Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Der Ausgang des preußischen Verfassungskampfes

Mittlerweile zeigte sich immer klarer, daß an jenem verhängnisvollen 11. Juni nicht eigentlich der Absolutismus über die liberale Idee, sondern der Partikularismus über die Staatseinheit triumphiert hatte. Die Doktrinen der guten alten Zeit von 1805 stiegen wieder aus dem Grabe, romantisch ausgeschmückt nach dem Sinne des Kronprinzen; dieser in Kämpfen ohnegleichen zusammengeschmiedete preußische Einheitsstaat hieß wieder ein Föderativstaat, ein mehrere Staaten umfassendes Staatenreich. Kamps vornehmlich verteidigte diese Theorie, die sich auf das erbauliche Beispiel der österreichischen Kronlande berief, mit seiner gewohnten fanatischen Hartnäckigkeit und trug sie noch ein Vierteljahrhundert später in seinen Staatsrechtlichen Abhandlungen vor. Marwitz empfahl eine radikale Verwaltungsreform, welche die Macht der heimatlosen Bureaukraten und Geldoligarchen, dieser gefährlichsten Demagogen, brechen und die neue demagogische Erfindung der Reichsstände für immer beseitigen sollte. Ein Staatsrat, gebildet aus den Chefs der Verwaltung und angesehenen Eingesessenen, an der Spitze des Staates; unter ihm Provinzialminister mit Provinzialständen; endlich Landräte, beschränkt durch die Kreisstände und auf drei bis sechs Jahre von ihnen gewählt – so die Grundzüge dieser feudalen Verwaltungsordnung, die geradeswegs darauf ausging, den geeinten deutschen Norden wieder in ein Chaos ständischer Kleinstaaten zu zersprengen.

Wie hätte der bewährte Schmalz in diesem tobenden Chore der Reaktion fehlen sollen! Er schrieb (1822) unter dem Namen eines Freundes der Verfassung (E. F. d. V.) eine »Ansicht der ständischen Verfassung der preußischen Monarchie«. Die Schrift ging aus von dem zufälligen Umstande, daß der Preußische Staat seinen Gesamtnamen einem einzelnen Landesteile entlehnt hatte, und stützte darauf den wunderbaren Schluß: der Schlesier oder Märker sei kein Preuße im eigentlichen – das will sagen: im ethnographischen – Sinne, während der Gaskogner, der Bewohner von Yorkshire sich mit Recht einen Franzosen, einen Engländer, nenne, und folglich sei Preußen auch staatsrechtlich kein Einheitsstaat wie England oder Frankreich, sondern ein zusammengesetzter Staat, ähnlich der Union von Nordamerika. Das Ganze klang wie ein schlechter Witz, indes mochte Schmalz' harter Kopf wohl selber daran glauben, wenn er dann allen Ernstes weiter folgerte, der König sei König nur in Ostpreußen, in Magdeburg nur Herzog, in Mörs nur Graf und mithin verpflichtet, jedem dieser Staaten einen besonderen Landtag zu gewähren.

Also stellten die Altständischen mit ihren »heillosen« Doktrinen, wie Witzleben sie nannte, alles wieder in Frage, was die Hohenzollern in zwei schweren Jahrhunderten gebaut hatten, und behaupteten gleichwohl den Thron gegen die Revolution zu verteidigen. Und seltsam genug, diesen staatsfeindlichen Bestrebungen arbeitete eine Partei des hohen Beamtentums, die von durchaus andern Ansichten ausging, arglos in die Hände. Die neue Verwaltungsordnung hatte sich trotz ihrer tüchtigen Leistungen noch keineswegs ein unerschütterliches Ansehen errungen. Alle Welt klagte über Vielregiererei; das unerfahrene Volk vermochte nicht zu begreifen, daß der Staat, der jetzt so viel mehr für das gemeine Wohl leistete, auch mehr Diener brauchte. Am Rhein glaubte jedermann, freilich auf Grund sehr zweifelhafter Berechnungen, die Verwaltung der Napoleonischen Präfekten sei zwei- bis dreimal wohlfeiler gewesen. Der König selbst forderte dringend Ersparnisse in der Zivilverwaltung, um das Defizit endlich zu beseitigen. Die Provinzialbehörden aber, zumal die Oberpräsidenten, empfanden schwer die ungeheure Macht der neuen Fachminister, die jetzt auch über alle Streitfragen des öffentlichen Rechts in letzter Instanz entschieden; der Staatsrat gewährte dawider nur in seltenen schweren Fällen Abhilfe. Dem Ämtersystem fehlte noch eine geordnete Verwaltungsjustiz mit unabhängigen Tribunalen; doch über die Fragen des Verwaltungsrechts war bisher weder die Wissenschaft noch die Praxis ins klare gekommen, und so lange man den Sitz des Übels nicht erkannt hatte, richtete sich aller Unwille gegen die Fachminister und das Übermaß der Zentralisation. (232-234.)

