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Nachdenklich saß der König da. Dann schaute er auf und äußerte:
»Es ist sonderbar, höchst sonderbar! Ich kann es mir nicht erklären.«
»Ach nein, es ist gar nicht sonderbar, mein Fürst. Ich kenne ihn zur Genüge. Sein Benehmen ist ganz natürlich. Er war ein Schurke von Kindesbeinen an.«
»Ach so! Ich sprach nicht von ihm, Herr Michael.«
»Nicht von ihm? Ja, von was denn? Was ist denn sonderbar?«
»Daß der König nicht vermißt wird.«
»Wie? Was? Ihr sprecht in Rätseln.«
»Wirklich? Findest du denn nicht merkwürdig, daß nicht das ganze Land von Eilboten und Aufrufen wimmelt, die nach mir suchen und meine Person beschreiben? Ist es nicht höchst betrübend, daß das Staatsoberhaupt verschwunden ist? Daß ich einfach wie vom Erdboden vertilgt bin?«
»In der Tat, mein König, daran hatte ich gar nicht gedacht.«
Dann seufzte Michael und murmelte bei sich: »Armer kranker Knabe! Er kann seinen Traum nicht los werden.«
»Aber ich habe einen Plan, der uns beiden zu unserem Recht verhelfen soll. Ich will einen Zettel schreiben, und zwar in drei Sprachen, lateinisch, griechisch und englisch. Mit diesem Schreiben sollst du morgen in aller Frühe nach London eilen und es Lord Hertford, meinem Onkel, geben. Wenn er es sieht und gelesen hat, so weiß er, woran er ist. Dann wird er sogleich seine Boten nach mir aussenden.«
»Wäre es nicht besser, mein König, hier zu warten, bis ich mich ausgewiesen, mein Anrecht auf meine Besitztümer geltend gemacht und sie wieder erlangt habe? Dann wäre ich um so eher imstande ...«
Gebieterisch unterbrach ihn der König:
»Stille! Was bedeuten deine armseligen Besitztümer, deine kleinlichen Interessen gegenüber dem Wohle eines ganzen Volkes und der Würde der Krone!«
Dann schien er seine Heftigkeit zu bereuen und fügte in milderem Tone hinzu:
»Gehorche und fürchte dich nicht. Ich will dir schon zu deinem Rechte verhelfen und dich in all deine Besitztümer wieder einsetzen. Ja, ich werde noch mehr tun. Ich werde mich deiner Dienste erinnern und dich zu belohnen wissen.«
Damit ergriff er eine Feder und fing an zu schreiben. Henden schaute ihm liebevoll zu und sagte sich: »Wäre es Nacht, so könnte ich annehmen, ein König hätte gesprochen. Wenn die Laune ihn wieder ankommt, so donnert und blitzt er, wie ein richtiger König. Das läßt sich gar nicht bestreiten. Wo er das nur her hat? Jetzt kribbelt und kratzt er vergnügt drauf los und glaubt, das sei lateinisch und griechisch. Wenn nicht etwas dazwischen kommt, so schickt er mich wahrhaftig morgen mit diesem Unsinn nach London.«
Gleich darauf nahmen seine Gedanken wieder eine andere Richtung. Als der König sein Schriftstück beendet hatte und Michael einhändigte, nahm es dieser und steckte es in die Tasche, fast ohne zu wissen, was er tat. »Wie so ganz sonderbar sie sich benahm«, murmelte er. »Mir ist, als hätte sie mich doch erkannt. Aber sicher bin ich nicht. Es wäre doch unbegreiflich, wenn ihr mein Gesicht, meine Stimme, meine ganze Haltung fremd erschienen wäre. So sehr kann ich mich doch nicht verändert haben. Und dennoch sagte sie, sie kenne mich nicht. Das sollte mir doch genügen. Eine Lüge kann sie nicht über die Lippen bringen. Doch halt, da fällt mir etwas ein. Vielleicht hat er sie beeinflußt, einen Druck auf sie ausgeübt, sie vielleicht sogar gezwungen zu lügen. Wahrhaftig, so wird es sein! Das Rätsel ist gelöst. Sie schien ja auch zu Tode erschrocken. Gewiß! sie stand unter seinem Einfluß. Ich will sie aufsuchen, sie finden. Jetzt, da er fort ist, wird sie sich nicht länger verstellen. Sie wird sich der alten Zeit erinnern, da wir zusammen spielten. Ihr Herz wird sich erweichen und mir offenbaren. Hinterlist und Verrat sind nicht ihre Sache. Sie war immer treu und offen. Und sie hat mich geliebt in jenen alten, glücklichen Tagen; das bürgt mir dafür. Wen man geliebt hat, den kann man nicht verraten.«
Wie er auf die Tür zueilen wollte, öffnete sich diese von außen, und die Gesuchte trat herein. Sie war noch immer blaß, aber ihr Schritt war ruhig und fest, ihre ganze Haltung voll Anmut und sanfter Würde. Aber ihr Gesicht war noch eben so traurig.
