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Zweiunddreißigstes Kapitel.
Wie Eduard zum dritten Male gekrönt wird.

Versetzen wir uns um einige Stunden zurück und treten wir um 4 Uhr des Morgens in die Westminster-Abtei. Wir sind nicht einsam, wiewohl es draußen noch dunkel ist. Die von Fackeln erleuchteten Galerien füllen sich schon mit Leuten, die es geduldig über sich bringen, sieben bis acht Stunden hier zu warten, um etwas zu sehen, was sie wohl nur einmal in ihrem Leben schauen können: die Krönung eines Königs.

Ganz London ist schon um 3 Uhr vom Kanonendonner jäh aus dem Schlafe aufgerüttelt worden und wogt nun von allen Seiten nach dem Münster hin.

Träge genug schleppen sich die Stunden dahin. Schon sind die Galerien vollgepfropft. Das können wir deutlich bei dem unbestimmten Licht erkennen. Nur das geräumige nordische Transept ist noch leer und harrt auf die Großen Englands. Inmitten des Chores erhebt sich der Königsthron. Vier Stufen führen zu ihm hinauf. Auf dem Thronsitz liegt ein roher flacher Stein, der berühmte Stein von Scone, worauf seit vielen Menschenaltern die schottischen Könige gekrönt wurden. So wurde er mit der Zeit ehrwürdig genug, um auch für englische Herrscher dem nämlichen Zwecke zu dienen. Thron und Fußschemel waren mit Goldstoff bedeckt.

Stille herrscht in den mächtigen Räumen, die Fackeln leuchten nur düster. Ermüdend langsam schleicht die Zeit dahin. Nach und nach bricht das Tageslicht durch die hohen Bogenfenster. Die Fackeln werden ausgelöscht und ein sanftes Morgenrot durchflutet die weiten Hallen. Deutlich erkennt man jetzt die einzelnen Teile der Kirche im rosigen Morgenschimmer.

Um 7 Uhr kommt Leben in das tiefe Schweigen. Mit dem Glockenschlage betritt die Gemahlin des ersten Reichsbarons das Transept, gekleidet wie Salomo in seiner Pracht. Sie wird von einem in Seide und Samt gehüllten Beamten an ihren Platz geleitet, während ein anderer die lange Schleppe der Dame aufhebt und ihr nachträgt. Dann stellt er der Dame einen Schemel vor die Füße und legt ihre kleine Krone an eine Stelle, wo sie dieselbe bequem erreichen kann, wenn die gleichzeitige Krönung des Adels stattfinden wird.

Jetzt strömen auch alle anderen Damen des Hochadels herein und werden ebenso zu ihren Sitzen geleitet. Nun gibt es für einige Zeit genug zu schauen. Dann aber tritt wieder Stille ein. Die Plätze der Damen im Transept sind alle besetzt. Wie eine diamantenblitzende Milchstraße erstrahlt es da vorne. Jedes Alter ist hier vertreten: braune, runzelige, weißhaarige Matronen, die sich noch an die Krönung Richards des Dritten und die damaligen bewegten Tage erinnern können; dann wieder blendend schöne Damen im blühendsten Alter; sanfte, liebenswürdige Mädchen mit glänzenden Augen und frischer Gesichtsfarbe, die kaum die glückliche Stunde erwarten können, da sie zum erstenmal ihr Krönchen sich aufsetzen dürfen. Das Haar aller dieser Damen hat die künstlerische Hand der Zofe so geordnet, daß es bequem die kleine Krone tragen kann.

Aber die Juwelenpracht kommt erst recht zur Geltung, als um 9 Uhr die letzten leichten Wölkchen am Himmel sich zerstreuen und ein schimmerndes Meer von Sonnenschein sich in alle Ecken der Kirche ergießt. Jetzt blitzen all die kostbaren Kleinodien in blendendem buntfarbigem Feuer. Ein staunendes Ah! der Überraschung und Entzückung durchfährt wie ein elektrischer Funke die weiten Galerien.