Der Angriff auf die Einheit der Verwaltung war gescheitert; um so sicherer hoffte die feudale Partei die Einheit der Verfassung zu hintertreiben. Am 30. Oktober wurde die neue Kommission – die fünfte und letzte – einberufen, um über die Bildung der Provinzialstände zu beraten. Der König nahm seinen würdelos nachgiebigen Staatskanzler beim Wort, schloß ihn von den Beratungen gänzlich aus. Er berief den Kronprinzen zum Vorsitzenden, zu Teilnehmern die sämtlichen Mitglieder jenes vierten Ausschusses, welcher soeben die Verwerfung der Kommunalordnung gegen Hardenberg durchgesetzt hatte. Neu hinzu traten nur: der Minister Voß-Buch, die Präsidenten Vincke und Schönberg und als Schriftführer Geh. Rat Duncker. Es war wie eine feierliche Abdankung des Staatskanzlers. Die Kommission eröffnete ihre Sitzungen am 4. Dezember. Sie berief sodann nacheinander eine kleine Zahl von Notabeln aus den einzelnen Landesteilen. Zuerst (Januar 1822) tagten die Brandenburger, dann die Notabeln aus Pommern, Ostpreußen, Westpreußen, aus der Niederlausitz, aus Sachsen. Im Mai wurden die Schlesier und die Oberlausitzer, im Oktober die Westfalen, zuletzt die Rheinländer und (im März 1823) die Posener gehört. Die Einberufenen waren zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet, und da die Zensur auch die Zeitungen scharf überwachte, so blieb das Geheimnis so wohlbewahrt, daß erst im Jahre 1847 durch die Schriften von Röpell und Wuttke einiges aus den Verhandlungen der schlesischen Notabeln bekannt wurde.

Schon die Auswahl der Vertrauensmänner ließ erkennen, wieviel Boden die Altständischen gewonnen hatten in den vier Jahren seit jener Bereisung der Provinzen. Damals waren noch Männer aus allen Ständen vernommen worden. So weit ging man freilich auch jetzt nicht, kurzweg die Deputierten der alten Landtage als solche zu versammeln, wie einst die Ruppiner Stände verlangt hatten. Aber wie ganz unbillig, wie ganz zuwider allen Traditionen dieser gerechten Krone wurde der Adel bevorzugt! Unter den etwa hundert Notabeln, die man aus der Monarchie einberief, waren: aus Schlesien 15 vom Landadel, 6 Bürger, kein Bauer; aus den Marken 6 Edelleute, 4 Bürger, kein Bauer; aus Westfalen 7 Edelleute, 9 Bürger, ein bäuerlicher Gutsbesitzer usw. Begreiflich also, daß Präsident Schönberg den Zweifel äußerte, »ob die Einberufenen wirklich alle Wünsche der Provinzen zur Sprache gebracht hätten«. Die altständische Partei war durch einige ihrer tätigsten Führer vertreten. Vom märkischen Adel kamen Rochow-Rekahn und Quast, zwei sehr angesehene Männer, beide so hochkonservativ, daß Marwitz sie sich als brandenburgische Provinzialminister dachte; vom westfälischen die alten Kämpen Merveldt, Hövel, Romberg; vom schlesischen Herr von Lüttwitz, der soeben als Schriftsteller für die Adelsinteressen auftrat, mit ihm freilich auch der liberale Graf Dyhrn und Herr von Gruttschreiber, ein unruhiger Kopf, der mehrmals auf eigene Faust schlesische Volksrepräsentanten versammelt hatte. Den alten Marwitz hielt man fern; man fürchtete wohl den unbändigen Freimut des eisernen Mannes. Dieselbe Sorge und das alte Mißtrauen, das Voß und Wittgenstein noch gegen den großen Reformer hegten, mochten auch verschulden, daß der Freiherr vom Stein nur um ein schriftliches Gutachten ersucht wurde.

