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Unhörbar wie eine Katze schlich der alte Mann davon und kehrte bald wieder mit der Bank zurück. Er setzte sich darauf nieder, halb in den Schatten und halb beleuchtet von dem Licht der mitgebrachten Kerze. So stierte er mit glühenden Augen auf den schlummernden Knaben. Dann schliff er wieder an seinem Messer und kicherte hämisch zwischen hinein. In Aussehen und Haltung glich er einer ungeheuren Spinne, die nach einem unglücklichen Opfer glotzt, das sich rettungslos in ihr Netz verstrickt hat.
Als der Alte wieder einmal von seiner Arbeit aufsah, bemerkte er plötzlich, daß der Knabe die Augen weit offen hatte und in tödlichem Schrecken nach dem Messer hinstarrte. Ein höllisches Lächeln glitt über das Gesicht des Einsiedlers. Ohne seine Haltung zu ändern oder von seiner Beschäftigung abzulassen, sprach er: »Sohn Heinrichs des Achten, hast du gebetet?«
Hilflos rang der Knabe in seinen Banden, und ein erstickter Laut drängte sich zwischen den zusammen gebundenen Kinnladen hervor. Der Eremit faßte es als Bejahung seiner Frage auf.
»Dann bete noch einmal. Verrichte dein Sterbegebet.« Verzweifelnd stöhnte der Knabe und gab endlich keuchend seine Anstrengungen auf. Jetzt kamen ihm die Tränen und träufelten, eine nach der anderen, die Wangen hinunter. Den wilden alten Mann rührte es nicht.
Langsam stieg die Dämmerung herauf. Der Einsiedler bemerkte es und sprach scharf und mit einer nervösen Hast: »Ich kann nicht länger warten. Die Nacht ist vorüber. Sie schien mir nur wie ein Augenblick. Ich wollte, sie hätte ein Jahr gedauert. O wie süß war dieses Gefühl der göttlichen Vergeltung, mit der mich der Himmel beauftragt hat! Aber nun rüste dich, du Abkömmling des Kirchenverfolgers, schließe deine Augen, wenn du fürchtest, mit offenen Augen ...« Was er sonst noch sagen wollte, verlor sich in ein dumpfes Gemurmel. Der alte Klausner sank auf die Kniee, das Messer in der Hand und beugte sich über den leise stöhnenden Knaben ...
Horch! Tönte das nicht wie eine menschliche Stimme vor der Hütte? Das Messer entfiel der Hand des Einsiedlers. Rasch warf er ein Schaffell über den Knaben und stand zitternd auf. Lauter erscholl die Stimme und zorniger. Dann hörte man Schläge und Hilferufe und gleich darauf eilige Schritte, wie von Fliehenden, die bald in der Ferne erstarben. Jetzt schlug es mehrmals nach einander donnernd gegen die Tür und rief: »Holla! Aufgemacht! und zwar hurtig, sonst helfe ich nach!«
Ah, das war der seligste Ton, der seit langem dem König ans Ohr gedrungen war! O es war ja Hendens Stimme!
Der Eremit knirschte in ohnmächtiger Wut, entfernte sich rasch aus dem kleinen Schlafzimmer und schloß die Tür sorgfältig hinter sich zu. Bald darauf hörte der König rufen: »Ich grüße Euch, ehrwürdiger Vater! Wo ist der Junge, mein Junge?«
»Welcher Junge, guter Freund?«
»Welcher Junge! Macht mir keine Flausen vor, Herr Priester. Ich bin nicht in Laune, mich so leicht abspeisen zu lassen. Hier, ganz in der Nähe, jagte ich zwei Schurken auf, welche ihn mir, wie ich mutmaße, entführt haben, und zwang sie zum Geständnis. Sie sagten mir, er habe sich wieder davon gemacht und sie hätten seine Spur bis an Euere Tür verfolgt. Sie zeigten mir sogar seine Fußeindrücke. Also macht mir nicht lange Klimbim, sondern schafft ihn mir herbei, sonst soll Euch der und jener ... Wo ist der Knabe?«
»Aha, Ihr meint wohl den zerlumpten königlichen Vaganten, lieber Herr, der in dieser Nacht hier war. Wenn Ihr Euch für ein solches Bürschchen interessiert, dann wißt, daß ich ihn mit einem Auftrag fortgeschickt habe. Er wird gleich wieder hier sein.«
»Wie lange mag das dauern? Ich will keine Zeit verlieren. Kann ich ihn nicht einholen? Oder wann kommt er wieder?«
»Ihr braucht Euch keine Mühe zu geben. Er wird in kurzem wieder hier sein.«
»Meinetwegen denn. Ich will ein bißchen warten. Aber halt! Ihr sandtet ihn mit einem Auftrage fort? Und dazu noch in stockdunkler Nacht? Das ist gewiß und wahrhaftig eine Lüge! Dazu würde er sich nicht hergeben. Er würde Euch an Euerem alten Bart zupfen, wenn Ihr eine solche Zumutung an ihn stelltet. Ihr habt gelogen, Freund, besinnt Euch! Er würde keinem Menschen einen solchen Dienst leisten, keinem!«
»Einem Menschen vielleicht nicht. Aber ich bin kein Mensch.«
»Ihr kein Mensch? Was zum Kuckuck seid Ihr denn?«
»Das ist ein Geheimnis, das Ihr nicht erraten könnt. Ich bin ein Erzengel.«
Henden stieß einen Ruf des Entsetzens aus und meinte sodann: »Freilich, wenn er Euch für einen Erzengel hielt, so ist es wohl möglich, daß er sich bereit fand. Sonst hätte er sicher weder Hand noch Fuß gerührt. Aber ja, wenn ein Erzengel einmal befiehlt, muß selbst ein König gehorchen. Laßt mich ... St! was war das eben für ein Geräusch?«
Während dieses Gespräches lag der junge König in einem quälenden Zwiespalt zwischen Todesangst und erwachender Hoffnung. Wenn er nur Henden herbeilocken könnte! Er rang und rüttelte an seinen Fesseln und versuchte zu rufen. Aber nur ein leises Stöhnen drang hervor, das für Hendens Ohr kaum vernehmbar war.
