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Vierter Theil.
Zweite Abtheilung.

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Die Schlacht bei Leipzig.

Eine Novelle.

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Ein dichter Nebel hüllte die Gärten und Landhäuser um Leipzig in seinen trüben Schleier, kalte Luftzüge verkündeten zugleich mit der Dunkelheit, die sich um eine frühe Abendstunde auf die Gegend lagerte, die Nähe des Winters. Es war der zehnte Oktober, sechs Tage Vor der fürchterlichen Völkerschlacht, als ein Mann, in einen Mantel gehüllt, mit seinem Begleiter auf einen von der Straße ableitenden Nebenweg hinlenkte und auf diesem zu einem Landhause gelangte, dessen zierliche Formen nur unvollkommen durch die Hülle der Dämmerung hervorleuchteten. Es wurde angeklopft, Diener mit Lichtern erschienen und der Fremde begab sich in's Haus, indeß sein Begleiter in den Hof einritt; bald darauf erschien ein dritter Reiter, so viel man sehen konnte ein ziemlich starker, untersezter Mann, der sich nur mit Mühe aus dem Sattel hob und mit schwerfälligen Tritten die Treppe hinan bewegte.

Als die Reisenden sich von den glänzend und reich ausgestatteten Gemächern das nächste und einfachste ausgesucht hatten, beschäftigten sie sich, von dem Diener unterstüzt, ihre Kleidung zu ordnen. Der eine dieser Männer war Offizier, wie es schien, von hohem Range, militärische Strenge und Ruhe im kraftvollen, männlichen Antlitz; seinem Begleiter sah man seine Stellung als Weltgeistlicher an, wenigstens zeigte er jene behagliche und salbungsvolle Miene, die den Dienern der Kirche eigen zu seyn pflegt im Gegensatz mit den Kindern der Welt, auf deren Antlitz sich die Leidenschaften und Kämpfe widerspiegeln, welche sie während eines unruhigen Lebens verfolgen.

Man war eben mit einigem Gepäck beschäftigt, als der Diener, den der Offizier abgesendet, um seine Ankunft im Hause unten zu melden, Begleitung eines jungen Menschen von blühendem Aeußern wieder eintrat, der mit den lebhaftesten Zeichen der Freude die Reisenden begrüßte.

»Nun willkommen, Viktor!« rief der Offizier, »wie geht es Ihnen? was sagt die Gräfin, Ihre Tante, zu meiner Ankunft?« –

»Ew. Durchlaucht,« entgegnete der Jüngling, »meine Tante ist hoch erfreut, und weiß die Ehre doppelt zu schätzen, da wir nicht hoffen durften, so frühe –«

– »Sie wählen Ihre Worte schlecht, junger Mann; sagen Sie statt hoffen fürchten, so schildern Sie richtiger die Gefühle Ihrer Tante; ich weiß, daß meine Ankunft ihr Schrecken verursacht hat.«

Der Jüngling wollte etwas erwidern, doch der Prinz verhinderte ihn daran, indem er zu ihm trat und ihn freundlich auf die Schulter klopfend sagte: »Sie sind gewachsen, Bernthal, seitdem wir uns in Wien zulezt gesehen.« Er stellte den jungen Mann seinem Begleiter vor, indem er rief: »Lieutenant Bernthal und Canonikus Doktor Welsling.«

Der Priester sagte: »Ich meine, ich habe Sie schon irgendwo gesehen, junger Herr.« –

»Vielleicht in Prag,« erwiderte Viktor; »ich habe dort ein Jahr studirt, bevor ich mich für den Militärdienst entschied.« –

»Und was Sie jezt bereuen,« nahm der Prinz das Wort, »nicht wahr? Es wird eine blutige Probearbeit geben, und da wäre es behaglicher und sicherer auf den Bänken in den Hörsälen der gelehrten Herrn.« –

»Eure Hoheit belieben zu scherzen!« rief der Jüngling und erröthete hoch; »ich wünschte nicht, für einen schlechtern Unterthan meines Kaisers zu gelten, als diejenigen, welche schon früher das Glück genossen haben, unter dem Befehl Ew. Durchlaucht zu stehen.«

Der Prinz lächelte; ein Diener der Gräfin erschien und bat den hohen Gast, mit seinem Begleiter herab zu kommen, um in Gesellschaft den Familie den Thee einzunehmen.

Im Niedersteigen faßte der Fürst vertraulich die Hand des Jünglings und sagte leise: »Nun, Sie danken mir doch, Freund, die Bekanntschaft hier im Hause? Nicht wahr, ein paar so bildschöne Cousinen, die dabei jede eine Million mitbringen, mit denen kann man nicht nah genug verwandt werden? Nur nicht blöde! Alles ist bei Mädchen erlaubt, nur keine Feigheit! Haben Sie sich schon festgesezt, schon etwas gewonnen? Zeigen Sie mir Ihre Auserwählte.« –

»Ich habe keine,« erwiderte Viktor leise.

»Sie sind nicht bei Sinnen,« war die Antwort; »seyn Sie dreist, sage ich Ihnen, wir haben vielleicht nicht lange Zeit zum Liebäugeln.« –

»Wenn Ew. Hoheit die Verhältnisse dieses seltsamen Hauses kennten!« –

»Welche Verhältnisse?«

Viktor wollte antworten, da gingen die Flügelthüren auf, und aus einer Reihe hellerleuchteter Gemächer trat ihnen die Gräfin entgegen, gefolgt von ihren beiden Töchtern; die dritte, ein Mädchen von kaum zehn Jahren, blieb einige Schritte weiter bei ihrer Hofmeisterin zurück; seitwärts am Kamin, in ehrerbietiger Entfernung, zeigten sich zwei junge Offiziere, die ihren Chef, den Prinzen, auf militärische Weise begrüßten. Der Fürst winkte ihnen mit Huld zu, die Art, wie er die Begrüßung und elegante Zuvorkommenheit der Gräfin erwiderte, zeigte den vollendeten Weltmann, der sich bewußt war, einer Familie gegenüber zu stehen, die sowohl im Range als an glänzenden Eigenschaften eine der ersten in der kaiserlichen Residenz war.

Nach den einleitenden Worten ließ sich die Gesellschaft um den hellerleuchteten, prachtvoll geordneten Theetisch nieder, und indeß die älteste der Fräulein die Tassen ordnete und vertheilte, ging der Prinz auf die Beantwortung der Fragen ein, welche die alte Gräfin ihm stellte.

»Wir kennen den Grund Ihres Erscheinens,« sagte die noch immer schöne Frau; »verhehlen Sie uns nichts, sagen Sie es gerade heraus, was wir zu fürchten oder zu hoffen haben. Ist der Kaiser in der Nähe?« –

»Er steht nur drei Tagemärsche von hier, und wenn nicht jede Berechnung trügt, so ist unser Zusammentreffen hier um Leipzigs Mauern gewiß.« –

»Er kommt, er kommt!« rief das kleine zehnjährige Mädchen; »der große Kaiser kommt, ich werde ihn sehen!«

Alle Blicke wendeten sich auf die Sprecherin, und diese hielt sich jezt in äußerster Befangenheit hinter der ältern Schwester verborgen.

»Sophie!« rief diese, »Du bist sehr unklug, Deine Schwärmerei jezt an den Tag zu legen, denn es ist Jemand hier, der nur zu befehlen braucht und Du wirst sammt Deiner Puppe an den nächsten Baum aufgeknüpft.«

Die Kleine kam jezt auf der Mutter Ruf herbei und stellte sich dem Prinzen vor, der sie lächelnd und aufmerksam betrachtete.

»Sie lieben also den französischen Kaiser, Mademoiselle, unser aller Feind?«

Das Kind sah ihn mit seinen großen blauen, offenen Augen an, die Puppe ruhte in ihren Armen, jezt brach sie plötzlich in einen Strom von Thränen aus und hielt die Hand vor die Augen.

»Nicht weinen, meine kleine Freundin!« rief der Fürst schmeichelnd; »sagen Sie mir nur, warum Sie den Kaiser so lieb haben.«

Sophie vermochte nicht zu antworten, sie schmiegte sich schluchzend an die Seite ihrer Mutter und diese mußte ihre Thränen trocknen, ihre Besorgnisse beschwichtigen, indem sie ihr versicherte, der fremde Herr werde sie nicht aufhängen lassen.

»Mag er mich aufhängen lassen!« rief die Kleine leise und immerfort weinend; »aber nicht die arme Bella hier, denn die kann doch nichts dafür, daß ich den großen Kaiser lieb habe.« –

»Weder für Dich noch für Bella ist etwas zu fürchten,« sagte die Gräfin; »sei nur ganz ruhig und begib Dich in's Nebenzimmer, wo Deine übrigen Puppen schon lange auf Dich warten.«

Die Kleine ging jezt beruhigt, aber noch immer finstere Seitenblicke auf den Prinzen richtend, mit ihrer Hofmeisterin ab.

»Diese sonderbare Liebe, nahm die älteste Gräfin das Wort, »haben wir unbewußt selbst der Kleinen eingeredet; sie hat natürlich uns oft vom Kaiser sprechen hören, und wißbegierig und lebhaft wie sie ist, nahmen ihre Fragen über ihn zulezt kein Ende. Als wir ihr eines Tags erzählten, daß sich jezt die mächtigsten Fürsten verbunden hätten, um mit Tausenden von Kriegern, mit Kanonen, Bomben und Säbeln gegen den Kaiser loszugehen, fing sie an, auf das Lebhafteste zu weinen und sagte: ›Der arme, arme Mann! ist es wohl hübsch, daß so viele Leute über Einen herfallen? Gewiß, nun werden sie ihn gefangen nehmen, ihn martern, und er hat auf der weiten Welt Niemanden, der ihn noch lieb hat und bei ihm bleibt! Gewiß, da will die kleine Sophie ihn nicht verlassen, den armen Kaiser!‹ Als wir dieses hörten, riefen wir lachend: ›Nicht wahr, Du nimmst ihn Dir zum Mann?‹ – ›Gewiß!‹ sagte die Kleine mit einer fast ängstlichen Herzlichkeit, ›wenn er mich nur will, ich habe ihn jezt schon recht von Herzen lieb.‹ Seitdem nennen wir sie nur das Kaiserbräutchen.«

Der Prinz lachte herzlich und der Priester sagte: »Wie wird doch alle Politik zu Schanden gegen diese zarte Stimme der Erbarmung.« –

»Ei, ei, ehrwürdiger Herr,« bemerkte die Gräfin, »Ihr scheint mir auch keine rechte patriotische Farbe zu tragen.« –

»Mag man nun, gnädige Frau,« entgegnete der Geistliche, »gegen den merkwürdigen Mann sagen was man will, dieses bleibt doch ausgemacht, daß er dem Staat eine feste Form, der Kirche wieder Würde verlieh in einem Zeitpunkt, wo die grausigste Verwüstung herrschte. Es ist am Ende doch ein großes Heil, wenn in einer willenlosen Zeit sich ein Wille zeigt; ist es auch nicht der rechte, so ist es doch einer, der in seinen Zauberkreis andere hineinzieht und bindet.« –

