Franz Treller
Der Letzte vom »Admiral«
Franz Treller

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Das einsame Grab

Tage vergingen, kein »Roland« zeigte sich, so sorgfältig Henrik auch vom höchsten Punkt der Insel nach ihm ausspähte, auch kein anderes Fahrzeug kam in Sicht. Der geheimnisvolle Mann erschien täglich und brachte Eier, Wild, Früchte, so daß, besonders nachdem auf Fritzens Rat die Eier in der heißen Asche geröstet wurden, die Verpflegung der beiden Leidensgenossen wenig zu wünschen übrig ließ.

Von Fritz war das Fieber vollständig gewichen, er entwickelte einen starken Appetit und kam rasch wieder zu Kräften.

Da die Hitze mitunter sehr drückend war, schlug ihm Henrik eines Tages eine Fahrt in der Jolle vor, um sich der kühlern Seeluft zu erfreuen, worauf der Schneider mit Freuden einging.

Als Henrik Mast, Segel und Riemen hinabtrug und das Boot segelfertig machte, war ihr schweigsamer Freund, der Waldmensch, zugegen, der diesen Vorbereitungen mit bemerkbarem Interesse folgte.

Beiden, Henrik sowohl als auch Fritze, hatte sich die Überzeugung aufgedrängt, daß der sonderbare Mensch, der entschieden nordeuropäischer Abkunft war und durch ein großes Unglück an dieses Eiland geschleudert sein mochte, gestörten Geistes sei.

Jetzt zum erstenmal, seitdem sie mit ihm zusammengetroffen waren, als der Mast stand und die Jolle segelfertig war, zeigte sich geistiges Leben in seinem Gesicht, es schien den Jünglingen, als ob mächtige Erinnerungen in ihm erwachten.

Als Fritz und Henrik ihre Plätze eingenommen hatten und eben abstoßen wollten, trat der Mann rasch ins Boot und ließ sich auf einer der Bänke nieder. Sobald Henrik den einen Riemen ergriff, nahm er den zweiten zur Hand und legte ihn in die Dolle. Henrik sah es mit Erstaunen, ließ ihn aber gewähren. Sie stießen ab, und es zeigte sich alsbald, daß der Fremde in der Handhabung des Riemens geübt genug war. Mit gleichen Schlägen trieben sie die Jolle den Bach hinab, durch die Bucht, bis sie den leichten Seewind spürten.

»Stopp!« kommandierte Henrik nach Schifferart, und augenblicklich hob der Mann den Riemen aus der Dolle; er kannte das Kommando.

Als das Segel entfaltet wurde, begab sich der Fremde nach vorn und brachte den Klüver an den Wind, mit der Sicherheit des segelkundigen Mannes. Es lag nahe genug, in dem Unglücklichen, der unter so seltsamen Umständen auf dieser einsamen und allem Anschein nach gänzlich unbewohnten Insel lebte, einen Seemann zu vermuten. Während Henrik sich am Steuer niederließ, blieb jener vorn sitzen, und sein verwildertes Antlitz trug unverkennbar den Ausdruck des Vergnügens, als sich jetzt die Jolle auf den Wellen schaukelte. Freundliche Blicke trafen die Jünglinge und mehrmals nickte er Henrik zu.

»Unsern wilden Robinson macht det Jondeln Spaß«, meinte Fritze, der sich in der frischen Seeluft selbst unendlich behaglich fühlte.

»Er ist sicher von Beruf Seemann und wird wohl lange nicht von den Wellen des Meeres geschaukelt worden sein.«

»Wenn meine Jarderobe nich in so desolatem Zustande wär, so sollte es mir uff 'n boomwollenet Hemd nich ankommen, der Mann sieht doch een bißken zu natürlich aus.«

»Ich habe es für unmöglich gehalten, daß ein Mensch, und besonders ein Europäer, in einen solchen Zustand geraten könnte. Sein körperliches Befinden scheint übrigens nichts zu wünschen übrig zu lassen.«

»Aber oben is 'ne Schraube los«, warf Fritz ein. »Ooch is der Menschenbruder stumm.«

»Wer weiß. Ein herbes Geschick muß diesen Menschen zu dem gemacht haben, was er jetzt ist.«

Henrik fuhr an der Küste entlang, die, buchtenreich und dicht bewaldet, dem Auge malerische Bilder bot. Er führte jetzt die längst gehegte Absicht aus, das Eiland, welches ihnen Zuflucht gewährt hatte, zu umsegeln, was bisher nur durch Fritzens Gesundheitszustand verhindert worden war.