Die Verhandlungen mit den einzelnen Gruppen der Vertrauensmänner währten selten mehr als acht Tage; sie waren ebenso leer als kurz. Die Notabeln sollten, auf Befehl des Königs, nur über die Zusammensetzung der Provinzialstände, nicht über den Umfang ihrer Rechte befragt werden; denn bei aller Verehrung für die Sonderrechte der Provinzen konnte man doch nicht verkennen, daß es unmöglich sei, einen Verfassungsplan mit zehn Versammlungen zu vereinbaren. Die Kommission beschloß daher über alle wesentlichen Grundsätze der Verfassung durchaus selbständig. Die Einberufenen fühlten, wie wenig an der beschlossenen Sache zu ändern sei, traten still und bescheiden auf; ihr Gutachten gab nur in geringfügigen Nebenfragen den Ausschlag. Selbst die Rheinländer wagten nur schüchtern eine beschränkte Öffentlichkeit für die Landtage zu fordern, und die Absicht, sich für ihren Landsmann Görres zu verwenden, ließen sie bald fallen. Leider zog man aus diesen Erfahrungen nicht den naheliegenden Schluß, daß die Provinzialstände selber der gleichen Unfruchtbarkeit verfallen mußten.

Innerhalb der Kommission entbrannte aber sofort von neuem der alte Parteikampf. Die altständische Ansicht des Kronprinzen und seines Ancillon fand jetzt einen mächtigen Beistand an Herrn von Voß-Buch. Ein achtungswerter wohlmeinender Mann, ein pflichtgetreuer altpreußischer Beamter, war der Führer des brandenburgischen Adels seit vielen Jahren mürrisch auf seinen Gütern geblieben, gleich seinem Freunde, dem alten Minister von Angern im Magdeburgischen, grollend über die neuen Agrargesetze, über die meisterlose Zeit, die an der hergebrachten Gliederung der Stände rüttelte. Er sah den Staat durch doktrinäre Toren dicht an den Rand des Abgrundes gedrängt; innezuhalten auf dem Wege der Neuerung, die Gewerbefreiheit, die Ablösung der bäuerlichen Lasten wieder zu beschränken, schien ihm unerläßlich. In allen seinen Reden klar, bestimmt, aufrichtig, immer bereit, fremde Meinungen ernsthaft anzuhören, war er doch völlig unfähig, aus seinem engen Gedankenkreise hinauszugehen, und maß alle politischen Dinge an den wohlerworbenen Rechten der märkischen Stände: »nach teutscher Verfassung kann Niemand repräsentiren, der eine Mediatobrigkeit hat.« Vor seinem König erschien er nie anders als in Kniehosen und langen Strümpfen; einem bürgerlichen Präsidenten hingegen vergönnte er nur den Titel Ew. Wohlgeboren – zur namenlosen Entrüstung Varnhagens und aller aufgeklärten Berliner. Mit Hardenberg hatte er sich schon in den Napoleanischen Zeiten so gänzlich überworfen, daß seine Berufung wie ein Schlag ins Angesicht des Staatskanzlers erschien und von allen Gegnern Hardenbergs, leider auch von Stein, mit Befriedigung aufgenommen wurde. Die Rechtschaffenheit und Arbeitskraft des alten strengen Feudalen machte ihn bald dem Monarchen wert; im Sommer 1822 besuchte ihn der König in Buch, seitdem stand sein Einfluß fest. Mit seiner Hilfe hofften die Altständischen, ihr christlich-germanisches Ideal zu verwirklichen. Als Küster in seinem Amtseifer jetzt noch eine Übersicht der süddeutschen Verfassungen zur Benutzung für die Kommission einsendete, da erwiderte Ancillon herablassend: mit solchen nach fremden Mustern gearbeiteten Gesetzen könne man in Preußen natürlich wenig anfangen.