»Sehr wahr!« rief der Fürst; »doch gegen diesen einen, auf Unheil ausgehenden, hat sich jezt der dreifach stärkere, auf's Heil der Völker gerichtete verbunden, und da öffnet sich wohl eine freudige Hoffnung auf eine Zukunft, der wir vielleicht jezt recht nahe stehen.« –

»Für mich eine schreckbare Aussicht,« sagte der Priester, indem er die Theetasse hinsezte; »sollte man wohl in diesen glänzend schönen Sälen, bei dieser schimmernden Bewirthung und in dem eleganten Kreise, in dem wir uns befinden, an die Nähe so drohender Ereignisse glauben? Spricht nicht hier Alles Ruhe, ungestörten Frieden und beglückten Lebensgenuß aus? In der That, gnädigste Frau, lassen Sie mich gestehen, daß ich Sie, wenn auch nicht auf der Flucht, doch in den Mauern Leipzigs eingeschlossen glaubte.« –

»Ich flüchte nicht,« entgegnete die Gräfin, »nicht früher, als bis die dringendste Gefahr mich dazu nöthigt; und was soll ich vollends in der dumpfen Stadt, wo mich tausend blasse Gesichter, mit den fürchterlichen Zeitungsblättern, diesen papiernen Schrecken, in der Hand, verfolgen? wo aus den engen, kalten und trüben Gassen Grabeshauch mich anweht und man mit der größten Anstrengung nicht zwei Menschen zusammenbringen kann, mit denen sich ein vernünftiges Wort sprechen läßt? Hier habe ich Musik, Bücher und meine Kinder, die mich die Unbilden der Zeit und des Wetters vergessen machen.«

Der Kanonikus hatte während dieser Rede mit dem ältesten Fräulein einige Worte gewechselt, und diese wandte sich jezt an die Gräfin:

»Wissen Sie, liebe Mutter, etwas von dem Umstand, daß an der Stelle des linken Flügels unsers Hauses früher ein Kloster gestanden hat?« –

»Kein Kloster,« rief der Geistliche, »sondern eigentlich ein Wirthschaftsgebäude, welches mit dem ehemaligen Kloster der Augustiner zusammenhing.« –

»Darüber müssen Sie sich beim ehemaligen Besitzer dieses Hauses Nachricht verschaffen,« entgegnete die Dame, »mir ist dergleichen nicht bekannt; doch darf man wissen, warum Sie sich für diesen Umstand interessiren?« –

»Es ist der Grund meines Hierseyns, gnädige Frau; doch freilich kommt mir die Sache etwas seltsam vor, und ich muß fast am Gelingen meines ganzen Vorhabens zweifeln.« –

»Der würdige Herr,« nahm der Prinz das Wort, »hat mich begleitet, um mir die Stätte anzuzeigen, wo ich gewisse höchstwichtige Papiere wiederfinden kann; nun ist aber ein böser Umstand, daß wir nicht nur nicht die Stelle, wo der Schatz vergraben liegt, sondern nicht einmal das Haus, ja sogar nicht einmal die Gegend kennen, so daß wir im eigentlichsten Sinne des Worts in der Finsterniß herumtappen. Erzählen Sie, geehrter Freund, was Sie über diesen Vorfall wissen, sowie die Geschichte Ihres Abenteuers; ich bin gewiß, daß sie den Damen Spaß macht.«

Die Gräfin, ihre Töchter und die jungen Offiziere vereinigten ihre Bitten, und der Kanonikus nahm endlich das Wort, indem er sagte:

»Ew. Durchlaucht nehmen die Sache zu sehr von der abenteuerlichen Seite; ich bin versichert, in der Hauptsache keineswegs irre zu gehen. Es kommt nämlich darauf an,« wandte er sich gegen die Damen, »die Stelle wieder aufzufinden, die sich mir mit aller ihrer Eigenthümlichkeit dadurch fest in den Sinn prägte, daß ich als ein Kind von fünf Jahren an dem Platze eine gewaltig derbe Maulschelle erhielt.« –

»Um's Himmelswillen!« riefen beide junge Damen, »man schlug Sie!« –

»Nicht anders,« entgegnete der Kanonikus mit einem behaglichen Lächeln; »ich kenne wenig Backenstreiche, die mit solcher Kraft und Genialität geführt wurden; es war der erste empfindliche Schlag, den das Schicksal mir ertheilte, und wenn ich später in der Historie von Backenstreichen las, die hohe Personen empfingen oder austheilten, so regte sich sogleich die lebhafteste Erinnerung, welche meine Wange bewahrte. Sie werden sich entsinnen, meine Damen, daß es eine alte Sitte ist, bei Gründung vorzüglicher Gebäude oder der Setzung von Monumenten den Kindern der Umgegend heftige Schläge zu ertheilen, damit diese später als alte Männer, wenn jenes Denkmal oder das Gedächtniß einer dabei vorgefallenen Handlung sich verwischt haben sollte, noch davon zu erzählen wissen. Dazu war auch ich auserlesen worden, und auf meine unschuldige Kinderwange wurde der Brief an die Nachwelt mit fünf harten Griffeln unauslöschlich geschrieben. Jene wichtigere Dokumente, auf deren Auffindung es jezt ankommt, wurden damals von einem großen, angesehenen Manne an einer Stelle in die Erde versenkt, die, wenn ich nicht sehr irre, beim linken Flügel dieses Hauses, und zwar an der linken Hofmauer befindlich seyn muß. Die Stellung des Gebäudes, als ich heute den Ort wieder sah und mich gerade vor die aufgehende Sonne stellte, rief mir mit einem Male das lebhafte Bild aus meiner Kinderzeit so scharf in die Seele, daß ich – es ist komisch zu sagen – schnell nach meiner Wange griff und sie eben geschlagen glaubte.« –

»Seltsam!« lächelte die Gräfin, »höchst seltsaml und besinnen Sie sich auf die nähern Umstände von jener Zeit her?« –

»Vollkommen, ja ich könnte Ihnen sogar die Blumen zeichnen, die damals, jezt vor fünfzig Jahren, zu meinen Füßen blühten und die ich zertrat, indem die ungeheure Ohrfeige meinen kleinen Körper taumeln machte. Sie können sich, Gnädigste, mein Entsetzen denken: mit andern Dorfbuben herbeigelaufen, stehe ich da und sehe mehrere Männer beschäftigt, ein Kästchen mit Papieren, das man mir zeigt, zu versiegeln und endlich in die Erde zu versenken; indem ich noch gedankenlos hinstarre, so durchbricht der damalige Oberpfarrer, ein Mann, von dessen freundlich sanfter Persönlichkeit ich die schönsten Proben erhalten hatte, plötzlich die Reihe der Menge, und ich sehe den hohen Mann im Sturmschritt, so daß der schwarze lange Rock ihm nachflattert, geradewegs auf mich zukommen; ein Schreck erfaßt mich, doch noch ehe ich fliehen kann, hat er mich erfaßt und seine Rechte führt weitausholend jene fürchterliche Ohrfeige, von der gewiß sogar das Wasser des Lethe mich nichts wieder frei waschen wird. Als der Oberpfarrerr einige Zeit nach diesem Vorfalle starb, sah ich seinen Tod als eine mir vom Himmel erwiesene Genugthuung an.«

Man lachte und der Prinz sagte: »Und dennoch werden wir diesem verehrten Manne die größte Dankbarkeit schuldig seyn, wenn es uns gelingt, die Stelle und jene Papiere, an denen mir aus mancherlei Rücksichten soviel liegt, aufzufinden.«

In dem Moment wurde das Gespräch durch mehrere Musketenschüsse unterbrochen, welche in nicht geringer Entfernung zu fallen schienen. Vergeblich war es, einen Blick aus dem Fenster zu thun, denn die eingetretene Nacht hatte die ganze Umgegend in tiefe, undurchdringliche Finsterniß gehüllt; nur aus der Gegend von Leipzig schimmerten einzelne Lichter herüber. Leonhard, der Jäger, trat herein und versicherte, daß sich die Zahl der feindlichens Scharfschützen, welche sich seit einigen Tagen im Dorfe gezeigt, heute bedeutend vermehrt habe; mit ihm kam die kleine Sophie gelaufen und schmiegte sich an den Schooß der Gräfin.

»Mutter!« rief sie, »sie fangen an zu schießen; wenn sie nur nicht aus Versehen ihre knallenden Flinten auf Dich oder mich, oder auf Bella richten.« –

»Sey ruhig, mein Kind,« sagte diese, »wir haben ihnen ja nichts zu Leide gethan.« –

»Sehen Sie!« rief die Kleine, »sehen Sie, Mutter, Ferdinand, Viktor und Graf Erwin fangen auch an, mit Puppen zu spielen, und sogar der fremde Herr ist mit dabei.«

Sie lief an einen Tisch, der mit Landkarten bedeckt war, auf denen die Stellung der Heere durch verschieden bezeichnete Nadeln angegeben war. Als die Gräfin mit ihren Töchtern nun auch herantrat, machten die Offiziere ehrerbietig Platz, und die erstere rief, einen trüben Blick auf die Karte werfend:

»Nun, gnädiger Herr, so machen Sie uns denn bekannt mit dem, was wir zu fürchten haben.« –

»Sie sehen, Gnädigste,« nahm der Prinz das Wort, »hier die verbündeten Heere sämmtlich aufgestellt am linken Ufer der Elbe: hier bei Borne das Korps des Generals Grafen Wittgenstein, das zweite preußische Armeekorps unter Kleist bei Altenburg und Frohburg, das Kosakenkorps des Attaman Grafen Platow bei Lützen, die erste Armeeabtheilung der Unsrigen unter Graf Meerfeldt, die dritte Armeeabtheilung unter Graf Gyulay und unsere Reserve unter dem Prinzen von Hessen-Homburg hier in Penig; die russischen und preußischen Grenadiere und Kürassiere stehen bei Chemnitz, das Hauptquartier des Feldmarschalls Fürsten Schwarzenberg ist in Penig. Dort auf dem linken Elbufer vor Dresden, von Schachwitz bis zum Plauenschen Grund, steht die polnische Armee, hier bei Ansig das Korps des Generals Grafen Tolstoi.«

Die Gräfin war mit aufmerksamem Blicke den Erklärungen des Prinzen gefolgt, jezt wurde es ihr vor den vielen rothen, schwarzen, gelben und grünen Knöpfchen bunt vor den Augen, und sie unterbrach die Hinweisungen mit der Bemerkung: »Ich sehe nun vollkommen deutlich, wo unsere Beschützer und Freunde zu finden sind, nun möchte ich aber eben so deutlich den Kaiser und seine Stellung wahrnehmen.«

Der Prinz lächelte, er gab der Karte eine andere Wendung, und es kamen jezt die feindlichen Truppen zum Vorschein.