Das Innere der Insel kennenzulernen, schien Henrik kaum wünschenswert, denn erstlich war dies bei der dichten tropischen Vegetation ein mühevolles Unternehmen, und ein Zusammentreffen mit eingeborenen Bewohnern war mehr zu fürchten als zu wünschen. Auch schien es geboten, ein Begegnen mit wilden Tieren bei ihrer ungenügenden Bewaffnung zu vermeiden. Das Erscheinen des Tigers hatte den jungen Leuten Respekt genug eingeflößt. Auch das täglich erwartete Erscheinen des »Roland« drängte das Interesse, das Eiland kennenzulernen, zurück. Etwas anderes war es, im sichern Boot, vor einem leichten Wind die Insel zu umsegeln.

Der Luftzug kam von Nord und war zum Segeln günstig. Als sie im Süden der Insel standen, legte Henrik um, und wieder bediente ihr Gast den Klüver und sah mit großer Aufmerksamkeit auf die Bewegung des Bootes. Langsam strich das Fahrzeug an der auch hier sehr malerischen Küste, welche an einigen Stellen kühne Felsformationen zeigte, hin. Als sie eine geräumige Bucht vor sich sahen, ostwärts, deren weißes Wasser auf Klippen deutete, wies der Fremde lebhaft und mit einladender Gebärde darauf hin.

»Meinst du, wir sollen hier landen?« fragte Henrik.

Der Mann wiederholte die Bewegung.

»Wie denkst du, Fritz, über diese Aufforderung? Ich bin diesen unbekannten, dichten Waldgebieten gegenüber nicht ganz frei von Besorgnis.«

»Ach, der Mann meent et jedenfalls jut, der wird hier sein Sommerlogis haben und uns 'n Frühstück vorsetzen wollen.«

»Also du würdest landen?«

»Der neue Robinson mit de Wildenfrisur hat sich doch bis jetzt sehr honorig jegen uns benommen, ick jloobe, da is nischt zu besorgen.«

»Nun gut, so wollen wir an Land gehen«, und er lenkte in die Bucht ein.

Der Fremde sprang aus geeigneter Entfernung ans Ufer und zog mit erstaunlicher Kraft die Jolle so weit aufs Land, daß sie fest lag.

Als Henrik das Boot solcherweise gesichert sah, folgte er, seine Flinte ergreifend, mit dem Berliner.

Der Wilde nickte beiden wohlwollend zu und schritt voran in die Areng- und Djatigebüsche. Er trug wie immer seine Keule, wie es schien seine einzige Waffe, in der Hand.

Sie hatten bald einen Saum von Büschen und Lontarpalmen durchschritten und sahen einen freien Platz vor sich, der auf felsigem Grund nur spärlichen Graswuchs zeigte. Nach der Landseite hin erhoben sich dunkle Felsen. Auf diese schritt ihr Führer zu.

Zur Überraschung der Jünglinge sank er plötzlich mit einem leisen Zischen zu Boden und winkte ihnen, ihm nachzuahmen. Ehe sie jedoch diesem Wink zu folgen vermochten, sahen sie ein großes schwarzes Tier zwischen den Steinen vorüberhuschen und rasch verschwinden.

Der Mann wandte den Kopf und zeigte mit einem Ausdruck grimmiger Freude im Gesicht nach den Felsen hin. Er hob einen Stein von der Größe einer starken Mannesfaust auf, deutete Henrik und Fritz durch eine Gebärde an, zu bleiben, wo sie waren, und kroch dann mit einer staunenswerten Behendigkeit, ganz nach der Art eines wilden Tieres, welches eine Beute beschleicht, nach den Felsen zu, zwischen deren Öffnungen er verschwand.