Nun erscheint ein Sondergesandter aus dem fernen Osten zugleich mit der Schar der fremden Botschafter und tritt ins Sonnenlicht. Der Atem stockt uns beinahe und die Augen schmerzen bei diesem Anblick. Von Kopf bis zu Fuß ist der Orientale mit Brillanten übersät. Die geringste Bewegung, die er macht, ruft ein neues vielfarbiges tanzendes Flirren und Funkeln hervor.

Wieder vergehen ein, zwei Stunden, dann dröhnt es gewaltig von Kanonendonner und verkündet das Nahen des Königs und seines Gefolges. Nicht lange währt es, und eine neue Flut von herrlich gekleideten Edelleuten strömt herein. Es sind die Großen des Reiches in ihren Prunkgewändern.

Auf den Galerien wird es lebendig. Aller Augen richten sich auf die Herzoge, Grafen und Barone da unten, von denen viele geschichtliche Bedeutung erlangt haben. Der König selbst erscheint noch nicht, da er vorerst umgekleidet werden muß. Alle übrigen haben unterdessen Platz genommen. Fürwahr! ein herrlicher Anblick ist es, die ganze große Versammlung vollständig zu sehen!

Zuletzt erscheinen die Kirchenfürsten mit Mitra und Stab. Sie schreiten würdevoll nach dem Chor und stellen sich dort auf. Ihnen folgen der Lord Protektor und andere hohe Staatsbeamte, begleitet von einer Abteilung der königlichen Wachen. Nun trat wieder eine Pause ein. Dann ward ein Zeichen gegeben und plötzlich durchbrauste rauschende Musik die lauschenden Hallen.

Tom Canty, in ein langes goldenes Gewand gekleidet, erschien an einer Tür und betrat den Chor. Die ganze Versammlung erhob sich von ihren Sitzen, und die Krönungsfeierlichkeiten begannen.

Ein Chorgesang ward angestimmt und Tom langsam zum Throne geleitet. Unter lautloser Stille der Zuschauer wickelten sich die Zeremonien ab. Tom aber wurde blasser und bleicher, je näher der Krönungsakt heranrückte. Ein tiefes Weh preßte ihm das reuevolle Herz zusammen.

Die Schlußhandlung kam. Der Erzbischof von Canterbury hob die Königskrone vom Kissen auf und hielt sie über das Haupt des zitternden Thronräubers. Im nämlichen Augenblick durchfuhr ein buntschillernder Blitz das geräumige Transept. Der ganze Hochadel ergriff zu gleicher Zeit seine Krönchen und setzte sich dieselben aufs Haupt.

Die tiefste Stille herrschte im Münster. In diesem Augenblick höchster Spannung erschien eine sonderbare Gestalt inmitten der Kirche und eilte durch das Mittelschiff dem Chore zu. Es war ein Knabe, barhäuptig, schlecht beschuht und in grobe Lumpen gekleidet, die in Fetzen herabhingen. Vor dem Chor angelangt, hob er seine Hand empor mit einer Feierlichkeit, welche zu seinem beschmutzten, elenden Äußeren nicht recht paßte, und rief warnend:

»Ich verbiete euch, die Krone Englands auf das Haupt eines Thronräubers zu setzen. Ich bin der König!«

Sofort wurde der kecke Eindringling von mehreren Händen gepackt. Aber ehe weiter etwas geschehen konnte, stieg Tom in seinen königlichen Gewändern vom Throne herab, trat rasch vorwärts und rief:

»Lasset ihn los und waget nicht, ihn zu berühren. Er ist der König!«

Erstaunen und Entsetzen ergriffen die Menge. Alles erhob sich und starrte verblüfft nach dem Chore. Niemand wußte, ob er seinen Sinnen trauen könne, ob er wache oder träume. Der Lord Protektor war ebenso überrascht wie alle anderen. Aber er faßte sich schnell und rief mit befehlender Stimme:

»Achtet nicht auf Se. Majestät! Seine Krankheit ist wieder über ihn gekommen. Ergreift den kleinen Vagabunden!«

Ohne Zweifel wäre man seinem Befehle nachgekommen, aber Tom stampfte mit seinem Fuß und drohte:

»Bei euerem Leben, rührt ihn nicht an! Er ist der König!«

Die ausgestreckten Hände zogen sich zurück. Eine Art Lähmung befiel die Anwesenden. Niemand bewegte sich, niemand äußerte ein Wort. Keiner wußte, was er sagen, was er tun sollte. Ein solcher Fall war noch nicht dagewesen. Während alle sich mühten, die Sachlage richtig zu erfassen, schritt der Bettlerjunge ruhig und in stolzer Haltung vorwärts und betrat den Chor, ohne daß ihn jemand zu hindern wagte.