»Was wir von der Stellung des Feindes wissen,« rief er, »ist dieses: den König von Neapel sehen Sie hier an der Elster hinter Eyla und Gostewitz; St. Cyr mit dem ersten und vierzehnten Korps hat Dresden und Sonnenstein besezt, in Düben aber, wie man gewiß weiß, ist das Hauptquartier des Kaisers.«

Die Schüsse, welche schon früher gehört worden waren, störten auch jezt wieder das Gespräch; Viktor war mit dem Jäger hinausgegangen, der Kanonikus beschäftigte sich mit Sophien, ihr Muth einsprechend, und indeß der Prinz mit der Dame des Hauses in den Sälen auf- und abging, sezten sich die beiden jungen Gräfinnen an's Pianoforte; man ordnete die Notenblätter, die beiden jungen Offiziere trugen Lichter herbei und Sophie wand sich aus den Armen ihres Freundes, indem sie erklärte, jezt, da Musik gemacht werde, müsse sie nothwendig dabei seyn, um die Notenblätter umzuschlagen.

Hersilie, die ältere der beiden Schwestern, zog unter den Musikstücken ein schwerfälliges Heft hervor.

»Wieder Gluck?« fragte Josephine, die jüngere. –

»Diesesmal nicht,« war die Antwort; »es ist die Armida von Jomelli; nimm sie: das Duett zwischen Rinald und Armida muß geübt werden, und dabei bringt uns keine andere Musik so schnell über die vielen Soldaten, Flinten, Angriffsplane und Feldmarschalle, die mir noch im Kopfe stecken, hinüber; schnell, komm und setze Dich.«

Die Musik begann; Hersilie fuhr in rollenden Tönen über die Tasten hin; ein glänzendes Vorspiel drang kurz und gerundet hervor, dann tönten die Worte Rinalds: caro mio ben, mia vita, deh! non turbar que'rai, in voller, tönender Klarheit und Fülle von den Lippen des Jünglings. Rasche Uebergänge flogen auf dem Pianoforte hinauf und hinab; Josephine war aufgestanden, und in weicher Biegung sich anlehnend, mischte sie sich mit süßen, klagenden Lauten, die so rein und himmlisch ihrem Busen sich enthoben, in die Süßigkeit der männlichen Stimme.

»Herrlich!« rief der Prinz, als das Duett geendet war; er drückte dem jungen Manne die Hand.

»Ich weiß nicht,« nahm die Gräfin das Wort, »ob Ew. Durchlaucht die alte Musik lieben; wo nicht, so bedaure ich, denn Sie werden in diesem Hause wenig andere, als diese finden; ich selbst muß gestehen, daß Seele, Kraft musikalischer Gedanke nur bei den Alten zu finden sind, und selbst Gluck ist mir zu neu.«

Der Prinz stimmte in seiner Antwort bei, und nachdem Beide wieder den Salon verlassen hatten, sagte die Gräfin: »Eure Hoheit sehen dort zwei glückliche Paare beisammen; ich habe den Bewerbungen der beiden braven Offiziere, die der Ehre genießen, unter Ihren Befehlen zu stehen, nicht länger Hindernisse in den Weg legen wollen, besonders da wir ja Alle nicht wissen, ob die nächste Stunde noch unser ist. Hersilie, meine ältere Tochter, ist mit dem Lieutenant Baron Rosenberg, Josephine mit dem Major Grafen Edwin versprochen.« –

»Gnädige Frau,« erwiderte der Prinz, »erlauben Sie mir, meinen Glückwunsch von Herzen abzustatten mit der aufrichtigen Versicherung, daß Ihre Wahl keine würdigern jungen Männer hätte treffen können; beide sind aus angesehenem Hause, gebildet, talentvoll und mir sowohl als ihrem frühern Obern als Leute von untadelhafter Aufführung und entschiedener Tüchtigkeit bekannt.« –

»Wenigstens glaube ich sie,«sagte die Gräfin, indem sie mit einem Seufzer zur Erde blickte, »als Männer von sittlichem Werth erkannt zu haben, und dieses ist viel in einer Zeit, wo es Mode geworden, ruchlos zu scheinen, wenn man es nicht im Innern schon ist.«

Der Prinz heftete jezt seine Blicke auf die Gruppe am Pianoforte und mußte sich selbst gestehen, nie schönere Gestalten gesehen zu haben. Die beiden Jünglinge, schlank und würdevoll von Wuchs, zeigten in ihrer Haltung eben so die hohe Liebenswürdigkeit und Frische der Jugend, als die Feinheit im Umgange der höhern Stände, indeß die beiden Gräfinnen, auf das Einfachste, doch mit dem zierlichsten Geschmack der Mode gekleidet, die Ideale zu verkörpern schienen, die die vornehme Welt in weiblicher Erziehung aufstellt und welche so oft in Karrikatur verbildet vorzukommen pflegen.

Man ging jezt in den Speisesaal. Der Prinz erzählte den Damen die neuesten Begebenheiten aus Wien, und ein buntes Gespräch, in das zulezt alle freudig einstimmten, wogte auf und nieder. Der Kanonikus saß neben seiner kleinen Freundin Sophie, und beide besprachen sich sehr ernst über Felix, den Hofhund, und über den Jäger Leonhard und dessen große Flinte; Viktor hatte an der Gouvernante, einem runden freundlichen Geschöpf mit hochrothen Wangen und glänzenden Augen, offenbar eine ihm sehr zusagende Nachbarin gefunden.

Nach der Abendmahlzeit, als der Prinz mit dem Jüngling allein war, sprachen beide über das Verhältniß im Hause.

»Reden Sie frei, lieber Viktor,« nahm nach wiederholten Aufforderungen der Fürst das Wort; »welcher Umstand ängstigt Sie hier im Hause, warum wird Ihnen in dieser Familie nicht wohl?«

Der junge Mann schien befangen, er wollte sichtlich einer Antwort ausweichen, und als dieses ihm nicht gelang, erwiderte er: »Ich fürchte, kindisch zu erscheinen, wenn ich die Gründe meiner Unzufriedenheit Eurer Hoheit vorlege; offen gestanden, ich bin zu gering für diese vornehme Gesellschaft.« –

»Zu gering?« fragte der Prinz; »stehen Sie nicht an Geburt, an Erziehung ihr ganz gleich?« –

»Das Erste wohl, das zweite nicht. Meine Eltern, wie Eure Hoheit wissen, waren einfache, biedere, edelgesinnte Menschen; sie gaben Güte, Offenheit, Vertrauen, und man kam ihnen wieder mit diesen Tugenden entgegen, nach diesen Grundsätzen war auch meine Erziehung eingerichtet; das Daseyn vornehmer Laster, entsetzlicher Verirrungen, die das Blut im Busen erstarren machen, berührte auch nicht im Traume mein Inneres.« –

»Viktor!« rief der Fürst, »geben Sie Acht, was Sie sagen! solche Beschuldigungen diesem Hause!« –

»Es scheint undankbar,« seufzte der Jüngling, »und so ist es auch, darum kein Wort weiter, gnädigster Herr: ich will auf keine Weise der Ankläger werden.«

Er verbarg sein Gesicht, und der Fürst senkte einen Blick voll Theilnahme auf den noch fast knabenhaften Jüngling: dann entließ er ihn unter dem Vorwand, zur Ruhe gehen zu wollen; allein als jener ihn verlassen, schritt er noch lange im Gemach herum, die eben gehörten Worte erwägend. Er warf seinen Mantel um und trat auf den Vorsprung, der vor den Fenstern angebracht war. Die Nacht zeigte sich besonders finster, und nur der Lichtschein aus einem unten gelegenen Gemach fiel auf ein paar herbstlich entlaubte Bäume; von Zeit zu Zeit fielen Schüsse in der Ferne, dann klang ein einsamer Gesang mit lang ausgezogenen Tönen von unten herauf; eine weibliche Stimme sang das Lied von Hölty:

Wann, o Schicksal, wann wird endlich
Mir mein lezter Wunsch gewährt?
Nur ein Hüttchen, still und ländlich,
Nur ein eigner kleiner Heerd.

Eine Gestalt näherte sich dem Fenster und schien zu lauschen, der Prinz neigte sich herab und erkannte Viktor; das Fenster wurde geöffnet, Worte freundlich und leise gewechselt.

»O Marianne, tönte es herauf, »sey gewiß, edles, bestes Mädchen, das Schicksal wird Dir diesen Wunsch gewähren; es wird Dich, es wird mich bald aus dieser beängstigenden Umgebung reißen!«

Der Prinz erstaunte, er glaubte die Stimme der Gouvernante erkannt zu haben; der Nachtwind erhob sich, das Fenster wurde zugeschlagen und bald war die Gegend und das Haus in tiefe Finsterniß versenkt.

Am andern Morgen in der Frühe hatten sich der Prinz, der Kanonikus und Viktor mit einigen Dienern in den Garten des Hauses begeben, um hier Untersuchungen anzustellen. Der Geistliche bestand auf seiner frühern Behauptung; nach seiner Angabe fing man an zu graben, nachdem Schutt und allerlei Geräthe vom Platze entfernt worden waren. Es zeigte sich nothwendig, eine Wache aufzustellen; denn sobald das Gerücht von der Grabung im Dorfe erschollen war, hatte sich sogleich eine Menge müßiger Zuschauer sogar von der Straße her eingefunden, die sich nun in Gruppen herumstellten. Der Kanonikus lief hin und her, die gehörigen Befehle zu ertheilen; bald stellte er sich mit dem Antlitz nach Sonnenaufgang, bald nach Niedergang, bald bückte er sich nieder, um die Größe seiner damaligen Gestalt, als er den Schlag empfangen hatte, wieder anzunehmen, bald bestieg er mit einiger Anstrengung eine Leiter, um von derselben herab einen Ueberblick zu gewinnen. Der Haushofmeister, der die Geschichte mit dem Backenstreich auch gehört, schüttelte bedenklich das Haupt, und nur die Gegenwart des Fürsten vermochte die Arbeiter in der gehörigen Achtung zu erhalten gegen die dicke, sich in steter Lebendigkeit bewegende kleine Gestalt des Kanonikus.

Man war noch nicht weit gelangt, als plötzlich Sophie, die auch herausgetreten war, einen heftigen Schrei ausstieß, und in dem Moment zeigte sich dicht vor den Arbeitern ein langer hagerer Mann mit einem verstörten, leichenblassen Antlitze, der mit einem widrigen, tonlosen Lachen auf die Gruppe niedersah. Einer der Diener erhob sich sogleich; indem er dem Ankömmling mit dem erhobenen Spaten drohte, rief er: »Was wollt Ihr hier! fort, oder ich schlage Euch nieder!« Der Wahnsinnige gab einen Laut, gleich einem gescheuchten Thier von sich, zu gleicher Seit trat hinter den Gebäuden ein breitschultriger, finsterer Mann hervor, der den Unglücklichen, ihn gewaltsam bei der Brust packend, mit sich hinwegzog.