Nach kurzer Zeit, während die beiden noch verwundert nach dem Felsen hinüberstarrten, gewahrten sie auf deren Höhe das schwarze, katzenartige Tier, welches verstohlen darüber hinkroch. Von einem Stein getroffen, der mit außerordentlicher Kraft und Sicherheit geschleudert sein mußte, stürzte das Tier, jäh aufbrüllend, herab. In demselben Augenblick erschien der wilde Mann wieder vor dem Fels, seine Keule in der Hand. Die schwarze Katze knurrte zornig und erhob sich zum Sprung. Doch dieser zeugte nicht von der elastischen Kraft, welche diese Tiere besitzen – fünf Schritte vor dem Wilden fiel es zu Boden. Mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel entfuhr dessen rechter Faust die um den Kopf geschwungene Keule, als kaum die Sohlen des Tieres die Erde berührt haben konnten, und aufheulend wälzte es sich, an der Schulter getroffen, auf dem Rücken. Dann versuchte es davonzuschleichen – aber seine Bewegungen waren kraftlos. Mit einem Sprung, der dem des Tieres nichts nachgab, setzte ihm der Wilde nach, faßte seine furchtbare Keule, schleuderte sie von neuem, und mit gebrochenem Kreuz brach der Panther – es war einer der seltenen schwarzen Panther der indischen Inseln – heulend zusammen, unfähig, sich ferner zu bewegen. Die ersten Würfe hatten ihm bereits Rippen und Schulterblatt gebrochen.

Triumphierend lachte der wilde Jäger jetzt auf. Er konnte sich an Kraft, Behendigkeit und Kühnheit mit der wilden Bestie dreist messen.

Staunend hatten Henrik und Fritz die Vorgänge verfolgt, welche die gefährliche Bestie unschädlich machten. Jetzt begriff ersterer, wie ein Mensch, der auf den ursprünglichen Naturzustand zurückgesunken war, den Kampf mit der Tierwelt und dem Dasein siegreich in einem Klima führen konnte, welches in seiner Milde und fast gleichmäßigen Wärme Kleidung und Feuer entbehrlich macht. Der verwilderte Mann, dessen Geist zwar gelitten haben mußte, dessen tierische Natur und Instinkte aber um so stärker entwickelt waren, bezwang mit Waffen, wie sie nur der Urzustand der Menschheit kannte, seine tödlichen Feinde. Es lag etwas Grausiges und doch Erhebendes in diesem Kampf des Waldmenschen gegen den Panther. Es war ein Ringen zwischen wilden Geschöpfen, aber das wenn auch geringe Geistesvermögen des Menschen hatte gesiegt über die Kraft und Wildheit, über den Instinkt des Tieres.

Sie traten dem Geschöpf, welches noch lebte und sie mit tödlichem Haß aus den funkelnden gelben Augen anstarrte, näher. Neben ihm stand, auf die furchtbare Keule gestützt, ihr Führer, verächtlich auf die besiegte Katze blickend.

»Herr Jotte doch«, sagte Fritze, »wenn ick et nich jesehn hätte, ick hätte et nich jegloobt; der neue Robinson is ja noch jefährlicher wie so 'ne olle Tijerjattin. Wenn der Mann eenmal 'ne Vorstellung im Zoologischen jeben will, dann läuft janz Berlin zusammen. Ne, so wat. Et is man een Glück, det der Mensch uff uns jut zu sprechen is, ick möchte keenen mit dem Knüppel uff 'n Kopp kriejen.«

»Welch staunenswerte Kraft und Geschicklichkeit du hast, mein Freund«, redete Henrik den nackten Mann an, nachdem er mit Interesse den schwarzen Panther, dessengleichen er noch nicht gesehen, betrachtet hatte.

Ob jener ihn verstand, ob nicht, er lachte auf, er lachte in höhnischem Triumph und versetzte dem gänzlich gelähmten Tier einen Fußtritt, daß es einige Schritte hinwegflog.

Erst in der Nähe gewahrte das Auge die dunkeln Flecke auf dunkelm Grunde, wie sie dem Pantherfell eigentümlich sind.