Ein glückliches Lächeln umspielte Hendens Lippen, als er ihr entgegeneilte. Aber mit einer leichten Handbewegung hielt sie ihn zurück. Sie ließ sich auf einen Stuhl nieder und bat Michael, sich ebenfalls zu setzen. Henden war es, als falle er aus allen Himmeln. Beinahe begann er selbst zu zweifeln, ob er Michael Henden sei. Edith eröffnete das Gespräch:
»Herr, ich bin gekommen, um Euch zu warnen. Es ist vielleicht nicht möglich, einen Irrsinnigen von einer fixen Idee zu heilen. Sicherlich aber läßt er sich bereden, Gefahren aus dem Wege zu gehen. Ich bin der Ansicht, Ihr seiet von dem überzeugt, was Ihr vorgebet. Deshalb erblicke ich auch kein Verbrechen darin. Trotz alledem ist es aber gefährlich, länger hier zu bleiben.«
Sie schaute einen Augenblick Michael ruhig an und fügte dann mit größerem Nachdruck hinzu:
»Es ist um so gefährlicher für Euch, weil Ihr ganz so ausseht, wie unser armer verlorener Michael jetzt aussehen würde, wenn er noch lebte.«
»Aber beim Himmel, gnädige Frau, ich bin doch Michael.«
»Ich denke ja auch, daß Ihr es glaubt. Ich zweifle gar nicht an Euerer Ehrenhaftigkeit, aber ich warne Euch; das ist alles. Mein Gemahl ist hier unbeschränkter Gebieter. Seine Macht kennt kaum eine Grenze. Von ihm hängt es ab, ob hier die Leute hungern oder gedeihen. Würdet Ihr unserem Michael nicht so ähnlich sehen, so hätte Euch mein Gemahl wohl in Frieden ziehen lassen. Aber glaubt mir, ich kenne ihn zu gut: er wird allen Leuten sagen, Ihr seiet ein irrsinniger Betrüger, und alle werden ihm recht geben.«
Wieder schaute sie Michael fest an und fuhr fort:
»Wenn Ihr Michael Henden wäret, und mein Gemahl wüßte es, und die ganze Gegend wüßte es – beachtet wohl, was ich sage und erwäget meine Worte recht – so würdet Ihr ganz in der nämlichen Gefahr schweben, und Euere Strafe wäre Euch nicht weniger sicher. Er würde Euch verleugnen und den Gerichten als Betrüger überliefern. Nicht einer würde den Mut haben, auf Euere Seite zu treten.«
»Daran zweifle ich keinen Augenblick«, sagte Michael bitter, »Wenn man einen alten Jugendfreund verraten und einen Bruder verleugnen kann, ohne Widerstand zu finden, so wird man auch nicht um Mittel verlegen sein, wenn Gut und Blut auf dem Spiele stehen, und man nicht einmal Gefahr läuft, sich selbst die Finger zu verbrennen.«
Die Dame verfärbte sich ein klein wenig und senkte die Augen. Aber ihre Stimme verriet keine Bewegung, als sie weiterfuhr:
»Ich habe Euch nun gewarnt und muß Euch nochmals warnen: geht fort von hier! Dieser Mann wird Euch sonst verderben. Er ist ein Tyrann, der kein Mitleid kennt. Ich selbst bin nur seine verhätschelte Sklavin und weiß, was ich sage. Der arme Michael und Arthur und mein lieber Vormund, Herr Richard, sie alle sind erlöst von ihm. Auch für Euch wäre es besser, tot zu sein, als in den Klauen dieses Bösewichts. Mit Eueren Ansprüchen bedroht Ihr seine eigenen. Ihr habt ihn im eigenen Hause angegriffen. Bleibt Ihr, so ist's um Euch geschehen. Geht, zaudert nicht länger. Braucht Ihr Geld, so nehmt hier, ich bitte Euch herzlich, diese Börse und bestecht die Bedienten, daß sie Euch ziehen lassen. O laßt Euch warnen, armer Mann, und entflieht, solange es Euch noch vergönnt ist!«
Michael lehnte die Börse beinahe unwillig ab, stand auf und stellte sich vor die Dame hin.
»Nur eines gewährt mir«, sagte er. »Laßt mich in Euere Augen sehen, ob sie ruhig sind. So, nun antwortet mir. Bin ich Michael Henden?«
»Beschwöret es.«
Diesmal kam die Antwort leise, aber doch deutlich genug:
»Ich schwöre.«
»O das übersteigt den Glauben eines ehrlichen Christenmenschen.«
»Fliehet doch, flieht! Was wollt Ihr die kostbare Zeit vergeuden? Flieht und rettet Euch!«
Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die Tür aufgerissen wurde und die Häscher eindrangen. Ein kurzer, heftiger Kampf entspann sich, aber Henden war bald überwältigt und gebunden. Auch der König wurde gefesselt und mit seinem Beschützer abgeführt.