Als beide den Platz verlassen hatten, erhob sich die Kleine, welche gleich Anfangs ihr Haupt an den Knieen des Geistlichen verborgen hatte, langsam, und indem sie von Neuem in Thränen ausbrach, rief sie leise:

»Das ist mein armer Bruder Julius, mein armer Bruder!« –

»Dein Bruder?« wiederholte der Geistliche bestürzt und laut; der Jäger wandte sich bei diesen Worten um, und dem Kinde einen finstern Blick zuwerfend, sagte er:

»Was schwazt Ihr da, Fräulein? wer ist Euer Bruder?«

Das Mädchen wandte sich weg und weinte nur noch heftiger. Der Prinz und Viktor, die unterdessen abgerufen worden waren, traten jezt wieder hinzu.

Es hatten sich schon in diesen paar Stunden wichtige Ereignisse zugetragen, Boten waren angelangt aus dem Hauptquartier, und sowohl der Fürst als auch Viktor und die beiden Offiziere mußten auf das Schleunigste fort. Die Gräfin zeigte sich gefaßt wie immer; sie nahm vom Prinzen die Versicherung, daß er sie von der geringsten entscheidenden Bewegung im Heere in Kenntniß setzen wolle; er versprach, den jungen Gräfinnen ihre Geliebten so bald als möglich wieder zurückzuschicken, zum Schutz der Damen blieb ein Theil seines kleinen Gefolges, an dessen Spitze sich der Jäger stellte, zurück. Der Geistliche empfing von den scheidenden Kriegern den ehrenvollen Auftrag, die verlassenen Damen zu trösten, und wirklich hätte der heitre, behagliche Mann sich diesem sonst so schwierigen Unternehmen vollkommen gewachsen gefühlt, wenn nicht die unglückliche Grabung und deren ungewisses Resultat ihm seine natürliche Unbefangenheit geraubt hätte.

Die Berichte, die nach Entfernung der Männer einliefen, fesselten bald die Aufmerksamkeit aller Hausbewohner; sie folgten immer schneller aufeinander, und kein Abend verging, wo nicht in den Händen der Frauen fünf bis sechs verschiedene Nachrichten von den jungen Offizieren sich befanden. Es schien immer gewisser werden zu wollen, daß der Kaiser den Verbündeten bei Leipzig eine Schlacht liefern werde; immer enger zogen sich die drohenden Puppenmassen in die Nähe der unglücklichen Stadt, immer drohender traten die Vorboten einer baldigen Schlacht hervor. Die meisten Landhäuser in der Nachbarschaft standen bereits leer; wer irgend fliehen konnte, war geflohen oder hatte sich in die Stadt zurückgezogen, die Landstraße war mit flüchtigen Wagen bedeckt, und zwischendurch erblickte man Reitergruppen und Offiziere, die hin und her, sprengten.

Am dritten Tage nach des Prinzen Abreise, als es gerade etwas ruhiger geworden war, saß der Geistliche im Garten auf einem von der Mittagssonne erwärmten Plätzchen. Die Haufen gelben trocknen Laubes, die zu seinen Füßen herabgeweht lagen, der Anblick der herbstlich dürren Bäume und der Hinblick auf die nahen drohenden Ereignisse stimmten ihn ernst und nachdenklich; er meinte, in seinem ganzen Leben keine so finstere, wunderliche Zeit erlebt zu haben. Aus dem Hause trat die kleine Sophie heraus und sezte sich mit ihrer Puppe auf dem Arm zu ihm auf die Bank.

»Im Hause drinnen,« fing sie vertraulich an, »wird immer nur von Krieg und Zeitungen gesprochen, und da komme ich zu Dir, Du mußt mir eine Geschichte erzählen, damit ich und Bella doch wieder lachen können.« Sie schmeichelte bei diesen Worten den gutmüthigen Mann aus seinen Betrachtungen heraus, und fuhr, als er lächelte, selbst heiter fort: »Die Gouvernante ist auch traurig, der Himmel weiß warum; auch sie sizt in ihrem Zimmer und hat das Tuch vor den Augen; sonst war sie immer bei der Hand, wo es etwas zu lachen gab, jezt aber macht sie sich auch über das viele Schießen Sorge; sie glaubt wohl, daß, wenn der arme Kaiser todtgeschlagen wird, man bei der Gelegenheit auch ihr das Leben nimmt; aber sie kann nur ruhig seyn: was fragen die vielen Soldaten nach einer Gouvernante? es ist doch Keiner darunter, der die Grammaire oder das Sticken lernen will, und sonst versteht sie nichts.« –

»Es könnte ja seyn,« rief der Geistliche scherzend, »daß der Kaiser sie zu seiner Frau machen wollte, und da müßten schon unsere Soldaten auf sie schießen.«

Die Kleine sah ihn mit ihren großen klaren Augen lange fragend an; dann zog ein Unmuth, der fast an's Weinen grenzte, über ihre schöne Stirn und sie erwiderte: »Der Kaiser? und Du weißt nicht, daß der Kaiser mein Mann ist? wie kann er da wohl Mademoiselle Julie heirathen?« –

»Sage mir,« hob der Geistliche nach einer Pause wieder an, indem er seine kleine Freundin zärtlich umschloß, »war jener blasse Mann denn wirklich Dein Bruder?«

Sophie sah sich ängstlich um, dann erwiderte sie leise: »Ich weiß es nicht gewiß, doch die Gouvernante hat's gesagt; mit der Mutter darf ich nie davon reden, und auch nicht mit der Schwester, denn die hat er einmal küssen wollen, so daß sie vor Schreck fast den Tod davon getragen.«

Dem Kanonikus schien es unerlaubt, sich weitere Fragen der Art zu erlauben, besonders da er glauben konnte, daß man eine so unbefangene kindliche Seele nicht zur Trägerin dunkler Geheimnisse, um die sich's hier zu handeln schien, gemacht haben werde; überdies war des Kindes Aufmerksamkeit jezt gerade gänzlich von ihm abgezogen und auf den großen Haushund gerichtet, der nicht weit davon die Erde aufscharrte und das trockne Laub aufwarf.

»Davoux!« rief die Kleine, »was machst du da?«

Sie lief hin, der Hund jedoch ließ sich nicht stören, er scharrte immer eifriger, indem er von Zeit zu Zeit die Schnauze wie prüfend an die Oeffnung hielt. Der Geistliche, ebenfalls aufmerksam gemacht, verfolgte die Bewegungen des Hundes; ihm war es nicht unbekannt, daß diese Thiere vermittelst ihres Spürsinns öfters vergrabene Gegenstände nach Jahren aufzufinden vermögen; er blickte noch hin, als das Kind aufschrie:

»Vater, Davoux hat Deinen Kasten gefunden!«

Wirklich zeigte sich, als der Kanonikus jezt näher trat, die Ecke eines Kästchens von Blech von der Erde entblößt; schnell war auch die übrige Hülle abgeworfen und die kleine Lade herausgehoben; allein es zeigte sich bei der ersten Besichtigung, daß es nicht die gesuchte war. Es gelang dem Geistlichen, sie zu öffnen, und da fielen ein Porträt und mehrere Papiere ihm in die Hände. Ehe, er noch mit sich einig war, was er mit diesem Fund thun sollte, zeigte sich ihm schon auf einem der oben liegenden Blätter die Aufschrift:

»Nachrichten von einem unglücklichen Vater, aufgeschrieben von der Hand seines Sohnes, der zugleich sein Neffe war, und gewidmet einer Mutter, die die Natur mir zur Schwester, das Verbrechen zur Gemahlin gab.«

Der Geistliche vermochte es nach diesen Worten nicht über sich, die vergelbten Schriftzüge weiter zu lesen; es war, als mühete sich der kalte Herbstwind, die der Gruft entrissenen Blätter wieder zuzuschlagen, ehe ihr finsterer Inhalt von einer warmen Menschenbrust eingeathmet würde; er war fest entschlossen, die ernsten Geheimnisse, über die ihn ein Zufall zum Meister gemacht, unentweiht in die Hände derer abzuliefern, für die sie bestimmt schienen, und die, wie ihm manche Merkmale verriethen, keine andern waren, als die Mitglieder der Familie, in deren Schooße er sich befand.

Kaum blieb ihm Zeit, für's Erste das Kästchen zu verbergen, als die Gräfin auf ihn zutrat.

»Die Nachrichten vom Heere lauten immer drohender,« begann sie; »hören Sie, verehrter Herr, was mir Graf Erwin schreibt: ›Innig geliebte Mutter, das Gefecht bei Dresden, namentlich im Plauenschen Grunde, wird Ihnen Se. Durchlaucht der Prinz gemeldet haben; die Russen zählen sechshundert Todte; mir wurde die Ehre, in der Nähe des preußischen Königs und des Kronprinzen in's Kanonenfeuer zu kommen und den Muth, sowie die Gelassenheit dieser Fürsten zu bewundern. Wir bleiben unter dem Grafen Colloredo in Freyberg. Bis auf diesen Tag hatte man die Meinung, der Kaiser gehe nach Magdeburg; doch scheint es entschieden, daß er nach Leipzig geht. Der Himmel schütze Sie und Ihr Haus, verehrte Mutter. Vom 13ten: Der Kaiser steht noch in Düben, unsere Stellung ist die gestrige; schon ist Leipzig von dem französischen Heere halb besezt. Fliehen Sie, verehrte Mutter; ich zittere für Ihre und meiner Josephine Sicherheit. Dresden gibt Ihnen Schutz, von dort nach Wien. Diesen Brief, den lezten, kann ich Ihnen noch schicken, die nächste Stunde hat schon jeden Schleichweg gesperrt; alle Landstraßen sind besezt, jeder Fußpfad mit Laurern angefüllt, die Armee in der heftigsten Aufregung; Alles bereitet sich zu großen Ereignissen vor. Fliehen Sie, theure Mutter; ich werde Sie zu finden wissen, wo Sie auch immer sind, und kommt es zur entscheidenden Schlacht, so mahne ich Sie, geliebte Frau, persönlich an Ihr Versprechen. Viktor und Baron Rosenberg sind wohl.‹ – Diese Nachrichten, sezte die Gräfin hinzu, indem sie das Papier zusammenfaltete, »sind zwar auf sichern, aber langsamen Wegen mir zugekommen; indessen ist heute in der Frühe, wie Leonhard die gewisse Nachricht erhalten zu haben behauptet, bei Liebertwolkwitz ein heftiges Gemetzel vorgefallen. Der Himmel weiß, was die nächste Stunde bringt.« –

»Und was sind Sie entschlossen, zu thun, gnädige Frau?« fragte der Geistliche gespannt; »Sie wollen fliehen?« –

»Es sind in der Stille,« erwiderte die Gräfin mit leiser Stimme und indem sie dem Kinde einen Wink gab, sich zu entfernen, »in meinem Hause bereits die Anstalten zur Flucht getroffen worden; doch möchte ich nicht, daß es meine Kinder erführen; ihnen fehlt jene Ruhe und Besonnenheit, fürchte ich, die in solchen Lagen des Lebens unerläßliche Pflicht wird; ich will überall klar sehen und frei handeln, und da könnten sie mich stören. Ich habe die Vollmacht in der Hand, die mir eine ansehnliche Bedeckung von Seiten des Prinzen zugesichert, im Fall ich nach Dresden gehen will; in keinem Fall lasse ich mich in Leipzig einsperren, lieber vertheidige ich mich hier in meinem eigenen Hause. Mein Bruder in Wien ist ebenfalls benachrichtigt, und so brauche ich noch nicht von der allgemeinen Verwirrung mich fortreißen zu lassen.«

Der Geistliche wollte eben auf diese Mittheilungen etwas erwidern, als eilende Schritte durch den Bogengang sich näherten und die Gouvernante plötzlich athemlos vor den Sprechenden stand; sie ergriff mit einer heftigen Bewegung die Hand der Gräfin, indem sie vergebliche Versuche machte, der bewegten Brust so viel Athem zu verschaffen, um ihren Besorgnissen Worte zu leihen.