Ihr Führer winkte ihnen weiterzugehen, und den verendenden Panther liegen lassend, folgten sie dem Wilden zwischen die zerklüfteten Felsen, deren wirre, aber wie es schien, dem Mann, wohlbekannte Gänge sie in ein liebliches, kleines Tal führten, das von Gras, Büschen und vereinzelten Lontarpalmen bestanden war, durch dessen Mitte ein klares Bächlein rieselte. Es war ein friedliches, trauliches Plätzchen, zu welchem der Wilde sie geleitet hatte. Die Jünglinge blieben stehen und erfreuten sich des Anblicks. Auch ihr Begleiter hielt, als er dies bemerkte, inne, aber er schaute ernsthaft zu Boden. Nach einiger Zeit, das Haupt erhebend, deutete er mit einer gewissen Feierlichkeit auf einen sich nur wenig über die Talsohle erhebenden Kugel und schritt dann langsam darauf zu. Henrik und Fritz gingen hinter ihm her. Vor dem Erdaufwurf, man konnte die kleine Erhöhung kaum anders nennen, blieb der Mann stehen, und zu ihrer nicht geringen Überraschung gewahrten jetzt die jungen Leute, daß ein aus Holz roh gefertigtes Kreuz den mit kurzem Gras bedeckten Hügel überragte.

Ihr Führer deutete mit der Hand auf das Kreuz, während sein rauhes, gebräuntes Antlitz von tiefem Ernst überschattet war, und dann zeigte sein Finger auf den Hügel.

Es war ringsum feierlich still, und leise nur sagte Henrik: »Es ist ein Grabhügel!« Fritz Fischer nickte stumm.

»Wer mag darunter schlummern? Es ist ein Grab – und der Mann scheint es treulich zu bewachen.«

Er schwieg und schaute auf die Stätte nieder, welche, dem Kreuz nach zu schließen, die Gebeine christlicher menschlicher Wesen einschloß; sie mochten dem Fremden einst teuer gewesen sein.

»Ist es ein Grab, mein Freund?« fragte er dann den traurig dastehenden Wilden, »und hast du uns hierhergeführt, um es uns zu zeigen?«

Als er nicht antwortete, fuhr Henrik fort: »Wer schläft hier den letzten Schlaf? Ruhen hier Gefährten von dir?«

Es war nicht zu erkennen, ob Laut und Sinn der Worte ihm verständlich waren – aber er trat auf Henrik zu, schaute diesem aufmerksam in das Gesicht – streichelte mit der Hand zärtlich dessen Schulter und deutete wieder ernsthaft auf den Boden hin, da wo das Kreuz stand.

»Deine Lieben schlafen hier, nicht wahr, und du hast ihre Ruhestätte mit dem heiligen Zeichen geschmückt? Aber wenn du mich verstehst, so sage mir, wer hier begraben liegt, damit wir es in der Heimat erzählen können, wenn Gott uns Heimkehr bereitet.«

Der in seinem ganzen Gebaren so sonderbare Mensch ließ ein dumpfes Stöhnen hören, schmerzlich klang es aus seiner Brust empor – er sah Henrik und dann Fritz an, und seine Lippen bewegten sich, als wollte er sprechen – aber wenn es ein Versuch dazu war, so mißlang er und endete in einem tiefen Seufzer.

In der Art und Weise des Mannes, der geheimnisvollen Grabstätte, lag etwas Erschreckendes. Was mochte der Hügel bergen, an welche unheilvolle Vorgänge mahnte er, woran erinnerte der bemitleidenswerte Zustand des fast zum Tier gewordenen Menschen, in dem trotz allem der göttliche Funke noch nicht ganz verlöscht schien? Langsam wandte der Wilde sich hinweg und ging auf eine von Büschen halbverdeckte Felsöffnung zu. Henrik folgte ihm, und der Schneider, den alles, was er sah, ungewöhnlich erregte, schloß sich schweigend an. Vor dem Höhleneingang, an dem das Bächlein dicht vorüberfloß, lagen Knochen, Muschelschalen, Fischgräten, Überreste von Kokosschalen und andern Früchten. Der Mann ging in die Höhle und Henrik trat hinter ihm ein. Sie war sichtlich die Behausung des Bedauernswerten. Ein rascher Überblick zeigte in einer Ecke ein rauhes Lager von Moos und Fellen. Das schien die ganze häusliche Einrichtung des Bewohners zu sein. Einige Kokosnüsse lagen umher und die Reste einer, wie es Henrik deuchte, roh verzehrten Ente.