Etwas moderner, mehr altbureaukratisch als ständisch, waren die Ansichten Wittgensteins, Schuckmanns und Albrechts. Die Meinung des liberalen Beamtentums vertraten nur Vincke und der Merseburger Regierungspräsident Schönberg, beide mit ausdauernder Tapferkeit und rücksichtslosem Freimut. Im ganzen verliefen die Verhandlungen matt und schläfrig. Nach dem sechsjährigen Zaudern war alles abgespannt. Jene feste Überzeugung von der inneren Notwendigkeit des Verfassungswerkes, welche Humboldt immer als die erste Voraussetzung des Gelingens bezeichnete, bestand längst nicht mehr. Man arbeitete nur noch, um der gegebenen Zusage zu genügen.

Sogleich der Beginn der Beratung zeigte, wie unhaltbar der Plan war, Provinzialstände zu schaffen ohne jede klare Vorstellung von dem Wann und Wie der Reichsstände. Es entstand die Frage: Sollte das Stückwerk, das man vorderhand in Angriff nahm, als eine Erfüllung des alten Versprechens gelten? Sollte das neue Gesetz in seinem Eingange an die Verordnung vom 22. Mai erinnern? Ancillon und seine Freunde fanden dies bedenklich; sie nahmen Anstoß an den Worten »Repräsentation des Volkes«, die so oft mißdeutet würden, während man in Preußen doch nur eine Vertretung des eigentlichen Volkes, der Grundbesitzer, beabsichtigte. Schönberg schrieb dagegen, mit deutlichem Hinweis auf Haller: »Alles in der Welt kann mißdeutet werden. Mögen die Philosophen über die Grundsätze, worauf Staaten basiert sein sollen, träumen, erfinden und restaurieren, Preußens König und sein erlauchtes Haus braucht von diesen Theorien sein Heil nicht zu erwarten. Dieses liegt fest begründet in der Treue, dem Gehorsam und der Liebe seiner Untertanen. Ich habe den Ausdruck nicht für bedenklich ansehen können. Der König und sein Volk ist ein schönes Wort, dessen Sinn in der Zeit der großen Ereignisse sich auf das herrlichste bewährt hat. Eine ständische Repräsentation bleibt immer eine Repräsentation des Volks. Wäre dieses nicht der Fall, so würden alle Untertanen, welche nicht so glücklich sind ein Grundbesitztum zu haben, gewissermaßen außer dem Gesetz sein, welches man doch nicht annehmen kann.« Voß aber erwiderte schroff: »Seine Majestät haben seitdem irgend auf eine Weise nicht zu erkennen gegeben, daß sie jene als Gesetzgeber gegebene Verordnung, in welcher ich ein Versprechen zu finden nicht vermag, so wie sie dasteht, ausgeführt wissen wollten; vielmehr möchte ich auf das Gegenteil schließen.«

Damit war ein unheilvolles Wort gesprochen, das bald zum Schlagworte der reaktionären Partei wurde und nach einem Vierteljahrhundert sich schwer bestrafen sollte. Als absoluter Monarch war der König unzweifelhaft berechtigt, die Verordnung vom 22. Mai durch eine neue Verordnung förmlich aufzuheben; aber solange er sich dazu nicht entschloß, blieb er an sein Versprechen gebunden. Und eine feierliche Zusage enthielt jene Verordnung allerdings; das zeigte der Wortlaut sowie die bestimmte Versicherung Hardenbergs, der die Verordnung selbst verfaßt und die Willensmeinung des Königs darüber eingeholt hatte. Welch eine Verwirrung aller Rechtsbegriffe mußte entstehen, wenn man jetzt begann, diese klaren Tatsachen zu verdunkeln und die ungeheuerliche Behauptung aufstellte, es stehe der Krone frei, die Verordnung vom 22. Mai nicht aufzuheben und doch sie nicht zu befolgen!