Mit glückstrahlender Miene eilte Tom auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Kniee und sprach:

»O mein König, laßt den armen Tom Canty den ersten sein, der Euch Treue schwört und bittet: setzet Euch Euere Krone auf und tretet wieder ein in Euere Rechte!«

Der Lord Protektor schaute stirnrunzelnd auf den frechen Eindringling. Aber rasch wichen die Falten von seiner Stirn und machten einem Ausdruck höchsten Staunens Platz. Dasselbe ging bei den übrigen hohen Beamten vor. Sie blickten einander in stummer Verblüffung an und traten beinahe unbewußt einen Schritt zurück. Der Gedanke aller war der nämliche: »Was für eine ganz auffallende Ähnlichkeit!«

Der Lord Protektor dachte einen Augenblick nach und sagte dann mit zurückhaltender Achtung:

»Erlaubt mir, Herr, einige Fragen an Euch zu stellen.«

»Ich werde sie beantworten, mein Lord.«

Nun richtete der Herzog allerlei Fragen an ihn, über den Hof, den verstorbenen König und die Prinzessinnen. Der Knabe beantwortete alle richtig und ohne jedes Zaudern. Er beschrieb die Staatsgemächer im Palaste, die Gemächer des Königs und die des bisherigen Kronprinzen.

Er war sonderbar, nicht zu begreifen. Es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Alle sagten sich das, die es hörten. Die Sache schien eine Wendung zu gunsten des kleinen Bettlers zu nehmen, als plötzlich der Lord Protektor den Kopf schüttelte und sprach:

»Das ist freilich ganz wunderbar. Aber unser König kann alle diese Fragen auch beantworten.«

Diese Bemerkung betrübte Tom sehr und seine Hoffnung sank.

»Es sind also immer noch keine Beweise«, fuhr der Protektor fort.

Eine Pause peinlicher Erwartung folgte. Toms Ansehen war erschüttert und die Ansprüche des anderen erschienen immer noch nicht stichhaltig. Am ärgerlichsten schien der Protektor selbst. Er dachte für sich: »Es ist gefährlich für den Staat und für uns alle, wenn wir dieses verhängnisvolle Rätsel ungelöst lassen. Es könnte einen Zwiespalt im Volke erregen und den Thron untergraben«. Er wandte sich um und befahl:

»Herr Tuner, verhaftet diesen ... Nein, wartet noch!«

Sein Gesicht erhellte sich plötzlich. Ein erlösender Gedanke war ihm gekommen. Er fragte den zerlumpten Thronkandidaten plötzlich:

»Wo liegt das große Kronsiegel? Beantwortet mir dies, und das Rätsel ist gelöst. Denn diese Frage kann nur der wahre König beantworten.«

Das war ein glücklicher Einfall. Ja, niemand als der wahre Thronbewerber konnte dies schwierige Rätsel lösen. Wenn auch der freche kleine Eindringling seine Lektion gut eingelernt hatte, an dieser Frage mußte er scheitern, denn sein Lehrer selbst könnte sie nicht beantworten. Neugierige, spöttische und selbst boshafte Blicke richteten sich auf den zerlumpten Kleinen, der nun wohl in Verlegenheit geraten mußte. Aber nein, der Knabe schaute so vertrauensvoll drein wie immer, von Anfang an, und erwiderte:

»Das Rätsel ist gar nicht schwer zu lösen.«

Damit wandte er sich um und sagte mit der natürlichen, sicheren Ruhe eines, der zu befehlen gewöhnt ist:

»Mein Lord St. John, geht doch in mein Privatgemach im Palast. Niemand kennt sich ja dort so gut aus, wie Ihr. In der linken Zimmerecke gegenüber der Tür, die sich nach dem Vorzimmer öffnet, werdet Ihr an der Mauer einen goldenen Nagelkopf finden. Drückt darauf und der Deckel eines kleinen Geheimfaches wird aufspringen. Niemand weiß etwas davon, außer mir und dem verschwiegenen Handwerker, der mir das Fach machte. Das erste, was Euch darin vor die Augen kommt, wird das große Siegel sein. Bringt es hieher.«

Alle verwunderten sich über die Rede und mehr noch darüber, wie der kleine Bettler ohne jedes Zögern mit sicherem Blick diesen Hofbeamten herausfand. Dazu hatte er ihn mit einem so überzeugend ruhigen Ton angeredet, als wäre ihm der Lord Zeit seines Lebens bekannt gewesen. Der Reichsbaron war so verdutzt, daß er beinahe gehorcht hätte. Er machte sogar schon eine Bewegung, als wollte er gehen. Aber er besann sich noch rechtzeitig und nahm wieder seine ruhige Haltung an, als wäre er gar nicht angesprochen worden. Tom Canty schaute ihn an und sagte scharf:

»Was zögert Ihr? Habt Ihr den Befehl des Königs nicht gehört? Geht!«

Lord St. John entfernte sich mit einer tiefen, aber doch zurückhaltenden Verbeugung. Er machte sie auch nicht direkt vor Tom, sondern verteilte sie zwischen beiden Thronbewerbern. Es schien klar, daß er eine neutrale Haltung einzunehmen begann.

Nun machte sich unter den zurückgebliebenen Höflingen eine leise, kaum bemerkbare Bewegung geltend. Ganz langsam löste sich die glänzende Gruppe, die um Tom geschart war und zog sich in die Nähe des neuen Thronkandidaten, so daß Tom allmählich fast ganz allein dastand. Auch die wenigen, die noch zauderten, verzogen sich endlich und traten zur Mehrheit über. Schließlich stand Tom in all seinem Glanz und seinen Juwelen ganz verlassen da.

Lord St. John kehrte zurück. So groß war die allgemeine Spannung, daß selbst das leise Gemurmel verstummte, als man ihn das Mittelschiff heraufkommen sah. Atemlose Stille herrschte. Man hörte nichts als seinen hallenden Tritt. Er betrat den Chor, hielt einen Augenblick inne, schritt dann auf Tom zu und sagte mit tiefer Verbeugung:

»Majestät, das Siegel ist nicht dort.«

Nicht schneller weicht der Pöbel einem Pestkranken aus, als die Höflinge blaß und erschreckt von dem kleinen Bettler wichen. Im nächsten Augenblick stand er wieder allein da, eine Zielscheibe argwöhnischer, zorniger Blicke.

»Werft den Bettler auf die Straße und peitscht ihn durch die Stadt!« rief der Lord Protektor.

Offiziere der Wache sprangen vor, aber Tom winkte ihnen energisch ab und sagte:

»Zurück! Wer ihn auch anrührt, hat sein Leben verwirkt!«

Der Lord Protektor war baff. Er sagte zu Lord St. John:

»Suchtet Ihr auch genau? Aber das brauche ich doch nicht zu fragen. Die Sache geht über allen Begriff. Kleinigkeiten mögen ja abhanden kommen, aber ein gewichtiges, großes Ding wie das Siegel Englands kann nicht einfach spurlos verschwinden. So eine massige goldene Platte ...«

Mit strahlenden Augen trat Tom einen Schritt vorwärts und rief:

»Halt! das genügt. War sie rund und dick? Waren Buchstaben und Devisen darauf eingegraben? Ja? O nun weiß ich, wo dieses Kronsiegel ist, um das soviel Lärm gemacht wird. Hättet Ihr es mir früher beschrieben, so wäre es schon längst wieder an seinem richtigen Ort. Ich weiß recht gut, wo es liegt. Aber nicht ich legte es zuerst dahin.«

»Wer denn, mein Fürst?« fragte der Protektor.