Der Eindruck, den Wohnung und Bewohner machten, war ein maßlos trauriger.

Henriks Auge fiel auf einen langen Bootsriemen, der von Würmern zerfressen an der Wand lehnte. Am Boden, dicht davor, lag eine verrostete Pistole, an welcher der Hahn fehlte – und neben ihr die Reste eines Seemannsstiefels. Diese Erinnerungen an die Vergangenheit der Insassen der Höhle rührten den Jüngling. Er ließ dann sein Auge über deren ziemlich glatte Wände gleiten und in jäher Überraschung traf sein Blick auf einige Silben, die in deutscher Sprache dem Fels eingegraben waren.

In großer Erregung entzifferte er: »Juli 66 – Überfall – mordet – Admiral – letzte – höllische Malaye – Gott – gnädig –.« In fieberhaftem Eifer eilte sein Auge suchend umher – doch keine weitern Schriftzeichen boten sich ihm dar. Waren die Worte einst mit einem metallenen Instrument eingegraben worden, so hatte die Zeit, die auch an den Felsen nagt, sie fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Die Struktur des Gesteins förderte das Abblättern.

Dem Jüngling stand fast das Herz still, als er die Schriftzeichen las. »Admiral« hieß das Fahrzeug, welches sein Vater einst befehligte, er war nimmer heimgekommen – versunken in den Wogen – verschollen unter den Menschen – doch nicht vergessen – nicht von seinem Weib – nicht von seinem Sohn.

In der furchtbarsten Aufregung faßte er die Schulter des neben ihm stehenden nackten Mannes. – »Um Jesu Christi willen – sage mir, Mensch, was bedeuten diese Worte dort?«

Der Mann nickte ernsthaft und traurig und deutete mit der Hand auf die wenigen noch lesbaren Schriftzeichen und dann zum Eingang hinaus auf den Erdhügel mit dem Kreuz.

»Antworte mir, sammle um Gottes willen deine Erinnerungen! Den, ›Admiral‹ führte mein Vater, Erich Horsa; warst du bei ihm an Bord? Hat mein Vater hier sein Ende gefunden? Ruhen seine Gebeine unter jenem Kreuz? Antworte – antworte, ich bin Henrik Horsa – der Sohn des Kapitäns.«

Ganz leise wiederholte der Wilde: »Horsa« – es war das erste Wort, welches Henrik von ihm hörte, und wie ein Hauch klang es dann aus seinem Mund nach – »tot.«

»Ja, ja – seit Jahren – tot – aber du, du warst an Bord des ›Admiral‹? Ist das dort meines Vaters Grab?«

Der Mann lauschte angestrengt den Worten, blickte ihn forschend an – und schien sehr erregt zu sein – es arbeitete gewaltig in ihm und mehrmals stöhnte er, wie von innerm Schmerz gepeinigt, aber ein Wort kam nicht über seine Lippen.

In fiebernder Angst hatte Henrik ihn beobachtet – gewünscht – gehofft – daß aus der Nacht, welche die Seele des Mannes umgab, das Licht der Erinnerung hervorbrechen möge.

Fritz Fischer war von dem allem so gerührt, daß ihm die hellen Tränen über die Wangen liefen. »Ach Jotte doch, da is aber det Ende von weg«, sagte er im Ton innigster Teilnahme leise.

Der Mann holte den fast ganz verwitterten Bootsriemen herbei, hielt ihn Henrik vor Augen und dieser las den nach Seegebrauch eingebrannten Schiffsnamen »Admiral«. Kein Zweifel, das Ruder stammte von seines Vaters Schiff. Jener setzte das Stück Holz beiseite, ging hinaus zu dem Kreuz, deutete auf die Erde und brachte in gebrochenen Tönen, mit Anstrengung die Worte hervor: »Horsa, Kapitän – tot.«

Da brach ein Tränenstrom aus Henriks Augen und unter krampfhaftem Schluchzen stürzte er zur Erde nieder und faßte in das Gras. »O Vater, mein lieber, lieber Vater!«

Lange lag er so.