Aber sollte nicht mindestens die frühere Zusage wiederholt und den Provinzialständen das Wahlrecht für die künftigen Reichsstände nochmals feierlich versprochen werden? Vincke sprach eifrig dafür. Selbst Ancillon stimmte ihm hier bei, weil dadurch der allein wahre Grundsatz der abgestuften Wahlen im voraus anerkannt und »der Glaube an die künftige Herstellung der allgemeinen Reichsstände belebt würde, wir müssen nie vergessen,« fuhr er fort, »daß die allgemeinen Stände von Sr. Majestät förmlich versprochen sind, daß auch die Besseren sie wünschen, daß wir gleich den Grundbau mit Beziehung auf sie aufführen müssen, und daß bei der großen Wirksamkeit, die wir den Provinzialständen einräumen, die allgemeinen um so notwendiger mit der Zeit werden müssen, da sie allem ein gesetzmäßiges Ausgleichungsmittel der oft entgegengesetzten Provinzialmeinungen darbieten«. Voß hingegen erklärte kurzab, man dürfe »dem gesetzgebenden Willen nicht vorgreifen«; Wittgenstein und Allbrecht stimmten ihm zu. Man einigte sich endlich (21. Mai) über ein schwächliches Kompromiß: das neue Gesetz sollte weder der Verordnung vom 22. Mai noch des Wahlrechts für den Reichstag gedenken, doch dafür aus jener entscheidenden Kabinettsorder vom 11. Juni 1821 den Satz aufnehmen, welcher aussprach, das Wann und Wie der Reichsstände bleibe »Unserer landesväterlichen Fürsorge vorbehalten«.

Welch ein Mißgriff! Das Gesetz befahl nicht, es versprach nicht einmal, es stellte nur mit schwankenden Worten in Aussicht, daß vielleicht dereinst Reichsstande erscheinen könnten! Die unbestimmte, vieldeutige Redewendung gab dem Zwiespalt, der unter den Gesetzgebern selber herrschte, einen getreuen Ausdruck. Voß und Wittgenstein wollten überhaupt keinen Reichstag, während der Kronprinz, Ancillon und die beiden Präsidenten noch immer daran festhielten. Dem Prinzen schwebte der Gedanke vor, daß die Monarchie in ihrem ständischen Leben denselben langsamen Entwicklungsgang zur Einheit durchmessen sollte, den ihre Verwaltung bereits vollendet hatte. Und doch überkam ihn immer wieder der Zweifel, ob der Lauf der Geschichte sich also meistern lasse. Im Oktober, lange nachdem die Kommission schlüssig geworden, verlangte er Steins Gutachten über die Provinzialstände und fragte den Freiherrn zugleich in einem schönen, warmherzigen Briefe, ob die Reichsstände gleichzeitig mit den Provinzialständen oder unmittelbar nachher oder erst nach längerer Erfahrung erscheinen sollten. Der Brief kam zur unglücklichen Stunde. Stein war gereizt und verstimmt, er hatte sich schon allzutief eingelassen in die altständische Parteibewegung, die nach ihrem innersten Wesen den Reichsständen zuwiderlief. Er ermahnte den Prinzen zwar zum Vertrauen auf dies brave, treue, besonnene Volk; aber statt dem Schwankenden die schleunige Berufung der Reichsstände ans Herz zu legen, gab er ganz gegen seine Art eine halb ausweichende Antwort und begnügte sich mit der Bemerkung, die Provinzialstände böten immerhin eine nützliche Vorübung, um Erfahrungen zu sammeln für den Reichstag. Kein Zweifel, daß dieser unselige Spruch aus solchem Munde sehr tief eingewirkt hat auf das Urteil des Prinzen. Unter allen Staatsmännern der Zeit hat allein Humboldt die planlose Unklarheit des ganzen Unternehmens klar durchschaut. Er blieb dabei, daß man die Arbeit an den Teilen nicht beginnen dürfe ohne einen Plan für das Ganze; und wie verkehrt, den Bau in der Mitte anzufangen, statt bei den Grundlagen, den Kreisen und Gemeinden!