»Dieser hier, der da steht, der rechtmäßige König von England. Und er soll es Euch selbst sagen, wo es liegt. Dann werdet Ihr glauben, daß er dessen Versteck kennt. Besinnt Euch, mein König, strengt Euer Gedächtnis an. Es war das letzte, das allerletzte, was Ihr tatet, bevor Ihr in meinen Lumpen aus dem Palast forteiltet, um die Wache zu bestrafen, die mich gezüchtigt hatte.«

Tiefes Schweigen folgte. Keine Bewegung, kein Flüstern machte sich wahrnehmbar. Aller Augen waren auf den Bettlerjungen gerichtet, der mit gesenktem Kopf nachgrübelte. Half ihm sein Gedächtnis, so trug es ihm eine Königskrone ein. Ließ es ihn im Stich so war er ein geächteter Betrüger für alle Lebenszeit. Langsam schlichen die Sekunden, die Minuten dahin. Immer noch grübelte der Knabe vergebens. Endlich stieß er einen schweren Seufzer aus, schüttelte leise und unmutig den Kopf und sagte mit zitternden Lippen:

»Alles habe ich mir zurückgerufen, was damals vorging, aber an das Siegel kann ich mich nicht erinnern.«

Er hielt einen Augenblick inne, dann schaute er umher und fuhr mit ruhiger Würde fort:

»Meine edlen Herren, wenn Ihr Euern rechtmäßigen Herrscher seines guten Rechts berauben wollt, nur weil ich diesen Beweis nicht erbringen kann, so vermag ich es Euch nicht zu wehren, da ich machtlos bin. Aber ...«

»O nicht so eilig, mein König!« rief Tom angstvoll. »Wartet doch! Denkt nach! Gebt es nicht auf! Noch ist nichts verloren! Und wahrhaftig, es soll auch nichts verloren sein! Hört auf das, was ich Euch sage; folgt jedem meiner Worte. Ich will Euch jenen Morgen wieder ins Gedächtnis zurückrufen, jede Kleinigkeit Euch in Erinnerung bringen. Also hört: wir plauderten zusammen. Ich erzählte Euch von meinen Schwestern Netty und Betty. Schön, das wißt Ihr also noch. Dann sprach ich von meiner alten Großmutter und den rohen Spielen der Burschen vom Unrathof. Nicht wahr, Ihr erinnert Euch? Gut; folget nur weiter. Ihr gabt mir zu essen und zu trinken und sandtet mit fürstlichem Takt die Diener weg, auf daß ich mich vor ihnen nicht zu schämen brauchte. Ah, auch das wißt Ihr noch.«

Und so fuhr Tom fort, alle Einzelheiten aufzuzählen. Der kleine Bettler nickte zu allem und die anderen Zuhörer starrten sich verwundert an. Die Erzählung klang so natürlich. Aber wie die beiden zusammen gekommen und wie sie die Rollen wechselten, schien allen unfaßbar. Mit gespanntem Interesse lauschte man dem Zwiegespräch.

»Zum Scherz tauschten wir die Kleider. Dann stellten wir uns vor einen Spiegel und bemerkten, daß wir uns beide so ähnlich sahen, als hätten wir gar keinen Wechsel vorgenommen. Nicht wahr, Ihr besinnt Euch? Schön; dann wurdet Ihr gewahr, daß die Wache mich an der Hand verletzt hatte. Seht hier! Ich kann immer noch nicht recht schreiben. Die Finger sind ganz steif davon geworden. Darauf sprang Euere Hoheit auf und wollte mich an dem Soldat rächen. Ihr eiltet zur Tür und ginget dabei an einem Tischchen vorbei. Das Ding, das Ihr Siegel nennt, lag darauf. Rasch nahmt Ihr es und schautet eifrig umher, wo Ihr es bergen könntet. Da erblicktet Ihr ...«

»Genug, genug! Dem lieben Gott sei Dank!« rief der zerlumpte Thronbewerber in mächtiger Erregung. »Geht, mein lieber St. John! In einem Armstück der Mailänder Rüstung, die an der Wand hängt, werdet Ihr das Siegel finden!«

»Richtig, mein König, ganz richtig!« rief Tom Canty.