Der braune nackte Mann sah auf ihn nieder und atmete schwer; Fritz Fischer wischte sich ein über das andere Mal die Augen mit dem Ärmel und Zipfel seiner Matrosenjacke.

Endlich legte sich der gewaltige Sturm in Henriks Brust – die Tränen flossen ruhiger – er richtete das Haupt auf und sah auf den Wilden, auf den gerührten Schneider.

Dann reichte er jenem die Hand: »Du Armer – du Letzter vom ›Admiral‹, du hast meinen teuren Vater der Erde übergeben – sein Grab bereitet und treu bewacht – wie danke ich dir. Mann – wie danke ich dir!«

Der Mann nickte, eine seltene Freundlichkeit leuchtete aus seinen Augen, er streichelte Henriks Wange: »Oh, Horsa – gut.«

Der tiefbewegte Schneider trat zu Henrik und legte den Arm um seine Schultern, immer noch flossen seine Tränen. »Fasse dir, Hamburger.«

»Oh, Fritz, hier ruhen meines Vaters Gebeine, eine wunderbare Fügung hat mich zu seiner Ruhestatt geführt.«

»Et is zu rührend – et is janz kolossal.«

Aus des Schneiders blassem, sonst so drolligen Gesicht sprach aufrichtiges Mitgefühl. »Fasse dir.«

Von seinen Gefühlen überwältigt, schwieg Henrik und drückte Fritz nur die Hand.

»Der nackte Mann muß doch nich janz meschugge sind, weil er sich so jut uff allens erinnert.«

»Welch furchtbares Schicksal mag hier gewaltet haben, um meinen armen Vater mit seinen Gefährten in den Tod zu reißen.«

Der Mann ging rasch nach der Felswand und entnahm einer Vertiefung zwei menschliche Schädel, die er funkelnden Blickes Henrik vor Augen hielt. Er deutete auf große Zersplitterungen der Knochen, die wohl von wuchtigen Streichen herrühren mochten, und stieß ein so wildes Gelächter aus, daß die Jünglinge schauderten. Die Felsen hallten das entsetzliche Lachen wider. Verächtlich warf er dann die Schädel beiseite.

»So ist mein Vater ermordet worden?«

Der wilde Mann schwang mit den magern sehnigen Armen die Keule empor, in Haltung, Blick und Gesichtsausdruck furchtbaren todbringenden Zorn widerspiegelnd.

»Du hast seinen Tod gerächt?«

Wieder lachte der grimmige Mann, wie vorher.

Die Sonne schien hernieder auf das stille Tal der einsamen Insel, der Wind flüsterte in den Blättern der Palmen, und das Bächlein rauschte sein eintönig Lied. Henrik deuchte es ein weihevoller Grabgesang, der dem teuren Toten galt. Tief erschüttert weilten die beiden Jünglinge an dem Grab dessen, der vor Jahren hier einen geheimnisvollen Tod gefunden, weilte der Sohn an des Vaters letzter Ruhestatt – und der einzige Zeuge der letzten furchtbaren Katastrophe stand stumm, einem Dämon der Rache gleich, zu des Grabes Häupten.

Es verging Zeit, ehe sich Henrik zu der Frage ermannte: »Ist nichts mehr vorhanden, was an meinen Vater, an Kapitän Horsa, erinnert?« setzte er, damit ihn der aufmerksam Lauschende besser verstehen sollte, hinzu.

Der so Angeredete blickte ihn forschend an. Er schien die Laute nur schwer zu fassen.

»Sind nicht Kleider, Waffen, Papiere vom Kapitän Horsa, Bark, ›Admiral‹, noch da? Besinne dich.«

Aber der Wilde verstand ihn augenscheinlich nicht, er verhielt sich stumm.

Seufzend gab Henrik den Versuch auf. Näheres über das Schicksal seines Vaters durch den geistig herabgekommenen Menschen zu erfahren. Fritz erinnerte jetzt daran, daß es Zeit sei, sich zur Heimfahrt zu schicken, und Henrik stimmte dem zu.