»Was ist Ihnen, Mademoiselle?« fragte die Dame.

»Um Gotteswillen!« stammelte diese, »Sie haben Nachrichten erhalten. Ich sehe, daß Sie mich vermeiden; der Umweg, den Sie durch den Garten nahmen, als ich auf Sie zueilen wollte – ein blutiges Gefecht ist vorgefallen, sechshundert Todte – er ist – o sagen Sie mir Alles!« – Sie konnte; nicht weiter sprechen und barg ihr Haupt in beide Hände.

»Fassen Sie sich!« rief die Gräfin gütig, indem sie ihre Hand der Bewegten hinreichte; »von wem sprechen Sie? was wollen Sie von mir wissen?« –

»Ich,« stammelte jene, »ich frage nur – ob er noch lebt?« –

»Wer denn, Mademoiselle?« –

»Ach! ob Niemand aus Ihrem Hause verwundet, gestorben.« –

»Trösten Sie sich!« sprach die Gräfin mit Ernst, »die besten Nachrichten sind eingelaufen; die Unsrigen leben, sind gesund.« –

»Gott sey gedankt« jauchzte die Beglückte und drängte sich mit einem Handkuß an die Gräfin; diese wandte sich zu dem Kanonikus, indem sie mit der gewohnten Heiterkeit sagte:

»Nun, würdiger Herr, lassen Sie uns in den Salon gehen; der kurze Herbsttag erreicht schon sein Ende, die Bilder des Unfriedens und der Vergänglichkeit mögen uns nicht in unser stilles Heiligthum folgen; Sie sollen mir Ihr Urtheil über eine neue Musik sagen, die ich vor kurzer Zeit erhalten.«

Sophie kam den Eintretenden im Saale schon entgegen, die Lichter brannten, und vor dem geöffneten Pianoforte, schön wie die heilige Cäcilie, saß die jüngere Gräfin, und rauschende, heitere Klänge begrüßten freundlich das Ohr der Kommenden. Nach einer Weile trat Hersilie herein, Schwermuth und Thränen lagen in ihrem schönen Auge; als sie nach der Schwester den Platz am Pianoforte einnahm, mußten die Lichter weggebracht werden. Im Dämmerlicht saß sie da, das weiße Gewand floß in schweren Falten herab auf den Boden, die schmalen, zarten Hände berührten sanft die Tasten, dem wie in Begeisterung erhobenen Haupt entfielen die reichen Locken und gossen sich auf den Nacken aus. Es war, als senkte sich in dem Augenblick, da sie die Wimper hob und die großen blauen Augen gen Himmel schlug, mit mächtigem Flügelschlage ein andachtgebietender Cherub von der Decke nieder; ungewiß zitterte das Licht der Kerzen, als bebte ihre zitternde Flammenseele den Geistertönen entgegen; tiefe Stille herrschte, und an den hohen Wänden rauschten die Schatten künftiger, näher Geschicke mahnend vorüber.

Jezt klang der erste volle Akkord aus Händels Messias, und die Worte ertönten nah und jeder Seele lebendig: »Blick auf, Nacht bedecket das Erdreich!« ein schwerer, düsterer Hinblick eines trauernden Engels auf eine finstere Zeit: durch die dunkel aufsprossenden Saaten der im Nachtschatten daliegenden Erde gehen Boten des Himmels mit silberleuchtenden Gewändern, mit klaren, klingenden Fittichen. Verbrannte Saaten, rauchende Wälder kränzen den Horizont, den ein faltiger Nebelschleier mit Gewitterschwere drückt – ach, es flieht die Kreatur! »Nacht bedecket das Erdreich.«

Jezt schwieg die Stimme und ließ Alle in banger Erwartung.

»Um's Himmelswillen!« rief die Gräfin, »so löse doch diese tiefe Dissonanz, führe uns wieder zum Licht hinaus, daß wir nicht in Tod und Nacht verzweifeln!« –

»Ihr habt es ja gewollt!« rief Hersilie aufstehend; »da habt Ihr es nun, kann ich es ändern? Liegt es in meiner Macht, die Umstände anders zu fügen, die finstere Schlacht, die uns bedroht, mit einem Hauch meines Mundes hinwegzublasen? Die Vorgespenster der Gemordeten irren schon herum, das Leben zittert, ängstlich am Blutstropfen der lezten Minuten; kann ich's ändern? Blicket hin, Nacht umgibt das Erdreich!« –

»Du hast uns verstimmt, statt uns zu erbauen!« rief die Gräfin, seltsam erschüttert; »in den Händen des Mißlaunigen wird jedes Beruhigungsmittel zum aufreizenden, verwundenden Dorn.«

Der eintretende Diener meldete einen Besuch, und in dem Moment öffnete sich die Thür und ein ältlicher hagerer Mann trat herein, den die Gräfin als ihren Beichtvater begrüßte. Er kam aus Leipzig und versicherte, die ganze Umgegend beim Grimma'schen Thor und selbst das Landhaus der Gräfin sey rings mit Franzosen besetzt.

»Ich kann,« sezte der ernste, etwas trockene Mann mit einer betrübten Miene hinzu, »nur eine traurige Nachricht geben. Ein Zufall entdeckte mir, daß ein Schreiben vom Grafen Erwin, wie ich vermuthe, angelangt, doch leider aufgefangen worden ist; der lange Bertram, der jezt auch im Soldatenrock steckt und früher dem Grafen gedient hat, versicherte, den Boten gesprochen zu haben, dem sie das Schreiben abgenommen.« –

»Ein Brief an mich?« rief Josephine; »o geschwind, Herr Kaplan, schaffen Sie mir ihn!« –

»Was kann ich thun, gnädigstes Fräulein?« entgegnete dieser. –

»Was Sie thun können? Eilen Sie, schaffen Sie mir ihn wieder! Wie kann man so kalt, so gleichgültig seyn!« –

»Um Vergebung,« sagte der Beichtvater ruhig, »jezt in finsterer Nacht mache ich mich nicht vor die Thüre, besonders wenn es darauf ankommt, bei der ganzen französischen Armee nach einem verlornen Brief zu fragen.« –

»Ich muß den Brief haben,« rief die Gräfin und zog heftig an der Klingel.

Die Mutter und der Kanonikus waren aufgestanden; der Jäger trat herein; als sich Alle zu ihm wandten, bemerkte man, daß der sonst so ruhige, sichere Mensch eine auffallende, unruhige Bewegung in seinen Mienen zeigte.

»Was ist geschehen, Leonhard? was fehlt Ihm?« –

»Gnädige Frau,« stammelte der Jäger, »die jüngste Gräfin ist verschwunden.« –

»Sophie? wo ist sie? sie war ja eben hier.« –

»Das gnädige Fräulein,« nahm der Diener das Wort, »befahlen mir, sie in den Garten zu begleiten, um die beiden kranken Tauben zu füttern; am Eingange ließ ich sie einen Augenblick allein, um eine Laterne zu holen; als ich zurückkam, war sie nicht mehr zu finden.« –

»Er verdient, daß ich Ihn augenblicklich seines Dienstes entlasse,« rief die Gräfin mit Strenge; »weiß Er denn nicht, daß es seine Pflicht ist, das Kind keinen Augenblick zu verlassen, besonders jezt in dieser unruhigen Zeit?«

Die beiden Schwestern waren auf den Balkon getreten, der nach dem Garten führte, die Glasthüren wurden geöffnet, und indeß der Jäger mit zwei Armleuchtern hinunterleuchtete, wurde die Verlorene öfters beim Namen gerufen. Der Nachtwind schüttelte die dunkeln Zweige unten, und immer verscholl die Stimme ohne Antwort; endlich zeigte sich etwas Weißes in dem Gebüsche, und bald darauf sah man das blondgelockte Köpfchen der Kleinen, wie es mit klaren, freudeglänzenden Augen von unten herauf sah; sie hatte in ihrer Rechten einen Brief, den sie triumphirend empor hielt.

Als man den Flüchtling wieder in der Stube hatte, erzählte die Kleine mit der ihr eigenthümlichen Lebendigkeit, auf welche Weise sie zu dem Brief gekommen sey, der kein anderer als der war, von dem der Kaplan gesprochen.

»Ich blieb,« rief sie, »als Leonhard mich verließ, ruhig auf der Treppe stehen; da hörte ich, wie sich nicht weit von mir ein Mann, in einen Mantel geschlagen, näherte und mir auf Französisch zurief: Mademoiselle, gehören Sie in dieses Haus? Ich antwortete: ja, mein Herr; da bat er mich in eben der Sprache sehr freundlich, ich möchte zu ihm kommen; ich that es, und als ich bei ihm am Zaune stand, sprach er in seiner freundlichen Art weiter und fragte mich, ob ich Deine Tochter sey, liebe Mutter, ob wir nicht die Feinde, die Franzosen, fürchteten, und wie es komme, daß wir noch nicht geflohen seyen. Ich blieb ihm keine Antwort schuldig und sagte: Monsieur, wir fliehen nicht, denn wir fürchten die Franzosen nicht; da lächelte er und rief, ich sey eine artige Demoiselle, die Courage hätte und recht gut französisch spräche; ich machte ihm hierauf eine Verbeugung, welche er auch erwiderte, indem er recht herzlich dazu lachte. Da ich sah, daß er so guter Laune war, fragte ich ihn, ob er nichts vom Kaiser wisse; über diese Frage dachte er lange nach und sagte endlich: Warum fragen Sie das, Mademoiselle? Ich sagte ihm darauf, ich habe den Kaiser lieb und er sey mein Mann. Jezt lachte er wieder, fing mich mit beiden Händen um den Leib und zog mich über den Zaun herüber; ich wollte weinen und rufen, allein er drückte mir einen Kuß auf die Wange, so tüchtig, daß mich sein Bart nicht wenig stach. Wenn der Kaiser Ihr Mann ist, Mademoiselle, so müssen Sie ihm in's französische Lager folgen; kommen Sie! Jezt fing ich an, mich ernstlich zu fürchten; auf der Landstraße brannten Feuer, es gingen Soldaten vorüber, ich sah weder Leonhard, noch sonst jemand Bekanntes und brach darum in Thränen aus; er bemerkte es und suchte mich zu liebkosen, als ich aber immer heftiger weinte, hob er mich wieder über den Zaun, und indem er mir diesen Brief gab, nestelte er einen Orden von seiner Brust los, reichte ihn mir hin und sagte: Behalten Sie das zum Andenken von mir, Mademoiselle. Der Brief hier ist an Ihre Schwester gerichtet; die Unsrigen haben ihn aufgefangen, doch ich gebe Ihnen denselben zurück; leben Sie wohl, vergessen Sie mich und mein Geschenk nicht. Damit ging er fort, und ich hörte Deine Stimme, liebe Mutter, sah Euch auf dem Balkon stehen, und da lief ich sogleich hieher.« –

»Welche Abentheuer!« rief Josephine, »Du kannst uns noch in den Ruf bringen, als hielten wir es mit dem Feinde.«

Die Mutter nahm sie ernst bei der Hand und sagte: »Du entgehst jezt noch der Strafe, unvorsichtiges Kind; aber für ein anderes Mal hüte Dich, mir so viel Kummer und Schrecken zu verursachen.«

Der Kanonikus und der Kaplan hatten sich den Orden zeigen lassen und fanden, daß es das Kreuz der französischen Ehrenlegion war.