»Nun ist das Zepter Englands Euer eigen! Wer es Euch noch streitig machen wollte, wäre besser taub geboren. Geht, mein Lord St. John und beflügelt Euere Schritte!«

Eine große Bewegung ging durch die erlauchte Versammlung. Unbehagen, Furcht und verzehrende Aufregung ergriffen alle. Durch die weiten Hallen der Kirche, wie auf dem Chor, begann ein betäubendes Stimmengewirr, so daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.

Unbemerkt und rasch verflog die Zeit. Plötzlich trat wieder Totenstille ein. St. John kam zurück, betrat den Chor und hielt das große Siegel hoch empor!

Ein stürmischer Ruf durchbrauste die Luft:

»Lang lebe der wahre König!«

Rauschende Musik fiel ein. Von dem Mittel- und Seitenschiffen der Kirche her winkten Tausende von weißen Handschuhen Willkommen!

Der Betteljunge aber stand da, errötend und glücklich und stolz inmitten des Chores und um ihn knieten die Vasallen und Großen des Reiches.

Jetzt erhoben sich alle wieder, und Tom Canty rief:

»Und nun, o mein König, nehmt diese königlichen Gewänder von mir und gebt dem armen Tom, Euerem Diener, seine Lumpen und Fetzen wieder.«

Da fuhr der Lord Protektor auf:

»Zieht dem kleinen Schurken das Krönungskleid aus und werft ihn in den Turm!«

Aber der neue, wahre König hob abwehrend die Hand und sagte:

»Nicht also! Ohne seine Hilfe hätte ich meine Krone nicht wieder erlangt. Niemand wage es, Hand an ihn zu legen! Und Ihr, mein lieber Oheim, mein Lord Protektor, Euch steht es schlecht an, so undankbar gegen den armen Knaben zu sein. Hat doch er Euch zum Herzog ernannt!«

Der Protektor errötete, und der König fuhr fort:

»Was ist nun Euer schöner Titel wert, da dieser Knabe doch nur Scheinkönig war? Morgen werdet Ihr um Bestätigung nachsuchen müssen, und zwar sollt Ihr Euch mit Euerer Bitte an ihn wenden. Nur auf seine Fürbitte hin werde ich Euere neue Würde bestätigen. Sonst seid Ihr ein einfacher Graf und sollt es bleiben.«

Lord Hertford senkte sein Haupt und zog sich ein wenig in den Hintergrund zurück. Jetzt wandte sich der König an Tom und sagte gütig:

»Aber höre einmal, mein armer Knabe, wie kam es doch nur, daß du dich erinnern konntest, wo das Siegel lag, während es mir selbst gänzlich entfallen war?«

»O das ist sehr einfach, mein König, da ich es wiederholt benutzte.«

»Wie? Und doch konntest du nicht gleich sagen, wo es war?«

»Ich wußte nur nicht, daß es das Siegel war. Sie beschrieben es mir ja nicht, Majestät.«

»Wozu hast du es denn benutzt?«

Alles Blut schoß Tom in die Wangen. Er senkte die Augen und schwieg.

»Sprich nur offen, mein guter Knabe und fürchte dich nicht«, sagte der König. »Wozu brauchtest du das große Siegel von England?«

Tom schwankte noch einen Augenblick. Dann aber stieß er in komischer Verwirrung hervor:

»Um Nüsse damit aufzuknacken!«

Armer Knabe! Er fiel beinahe in die Kniee bei dem stürmischen Gelächter, das seine Antwort hervorrief. Wenn noch ein Zweifel über den wahren König vorhanden gewesen wäre, diese Antwort hätte ihn vollends gehoben.

Das herrliche Krönungsgewand wurde von Toms Schultern abgenommen und um die des Königs gelegt, so daß dessen Lumpen vollständig verhüllt wurden. Dann nahm man die unterbrochenen Krönungsfeierlichkeiten wieder auf. Der wahre König ward auf den Thron gesetzt, gesalbt und gekrönt. Unaufhörliche Kanonensalven gaben das festliche Ereignis der Stadt kund, und ganz London widerhallte von Beifallssturm und Jubelrufen.


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