»Komm«, sagte er zu ihm. »Das war ein ereignisvoller Tag in meinem Leben.« Noch einmal wandte er sich zu dem Grab und sagte mit tiefem Gefühl: »Ruhe sanft, lieber Vater, in der fremden Erde, ruhe sanft.«

Seine Tränen zurückdrängend, wandte er sich ab, um den Ausgang aus dem felsigen Labyrinth zu suchen. Dies gewahrend, ging ihr Begleiter voran und brachte sie rasch ans Boot. Er blieb zurück, als Henrik abstoßen wollte, und die beiden fuhren allein in die See hinaus.

Nachdem sie ein großes, der Insel vorgelagertes Riff umsegelt hatten, fand Henrik endlich die Ruhe, um sich selbst all die erschütternden Vorgänge, welche seine Seele so sehr erregt hatten, zurechtzulegen.

Schattenhaft nur stand des Vaters Gestalt in seiner Erinnerung, wie sie sich der Seele in früher Kinderzeit eingeprägt hatte, doch durch der Mutter Schilderung war ihm dessen männliche Erscheinung und eigenstes Wesen so vertraut geworden, als ob er ihn genau gekannt hätte. And ihr erblühte in dem Sohn, dem teuren Vermächtnis des Toten, die Hoffnung ihres Lebens. Im Jahr 1866 verließ Kapitän Horsa Singapore auf seinem guten Schiff, dem »Admiral«, um Adelaide anzulaufen – und von Schiff und Mannschaft wurde nie wieder etwas vernommen. Da zu jener Zeit wilde Wirbelstürme den Ozean durchfurchten, lag die traurige Gewißheit nahe genug, daß der »Admiral« in diesen mit Mann und Maus gesunken sei.

And nun? Nun fand der Sohn an einer einsamen Insel des Indischen Ozeans die letzten Reste des Schiffes, das Grab seines Vaters, und in einem Menschen, der hier wie ein Tier mit Tieren lebte, den einzig überlebenden der Besatzung, den Zeugen jenes schreckenvollen Ereignisses, welches das Ende herbeigeführt hatte. Nicht auf dem Meer, nicht im Kampf mit den Naturgewalten fand, wenn er den Waldmenschen richtig verstand und die Inschrift nicht trog, der Vater seinen Tod, nein, hier am schützenden Land unter der verräterischen Hand – wessen? Des »höllischen Malaien«?

Er teilte dem Schneider mit, was ihm durch die Seele zog. »Es scheint ja«, setzte er hinzu, »in dem Gehirn des verwilderten Menschen zu dämmern, und wenn Gott seinen Mund erschließt, erfahren wir vielleicht noch manches von den letzten Stunden meines Vaters und seiner Mannschaft. Ist hier«, so schloß er mit tiefem Ernst, »ein Verbrechen begangen worden, so hat mich Gott auf wunderbare Weise an das einsame Grab meines teuren Vaters geführt, daß ich das Werkzeug der Sühne werde.«

»Ist allens schön und jut, Hamburger, oder eegentlich recht traurig – aber det wird allens schon werden, wenn wir nur erst von die olle Insel weg sind. Ick sehne mir aus die Wildnis raus, et is doch nischt vorn jebildeten Menschen, als Höhlenbewohner oder bei Mutter Jrün mit Kokosnüsse un geröste Eier sich durchzuleppern.«

»Wir warten noch einige Tage auf die Rückkehr des ›Roland‹. Ist es vergebens, so segeln wir mutig nach Norden und suchen den Weg zu europäischen Niederlassungen.«

»Ja«, meinte Fritz wehmütig, »wenn wir nicht vorher von die Herren Wilden uffjespeist werden. Uff meine werte Person scheinen sie et besonders abjesehen zu haben.«

»Vertrauen wir auf den, der das Geschick der Menschen leitet.«

»Allemal, der liebe Jott verläßt keenen Berliner nich.«

Sie erreichten ihre Heimstätte und suchten nach dem ereignisvollen Tag Ruhe im Schlaf.


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