»Ein sonderbarer Vorfall!« rief die Gräfin; »ich weiß nicht, was ich daraus machen soll; ich bin keinesweges willens, dieses übel angebrachte Geschenk zu behalten, und dennoch, wem soll ich es zurückgeben?«

Sophie schmiegte sich, trotz der Furcht vor der zürnenden Mutter, zärtlich an sie und bat, indem ihr die Thränen über die Wangen liefen, daß man ihr das Kreuz lassen möchte, weil es gewiß vom Kaiser komme, der es ihr zugeschickt habe. Josephine theilte aus dem Briefe, die Nachricht mit, daß die beiden Offiziere, vielleicht auch der Prinz und Viktor, am dritten Tag Abends da zu seyn hofften. Diese Nachricht, so wie Sophiens Abenteuer brachte vielfache Bewegung in die Gesellschaft, und während man noch mit einander sprach und stritt, nahmen der Kanonikus und der Kaplan die Gelegenheit wahr sich zu entfernen.

Als sie schweigend mit einander gingen, nahm der Kanonikus das Wort und sagte: »Ich glaube, daß ich, schon die Ehre hatte, würdiger Herr, Sie zu sehen.« –

»Waren Sie nicht der Mann,« entgegnete jener, »den ich beim Graben beschäftigt fand, als ich mich bemühte, meinen unglücklichen entsprungenen Zögling einzuholen?«

Auf die Bejahung dieser Frage entspann sich jezt zwischen den beiden Männern ein ernstliches Gespräch über die verworrenen und dunkeln Verhältnisse der Familie der Gräfin. Der Kanonikus glaubte zu seinem Amtsgenossen vollkommenes Vertrauen fassen zu können, und theilte ihm im Laufe des Gesprächs jene aufgefundenen Papiere mit. Der Kaplan nahm sie in Augenschein, sein Interesse wuchs, je länger er sich mit ihnen abgab, und endlich erklärte er seinem Freunde, daß sich hier die wichtigsten Aufschlüsse vorfänden, die der unglücklichen Familie Trost und Hülfe zusicherten. Der Kanonikus erstaunte über diese Erklärung.

»So sind also,« rief er, »die Glücksumstände dieser reichen Sippschaft zerrüttet?« –

»Von welchem Glück sprechen Sie?« rief der Beichtiger sehr ernst; »das zeitliche Glück hat diesem Hause nie gefehlt, doch leider sind jene himmlischen Glücksgüter, Friede, Unschuld, Liebe, selten hier einheimisch gewesen. Durch diese aufgefundenen Papiere sinkt ein Theil der schwarzen Schuld nieder; doch ich fürchte, der Fluch ist nicht gebrochen; ein drohender Gewitterhimmel schwebt über uns, er kann den Todesstrahl auch für dieses Haus bergen; denn die Schuld der Eltern wird heimgesucht bei den späten Enkeln.« –

Der Schauplatz um Leipzig, bis jezt noch in ziemlicher Ruhe, nahm am 14ten Oktober einen völlig kriegerischen Charakter an. Es war bestimmt, daß der Kaiser von Düben in Leipzig eingetroffen war; das vierte, fünfte und elfte Korps der Garden nahm auf der Südseite der Stadt ihr Lager; auf der Straße nach Halle befand sich das sechste Korps, welches sich mit dem dritten und siebenten Korps, das von Wittenberg und Dessau nach Leipzig beordert war, vereinigte. Straßen, Felder und Ebene waren mit Soldaten bedeckt; wo das Auge hinblickte, schien eine Welt von Soldaten versammelt. Nachts flammten unzählige Wachtfeuer empor, Unruhe, Verwirrung, Muth und Zuversicht wechselten unter den unglücklichen Bewohnern Leipzigs.

Im Hause der Gräfin waren der Kaplan und der Jäger noch gegen Abend beschäftigt, einige Kostbarkeiten in die dazu bestimmten Kisten zu packen, an den Wänden des Gemachs rings vertheilt, standen schon die gefüllten Koffer, Diener liefen hin und her, im Hofe hörte man Wagen verfahren und viele Stimmen durcheinander sprechen. Ein Offizier mit mehreren Reitern hatte sich eingefunden, um den Zug der Wagen zu begleiten; die Gräfin hatte mit ihrer Familie die Nacht zum Ausbruch bestimmt; bis so lange wollte sie, ihrem Versprechen gemäß, auf ihre Schwiegersöhne, auf Viktor und den Prinzen warten.

Der Kanonikus hatte sich einige Zeit hindurch nicht blicken lassen, die Dienerschaft hatte ihn trübselig herumschleichen sehen und auf alle theilnehmenden Fragen nur zur Antwort geben hören, daß er die verfehlte Nachgrabung nicht vergessen könne. Er wollte, um neue Versuche anzustellen, die Dienerschaft in Anspruch nehmen, allein in der Verwirrung und Unruhe, in der sich das ganze Haus befand, zeigte sich Niemand, der ihm hätte hülfreiche Hand leisten können. Sophie, die ihren Freund nicht verlassen, folgte ihm durch alle die leergewordenen Gemächer bis in den Garten; sie hatte das kleine Kreuz an einem schönen rothen Bande um den Hals gehängt, und wo sich nur Jemand fand, der sie anhören wollte, dem erzählte sie, daß dieses ein Andenken vom Kaiser sey.

Jezt, da der Kaplan eben mit einer Kiste fertig geworden, kam durch die geöffnete Saalthüre die Kleine weinend gelaufen, indem sie rief: »O Himmel, so kommt doch meinem armen Vater zu Hülfe, die Soldaten haben ihn todtgeschlagen!«

Die Gräfin, die eben eingetreten war, fuhr ängstlich auf, und in dem Moment brachten zwei Diener den Kanonikus, auf einen Sessel hingestreckt, in's Zimmer. Er lag, das Haupt zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen; die linke Wange war hoch aufgeschwollen und mit dunkelm Purpur gefärbt.

»Machen sich Eure Gnaden keine Besorgnisse,« rief der Jäger; »er hat sich das Unglück selber zugezogen.« –

»Welches Unglück?« fragten die Gräfin und der Kaplan. –

»Keiner von den Unsrigen hat sich an dem Herrn vergriffen; er hat auf dem Hof herumgespürt und endlich verlangt, daß eine Schildwache, die am Thore aufgestellt worden, ihren Platz verlassen solle, weil er gerade auf der Stelle nachgraben wollte; der Soldat hat sich natürlich nicht wegweisen lassen und erklärt, er sey auf seinem Posten, den er nicht verlassen dürfe. Als aber nun der geistliche Herr, auf keine Einrede achtend, noch heftiger in ihn dringt, weiß sich der kräftige Bursche, der keinen Spaß versteht, nicht anders zu helfen, als daß er dem Herrn einen tüchtigen Backenstreich versezt, worüber dieser in das Gras gefallen ist.

Die Gräfin blickte zu Boden, sie konnte nicht ganz ein Lächeln unterdrücken, das ihr bei diesem tragischen Ereigniß aufstieg. So hatte denn der unermüdlich thätige Mann einen zweiten Schicksalsschlag ausgehalten, indem er der Spur des ersten nachging. Man that alles Mögliche, um den unglücklichen Schatzgräber wieder zu sich zu bringen. Als er die Augen aufschlug, fand er sich zur Seite der Gräfin, die eben ihr seidenes Tuch um die entzündete Wange geschlagen; erschreckt blickte er auf, indem er sich mühsam zu einem Lächeln zwang.

»So soll ich denn, verehrte Frau,« sagte er mit matter Stimme, »Ihr liebes Landbaus nie und nimmer aus dem Gedächtniß bringen! Glauben Sie mir, es wäre auch ohne diese Kraftäußerung jenes Tölpels von Musketier nicht geschehen. Gewiß,« sezte er mit gutmüthigem Lächeln hinzu, »wenn die Todten jemals auferstehen, so ist diese Ohrfeige von den Todten auferstanden: dieselbe Wange, dieselbe durchdringende Schwere, es fehlte nichts.« –

»Beruhigen Sie sich!« rief der Kaplan; »Ihr Zustand fordert Ruhe, lassen Sie jezt aus Ihrem Gedächtniß die fatale Kiste sammt ihrem Inhalt.« –

»Sie haben Recht,« entgegnete der Kranke, »ich werde diese dornenvolle Untersuchung aufgeben; denn wahrlich, einen dritten Schlag hielte ich nicht mehr aus, und es wäre doch übel, wenn ich hier so in der Stille an Backenstreichen hingemordet werden sollte, während mir doch in so wichtiger Zeit Manches zu thun übrig bleibt.«

Der Kaplan unterstüzte seinen alten Freund und leitete ihn hinauf in ein abgelegenes Stübchen, wo er sich auf ein Ruhebett niederlegte.

Indessen sprengten zwei Reiter, in Mäntel gehüllt, in den Schloßhof; bald darauf sah man die jungen Gräfinnen die Treppe hinabeilen, Lichter flammten hin und her, Geklirr von Sporen und Degen ertönte in den untern Gemächern. Graf Erwin trat der Mutter entgegen, und sich auf ihre Hand herabneigend, rief er:

»Theure Frau, wir kommen, Sie an ihr heiliges Wort zu mahnen: feiern Sie unsere Hochzeit heute; die größte Gewißheit ist, daß morgen hier das Schlachtfeld eröffnet wird; nur die drei ersten Stunden dieser Nacht sind noch unser. Lassen Sie diese Nacht die schönste sehn, so wie sie vielleicht die lezte unseres Lebens ist.«

Er erröthete bei diesen Worten und eine Thräne trat in seine Augen; beide Gräfinnen senkten ihre Blicke zur Erde, die Mutter entgegnete mit einem tiefen Seufzer:

»Ich war auf dieses Verlangen gefaßt; nun wohlan, so sey es! Mein Herz droht zur brechen unter den Stürmen der Zeit, doch, meine Söhne, das erste Wort, das Ihr von meinen winterlichen Lippen hört, sey: Folgt der Stimme der Ehre!«

Die Jünglinge sanken entzückt zu den Füßen der würdigen Dame. Die späte Abendstunde hatte die Greisin dazu bestimmt, mit ihrer ganzen Familie und Dienerschaft das heilige Abendmahl zu nehmen, die Kapelle am Hause war zu diesem Zweck bereits festlich geschmückt worden. Man erwartete nur den Prinzen und Viktor.

