst hatte es den Schlag der großen Schwester vergessen.
Aber Lilli dachte daran. Sie neigte sich über das Mündchen, dem sie weh getan, und drückte zur Sühne einen leisen Kuß darauf. Nun erst war alles gut.
Eine halbe Stunde später saß man beim Abendessen. Süßer Jasminduft wehte vom Garten in die offene Veranda; rosige Wolken lugten neugierig durch das grüne Laubwerk auf den gemütlichen Familientisch.
»Liliputchen, spring mal in die Küche und hole noch ein paar Scheiben Schwarzbrot,« sagte die Mutter.
Das Töchterchen erhob sich. Es war röter als die purpurnen Wolken droben am Himmel; unsicher sah es zum Vater hin.
»Ach ja, richtig,« erinnerte sich dieser. »Also unser Fräulein Tochter hat gestreikt, Mieze. Sie wünscht von nun an Lilli und nicht mehr Liliputchen genannt zu werden. Ich bitte, das nicht zu vergessen. Merk dir's auch, Lulu, und sage es unserer Minna draußen ebenfalls!«
Vater schmunzelte in seinen hellen Bart hinein, und auch Mutter nahm das Mundtuch vor den Mund, als wolle sie ihre Heiterkeit verbergen. Lulu aber lachte hellauf.
»Du bist ja nicht gescheit, Liliputchen – entschuldige, Lilli,« verbesserte er sich mit scheinheiligem Ernst.
Lilli entwich flink in die Küche.
Ach, hätte sie doch bloß nicht ihren Wunsch laut werden lassen! Nun wurde sie deshalb verlacht und gehänselt. Selbst Lulu neckte sie.
»Gute Nacht, Lilli!«
Dreistimmig ertönte es von den Lippen der Eltern und des Bruders. So fremd, so wenig zärtlich klang der ungewohnte Name, daß auch Lillis Gutenachtkuß lange nicht so innig ausfiel wie sonst.
Aber als sie dann in ihrem Bett unter den großen bunten Fächern lag und die Augenlider ihr schwer und schwerer wurden, empfand sie doch wieder freudige Genugtuung über ihre Namensänderung.
»Nun werde ich auch bestimmt wachsen – ganz sicher, wenn sie mich nicht mehr Liliputchen nennen!«
Ein hoffnungsvolles Lächeln um die Lippen, schlief sie ein, mit rosigen Erwartungen für die Zukunft.