»Geräusch? Ich hörte nur den Wind«, bemerkte der Eremit.
»Das mag sein. Ja, das wird wohl so sein. Es war nur ganz schwach ... Halt! da ist es wieder! Das ist nicht der Wind! Das tönt so sonderbar! Ei, das wollen wir doch ein bißchen näher untersuchen!«
Das Herz hüpfte dem jungen König vor Freude. Er strengte seine müden Lungen aufs äußerste an, aber die versiegelten Lippen und das erstickende Schaffell dämpften zu sehr jeden Laut, der sich entringen wollte. Und nun ließ Eduard wieder alle Hoffnung fahren, als er den Einsiedler sagen hörte: »Ja, jetzt höre ich auch so was. Es kommt von draußen. Ich glaube, dort hinter jenem Hügel hervor. Kommt einmal; ich will vorangehen.«
Der König hörte, wie die Tür sich aufschloß, wie beide hinaustraten und fortgingen. Er war wieder allein in dumpfem Brüten und schrecklicher Ungewißheit.
Nach einer ganzen Ewigkeit, wie ihm schien, näherten sich die Schritte wieder, Stimmen ertönten und das Trampeln von Hufen. Dann hörte er deutlich Hendens Stimme: »Länger will ich nicht warten. Er hat sich offenbar in diesem dichten Walde verirrt. Nach welcher Richtung ging er? Rasch, weiset mich zurecht.«
»Er ging ... aber wartet. Ich komme mit Euch.«
»Schön, schön. Ihr seid wirklich besser, als Ihr ausseht. Meiner Treu, ich glaube nicht, daß ein anderer Erzengel das Herz so auf dem richtigen Fleck hat, wie Ihr. Wollt Ihr reiten? Wollt Ihr den kleinen Maulesel nehmen, den ich da für meinen Jungen mithabe, oder spreizt Ihr lieber Euere heiligen Gebeine über diesen elenden Racker, der sonst mich trägt?«
»Nein, reitet Ihr den Maulesel und führt den andern am Halfter. Ich gehe sicherer auf meinen eigenen Füßen.«
»Dann, bitte, haltet mir einen Augenblick das kleine Tier, während ich all meine Gewandtheit aufbieten will, um den Rücken dieses obstinaten Viehzeuges zu erklettern.«
Darauf folgte ein heftiges Getrampel, Bocken und Bäumen, mit donnernden Verwünschungen vermischt. Schließlich erhielt der störrische Esel eine bittere Schmähpredigt, womit sein Widerstand gebrochen schien, denn von da an blieb es ruhig.
Mit einem Gefühl unsagbarer Enttäuschung hörte der kleine König, wie die Stimmen und Schritte sich entfernten. Ein namenloses Elend überkam ihn, alle Hoffnung schien verloren. »Mein einziger Freund geht fort, der Eremit wird allein zurückkehren, und dann ...«
Er wagte den Gedanken nicht weiter auszudenken. Aber noch einmal sträubte er sich krampfhaft mit aller Macht gegen seine Bande, so daß es ihm wenigstens gelang, das Schaffell abzuwerfen. Plötzlich hörte er, wie die Tür sich öffnete. Das Geknarr drang ihm ins Mark. Schon glaubte er das Messer an der Kehle zu spüren. Schreckensbleich schloß er die Augen. Als nichts erfolgte, öffnete er sie wieder und sah ... Johann Canty und Hugo vor sich stehen.
Wären seine Kinnladen frei gewesen, er würde »Gott sei Dank!« gerufen haben. In einem Nu waren seine Glieder ihrer Fesseln ledig. Die beiden Eindringlinge nahmen ihren Gefangenen unter den Arm und eilten mit ihm fort, in den Wald hinein.