Um eilf Uhr, als rings Schüsse hörbar wurden und ein Orkan aus Westen, der sich plötzlich erhoben, mit fürchterlicher Gewalt über die Dächer dahinbrauste, Wolken von Schlossen und Regen gegen die Fenster der Kapelle werfend, trat die Gräfin mit ihren Töchtern, in einfache weiße Gewänder gehüllt, den Schleier auf dem Haupt, in die Kapelle. Voran ging die Mutter mit Sophien, dann folgte Josephine am Arm ihrer Schwester, hinter ihnen der Graf und der Baron. Wie der Zug langsam dahin ging, trennte sich zulezt Hersilie von den übrigen und betrat die Stiege zu der Orgel hinauf.

Bald darauf drangen durch die Stille der andächtig versammelten kleinen Gemeinde wie kühlende Engelsfittiche die Friedensklänge von oben; es waren die heiligen Worte, die Einsetzungsworte des Abendmahls von Palestrina im Auszug. Mit erschütternd weichem Ton, fast wie ein Kind bittend, klangen Hersiliens Worte: Fratres, ergo enim accepi a Domina, quod et tradidi vobis, quoniam Dominus Jesu, in qua nocte tradebatur u. s. f.

Der Kaplan erschien vor dem Altar und winkte die Familie heran;die Gräfin erhob sich rasch und ließ sich an der mittlern Brüstung nieder; rechts kniete Julie mit der kleinen Sophie an der Hand, links hatten sich Josephine und Hersilie umschlungen, die Häupter tief niedergebeugt; die Seitenwände der Brüstung nahmen knieend in voller Uniform Erwin und Rosenberg ein. Aller Augen sahen auf die Gnadenspeise, die in der goldnen Kapsel in des Priesters Hand schwebte; er wollte sie zuerst der Gräfin reichen, doch sie wies ihn zu Sophien, weil sie die Jüngste im Kreise, und darum an Reinheit dem Himmel am nächsten stand; dann nahm sie selbst das geweihte Brod.

Als die heilige Handlung auch an den Uebrigen vollendet war, winkte die Gräfin mit Vergießung häufiger Thränen die Liebenden zu sich; sie selbst legte die Hände in einander, der Kaplan sprach die kurze Segensformel aus, und indem beide Paare sich umschlungen hielten, lehnte die Gräfin im Uebermaaß des Schmerzes und der Trauer auf der Schulter ihrer kleinen Tochter. Man hörte im hohen Gewölbe kein Wort sprechen, nur der Sturmwind tosete über das Dach hin und warf einzelne Schiefer klirrend an den Fenstern nieder.

An der Thüre des Gotteshauses kam den Offizieren der Adjutant des Prinzen entgegen, der sie auf wenige Augenblicke abrief; einsam, in ihre Schleier gehüllt, folgten die beiden Vermählten ihrer Mutter. Im Hause wurden noch einmal alle Befehle wiederholt; die dritte Stunde der Nacht, wo die Offiziere fort mußten, war auch bestimmt, die beiden jungen Gräfinnen mit der übrigen Familie hinwegzuführen; die Flucht sollte für's Erste nach Dresden gehen, wo die Gräfin ein Haus besaß. Die Mitternachtsglocke tönte durch die Nacht; das ganze Schloß war in Dunkel gehüllt, nur oben die Gemächer der beiden Vermählten waren erhellt; eine Stunde darauf sezte sich in der Stille ein Zug von Wagen und Reitern aus dem Schloßhof in Bewegung.

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Die Sonne des achtzehnten Oktobers verbarg sich schon frühe, und schloß einen Tag, der zu den blutigsten gehört, die jemals die Geschichte der Völker gesehen. Die ungeheure Ernte war vollendet, und die Schnitter lehnten müde auf den Leichen ihrer Brüder, mit denen die weite Ebene um Leipzig bedeckt war. Die Gefechte bei Connewitz und Lindenau hatten den blutigen Tag vorbereitet; Europa's Schicksal war entschieden; nur um den Besitz von Leipzig sollten noch die eisernen Würfel fallen. Auf einem Hügel, beleuchtet von den lezten Strahlen der untergehenden Sonne, standen die Sieger, die vereinten Herrscher, und schauten unter dem Donner des Geschützes auf den Schauplatz dieses bewegten Tages nieder; es war beschlossen, Leipzig am morgenden Tage zu stürmen; die Armee des Kaisers hatte noch auf das Hartnäckigste Connewitz, Probstheida und Schönfeld vertheidigt, nur, wie man allgemein glaubte, ihren Rückzug zu decken; der Kaiser selbst hatte sich in Leipzig eingeschlossen, Lindenau und Weißenfels waren besezt, und die Stadtmauer, so wie alle Gärten vor dem Grimma'schen Thor, sogar die Mauer des Gottesackers waren mit Schießscharten versehen worden, Gebüsche, Gärten und Gartenhäuser mit Scharfschützen besezt.

In der Gegend, wo das Haus der Gräfin stand, bewegte sich durch einen Reitervorposten der Verbündeten eine Sänfte, die von zwei Männern zu Pferde eingeschlossen und begleitet wurde; nur mit Mühe gelang es den Reisenden, sich in die Umgebung zu finden, so verändert waren die sonst so bekannten Gebäude und Plätze. Das Landhaus selbst war zerstört, ein Theil der Nebengebäude niedergebrannt, in den leeren Fensterhöhlen zeigten sich Soldaten mit Gewehren, so viel der ungewisse Schein der Wachtfeuer und einer zerbrochenen Laterne, welche an der Sänfte angebunden war, erkennen ließ. Der Prinz und Viktor, denn diese waren die Reiter, stiegen ab und näherten sich der Tragbahre, in welcher sich jezt eine weibliche Gestalt aufrichtete.

»Wir sind am Ziel, gnädige Frau,« rief der Prinz; »bestehen Sie noch auf Ihrem Vorsatz?« –

Die Dame war jezt ausgestiegen, und indem der Nachtwind mit ihrem weißen Gewand spielte, stand sie hochaufgerichtet da und warf einen verzweiflungsvollen Blick um sich; endlich lispelte sie kaum hörbar: »Dieses also ist das Schlachtfeld? hier, hier muß ich ihn finden?« –

»Um Gotteswillen, theure Cousine!« rief Viktor, »was wollt Ihr thun?« –

»Ihn finden;« entgegnete Hersilie mit einem schneidenden fürchterlichen Ton; »zündet mir eine Fackel an – ich muß ihm nach!«

Der Prinz wandte sich zu seinem Gefolge und fragte leise: »Hat man die Leiche entdeckt?« Auf die Bejahung dieser Frage befahl er, drei Fackeln anzuzünden.

Die Unglückliche war nicht länger aufzuhalten; in ihrem weißen Gewande, dessen zurückflatternde Falten, vom Abendwind gepeitscht, hier und da an dürren Zweigen hängen blieben, flog sie über das schwarze, schweigende Schlachtfeld so schnell, daß die drei nachwehenden Fackeln der Diener wie im Sturme ihr folgten; der Prinz und sein Begleiter sahen von ferne den Zug, den voraneilenden mädchenhaften Todesengel und die im Sturmschritt nachfolgenden Soldaten. Es überlief ein eiskalter Schauer seine Brust, er eilte näher und kam eben an, wie die Wolke des zusammenflutenden Kleides ihm die tief zusammengesunkene Stellung der Knieenden zeigte. Vor ihr lag der Leichnam des jungen Offiziers, dem sie durch Unterschieben zweier anderer todten Körper eine fast aufrecht sitzende Stellung gegeben hatte; das Haupt hing zurück und ein Theil der kalten weißen Brust war frei.

Das Erste, was sie that, war, in hastiger Bewegung ihr Tuch auf den Blutquell an der Seite zu werfen; dann – der Anblick war erschütternd! umklammerte sie die Brust, horchte bald mit dem rechten, bald, indem sie den Kopf mit krampfhafter Hast wandte, mit dem linken Ohr dicht an der Brust, und als sie dieses fürchterliche Spiel minutenlang fortgesezt, ohne daß sie ein Zeichen des Lebens erlauschte, hauchte sie mit sterbendem Ton: »Wie stille!« und sank zurück.

Der Prinz und Viktor hoben sie auf, und so ward sie davongetragen. Man brachte sie in die zerstörten Gemächer des Hauses; da lag sie in dem zerrissenen Kleide auf dem Divan, auf dem noch vor wenigen Tagen die heiterste Gesellschaft Platz genommen und wo eine frohe, geistreiche Unterhaltung geblüht hatte. Die Thüren des Salons standen offen, mitten im Gemach brannte das Wachtfeuer, rohe Kriegerschaaren lagen herum, Korn- und Munitionssäcke bedeckten das zertrümmerte Fortepiano. Viktor betrachtete die Zerstörung mit einem Blick des innigsten Schmerzes, der noch lebhafter wurde, indem er seine Blicke auf die im Sturm geknickte Lilie richtete; er blieb bei ihr zurück, indeß der Prinz forteilte.

Als er, in trübe Erinnerungen versenkt, aus dem Fenster lehnte, hörte er plötzlich hinter sich leise Schritte; er wandte sich rasch um und sah, daß eben eine verborgene Thür geöffnet wurde und ein bleicher langer Mann herein trat, der mit weit offenen, wahnsinnig starren Augen die Ohnmächtige betrachtete, jezt plötzlich mit einem Schrei auf sie zueilte und, indem er die Worte ausstieß: »So finde ich dich endlich, schöne Geliebte! wohlan! die Hochzeitsfackel brenne!« sie ergriff und umschlang.

Viktor hatte im augenblicklichen Zorn den Degen gezückt, und ehe er wußte, was er that, war die jammervolle Gestalt, von seiner Waffe durchbohrt, niedergesunken und hauchte eben mit einem dumpfen Schmerzenslaut ihr Leben aus.

»Was hab' ich gethan!« schrie der verwirrte Jüngling; »o Gott, den Bruder hab' ich getödtet! So trifft auch mich der Fluch dieses unglücklichen Hauses!«

Er hatte diese Worte noch nicht geendet, als man einen jungen Soldaten hereintrug, den Viktor sogleich für denselben erkannte, der ihn im Gefecht mit Aufopferung des eignen Lebens geschüzt hatte. Er trat zu ihm und blickte ihm mit Rührung in die brechenden Augen; der Sterbende streckte die Hand aus und stammelte die Worte:

»Leben Sie wohl, leben Sie glücklich! die Thräne in Ihrem Auge sagt mir, daß ich Ihnen nicht gleichgültig war.« –

»Großer Gott!« rief Viktor und kniete am Lager nieder; »wie ist mir, welche Stimme.«

Der Verwundete gab ein Zeichen mit der Hand.

»Julie!« rief Viktor; »ja, sie ist's!« –

»Ich bin's«,« stöhnte aus matter Brust das verkleidete Mädchen; »ja ich bin es, Viktor, mein lezter Athemzug gehörte Ihnen! Gott sieht in unsre Herzen, jezt darf ich es ja gestehen: Sie waren mir theurer als mein eigenes Daseyn, ich durfte Sie retten und – sterben.«

Der bestürzte Jüngling wollte um Hülfe rufen, er öffnete die Uniform, doch es war zu spät, das Leben war von der Lippe des kühnen Mädchens entflohen, sie athmete nicht mehr. Aus dem Nebengemach schallte das laute Hurrah der trunkenen Soldaten und das Geprassel der Flamme, dazwischen tönte das ferne Schießen.

In den engen Gassen Leipzigs drängten sich der zurückweichende Feind und die verfolgenden Verbündeten in der fürchterlichsten Verwirrung. Unter dem General Woronzow hatten fünf Bataillons russischer Jäger das Hospitalthor gestürmt, fast zu gleicher Zeit schwankte die Besatzung der andern Thore Leipzigs. Auf dem Wege nach Lindenau, welche Straße der fliehende Feind einnahm, versperrte ein dicht ineinander gefahrener Artilleriepark mit Wagen und Heergeräthe die engen Gassen; ein ungeheures Gedränge, Geschrei, Brüllen des groben Geschützes und Geprassel des Musketenfeuers tönten durch die Luft; die umliegenden Häuser, so gut wie möglich zur Vertheidigung eingerichtet, waren mit Bewaffneten gefüllt, aus den Fenstern, Dachöffnungen und Thüren drang Pulverdampf, mit Leichen war das Pflaster hoch bedeckt, Blut färbte die Mauern der Häuser.

Im Hause einer Verwandten der Gräfin befand sich die kleine Sophie; sie war bei der Flucht ihrer Mutter nach Dresden zurückgeblieben, weil das zarte Mädchen sich unwohl gefühlt hatte und die Gräfin durch das kranke Kind ihre Flucht aufgehalten wähnte, übrigens auch für sie fürchten mußte, da man bei Nacht und in höchster Eile reiste. Das Haus der Fürstin von Wellenau, die Sophie aufgenommen, befand sich ziemlich weit entfernt von jenem Platz am Ranstädter Thor. Das Nebenhaus, welches durch eine Gallerie mit dem Hauptgebäude zusammenhing, war von französischen Offizieren besezt. In der wilden Verwirrung, im Tumult der Uebergabe Leipzigs geschah es, daß die Fürstin mit ihrem ganzen Haushalt sich in eines der untern Gemächer zurückzog und das ihrer Sorge anvertraute Kind mit herunterzubringen befahl; allein die Diener, die Kleine suchend, durchirrten vergeblich die leergewordenen Prunkgemächer; nirgends war sie zu finden.

Sophie hatte unterdessen, um sich zu ihrer Pflegemutter zu begeben, den gewöhnlichen Salon aufgesucht, und als sie in diesem Niemand gefunden, trat sie, die Gallerie überschreitend, schüchtern in die Reihe von Zimmern. die sonst verschlossen gehalten wurden. Hier stand an einem Tischchen, den Rücken ihr zukehrend, ein Mann von nicht hohem Wuchse und starrte wie in Gedanken vor sich hin; im Nebengemache sah man durch die halbgeöffnete Thüre einige reiche Uniformen blitzen; eine tiefe Stille herrschte im Zimmer, die stark abstach gegen den Lärm auf den Gassen der eroberten Stadt. Als Sophie auch hier die Fürstin nicht fand, übermannte sie die Trostlosigkeit ihrer verlassenen Lage, und sie fing an, laut zu weinen, worauf der Offizier, aufmerksam gemacht, sich umwandte.

»Ah, Mademoiselle!« rief er, »sind Sie da! kommen Sie jezt, um nach Ihrem Manne zu sehen? Ja, Mademoiselle, es geht ihm schlimm, aber er hat Courage, wie Sie, und wird sich zu helfen wissen.«

Er trat zum weinenden Kinde, und es aufhebend, sezte er es vor sich auf den Tisch; die Kleine, durch dieses Betragen eingeschüchtert, hielt ihre Schürze vor die Augen und wagte erst spät, furchtsam ihren Blick aufzurichten.

Der Offizier hielt Sophien mit beiden Händen umschlossen und sagte: »Kennen Sie mich denn nicht mehr? erinnern Sie sich, daß wir uns beim Hause Ihrer Mutter gesprochen?«

Sophie erkannte jezt die Stimme und das Gesicht des Mannes, der sie an jenem Abend beschenkt hatte, ihre Thränen versiegten und mit einem gewissen treuherzigen Muth schloß sie ihre kleinen Arme um den Uniformkragen.

Der Offizier bemerkte das Kreuz an ihrem Halse und sein Ernst ging in Lächeln über: »Also ist mein Geschenk Ihnen doch werth gewesen? Sie lieben noch den Kaiser?«

Sophiens Herz schwoll bei diesen Worten: »Der arme Kaiser!« rief sie; »die vielen Soldaten, das Schießen! Ach! die häßlichen Menschen, die einen überfallen, der sich nicht wehren kann!« –

»Sie irren, Mademoiselle,«entgegnete der Offizier; »er hat sich wehren können und hat sich auch gewehrt, glauben Sie mir, er hat sich der Neigung seiner Dame werth bewiesen.« Hiemit bückte er sich nieder und küßte die Wange der Kleinen. »Kommen Sie,« sezte er hinzu, »wir wollen den Blick aus dem Fenster richten.«

Er hob sie auf's Fensterbrett, und ein Fernrohr nehmend, schaute er auf die bewegten Massen am Ende der Gasse; da stürzte ein junger Mann aus dem Vorzimmer, näherte sich dem Fenster und sprach einige eilige Worte, worauf ihm der Offizier eben so eilig und kurz antwortete. Gleich darauf erschien ein ältlicher Mann, auch er näherte sich ängstlich dem Fenster; Sophie verstand nur die Worte:

»Um Gotteswillen, nicht hier am Fenster, man weiß, daß Sie hier sind, wie leicht könnte –

– »Seyn Sie ruhig!« rief der Offizier; »halten Sie mein Pferd bereit, ich komme sogleich.« Noch waren diese Worte nicht geendigt, als das Kind in seinen Armen laut aufkreischte. »Sie wollen auf Dich schießen! sieh – sieh!« so rief sie und klammerte sich mit beiden Armen an den Mann.

In dem Moment sank sie von einer Kugel durchbohrt nieder; Blut besprizte das Fenster und den Boden, der Offizier hielt die kleine Leiche in seinen Armen; er war tief erschüttert, die andern stürzten aus dem Nebenzimmer herbei und in wenig Augenblicken war das Zimmer gefüllt.

Noch stand der Offizier stumm da, dann sprach er tief in sich hinein, indem er, die Arme verschränkt, auf die Leiche starrte: »Du, Du hast mich gerettet! – Ich habe doch Eine Seele gehabt, die mich liebte!« Er bückte sich herab auf die kalten Wangen, dann sezte er mit leiser Stimme hinzu: »Warst Du vielleicht mein guter Engel, der mich jezt verlassen hat?«

Eine tiefe Stille herrschte, dann erhob sich von Neuem der Donner des Geschützes und der Lärm auf den Gassen, man hörte ganz in der Nähe schießen und verschiedene Stimmen riefen unter dem Hause durcheinander. Der ältliche Mann näherte sich wieder dem Offizier, der noch in tiefen Gedanken dastand, und mahnte ihn zum Aufbruch.

»Ich komme!« rief jener, »ich komme!« Er hob den kleinen Körper, der schon kalt geworden, auf die Purpurkissen des nahen Divans, dann verließ er an der Spitze seines Gefolges das Gemach.

Eine halbe Stunde darauf verbreitete sich die Nachricht, daß der Kaiser die Stadt verlassen habe. Nicht mehr aus dem Ranstädter Thor konnte er hinaus, sondern aus dem Petersthor; hinter ihm flog die Brücke in die Höhe, und von der andern Seite der Stadt zogen unter dem Jubelruf der herbeiströmenden Menge die hohen Verbündeten an der Spitze ihrer siegreichen Truppen in Leipzig ein. Das Schicksal Europa's war entschieden.

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Es war im Frühling des folgenden Jahres; die herbstlichen Schatten mit ihrem schwarzen Gefolge waren über die Erde gegangen, das Leichenfeld um Leipzig, seiner schaudervollen Bürde entladen, fing an, sich wieder mit dem jugendlichen Schmuck grünender Saaten zu kleiden, die Stürme hatten ausgewüthet, doch noch lebte die herbe Erinnerung in allen Herzen, noch zeugten die zerstörten Wohnungen von den Tagen des Gerichts, noch bluteten zahllos geschlagene Wunden.

Da geschah es, daß an einem Abende sich dem zerstörten Hause der Gräfin R– zwei Männer näherten, die, im Gespräch vertieft, jezt stehen blieben und Blicke voll tiefer Trauer auf die öden Mauern des ehemaligen Sitzes der Pracht und Schönheit warfen.

»Erinnern Sie sich des Abends, Herr Kanonikus,« begann sein Begleiter, »als dieses Haus zum erstenmal Sie gastlich empfing?« –

»Wie sollte ich nicht!« war die Antwort; »o Freund, welche Wandlung! was ist es um die Entwürfe und Pläne des Menschen! Sie haben vor Kurzem Nachrichten von dieser unglücklichen Familie erhalten, theilen Sie mir mit, Verehrter, verschweigen Sie mir nichts.«

Der Kaplan sah finster zur Erde, dann erwiderte er: »Wenig Tröstliches kann ich berichten; die alte Gräfin hat den Tod ihrer beiden Schwiegersöhne, den jammervollen, in Wahnsinn übergegangenen Zustand Hersiliens nicht lange überlebt, ich habe die Nachricht ihres Dahinscheidens erhalten. Gräfin Josephine geht in ein Kloster, und so fällt das beträchtliche Vermögen entfernten Verwandten anheim. Das unglückliche Haus, bloßgestellt den Stürmen einer finstern Zeit, ist zugleich mit der Herrschaft eines kühnen Eroberers untergegangen; ein Beweis, daß ein Gebäude nicht Stand hat, das nicht zu seinen Stützen Gesetzmäßigkeit, Ordnung und Frieden hat, und daß die Verbrechen der Väter sich in ihren Enkeln bestrafen, bei einzelnen Familien, wie bei ganzen Nationen.«

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