Sodann erhob sich eine Formfrage, welche den tiefen Gegensatz der Parteien grell zutage treten ließ. Sollten die allgemeinen Grundsätze über die Einrichtung der Provinzialstände in einem Gesetze für die gesamte Monarchie verkündigt und dann die Detailbestimmungen über die Stimmenzahl und dgl. durch Spezialgesetze für jede einzelne Provinz festgestellt werden? Oder sollte jede Provinz ihre eigene Verfassungsurkunde erhalten? Offenbar sprach die Natur der Dinge wie die alte preußische Tradition für die erstere Form, die auch von den beiden Präsidenten lebhaft verteidigt wurde. Man war ja entschlossen, allen Provinzen eine im wesentlichen gleichförmige Verfassung zu geben; für die geringfügigen Abweichungen von der Regel genügten kurze Spezialgesetze. Aber die historische Doktrin verwarf alles, was einer preußischen Verfassung auch nur ähnlich sah. »Ein solches allgemeines Gesetz«, meinte Ancillon, »würde den modischen, papierenen, aus dem Stegreif erschaffenen Verfassungen, als etwas ganz Neuem, ähnlich sein; jede Provinz soll ihre eigene vollständige Charte erhalten, eine Ehre und Wohltat, die eine jede gewiß hoch erfreuen werden.« Noch bestimmter schrieb Schuckmann: »Ein allgemeines Gesetz würde als die in der Verordnung vom 22. Mai angekündigte Verfassungsurkunde betrachtet werden und aus diesem Gesichtspunkte den bittersten Urteilen bloßgestellt sein.« Zuletzt kam wieder ein Kompromiß zustande, im wesentlichen der Meinung des historischen Partikularismus entsprechend. Ein allgemeines Gesetz von wenigen Zeilen, das niemand für eine Verfassungsurkunde halten konnte, verkündigte die Errichtung der Provinzialstände; darauf folgten acht umfängliche Provinzialverfassungen, welche, bis auf kleine Abweichungen, achtmal dieselben Sätze wiederholten, und diese »Charten«, mit Ancillon zu reden, standen leider auch auf Papier!

Und waren es denn wirklich die historischen Landtage, die man wiederherstellte? Solange es nur galt, die Pläne des Staatskanzlers zu durchkreuzen, war es ein leichtes, für die unantastbaren Rechte althistorischer ständischer Verbände sich zu begeistern. Sobald man selber an das Schaffen ging, drängten sich die Bedürfnisse des modernen Staats auch den historischen Doktrinären unabweisbar auf. Die Geschichte des neuen Jahrhunderts forderte ihr Recht von der älteren Geschichte. Alle Institutionen des Staates hingen fest mit der neuen Provinzialeinteilung zusammen, vornehmlich das Steuersystem. Der Anteil der Altmark an der Klassensteuer war bereits in der Gesamtsteuersumme der Provinz Sachsen verrechnet; riß man nun, nach dem »historischen Prinzip«, die altmärkischen Stände aus dem Sächsischen Provinziallandtage heraus, um sie dem Brandenburgischen einzufügen, wie sollten dann die brandenburgischen Provinzialstände für die Repartition der altmärkischen Steuern sorgen? Schon die Verordnung vom 30. April 1815 hatte die provinzialständischen Angelegenheiten für Provinzialsachen erklärt und sie der Aufsicht der Oberpräsidenten unterstellt. Darin lag keineswegs Willkür; denn die neuen Provinzen durften mit besserem Recht historische Körper heißen als die alten Territorien, sie ruhten auf der lebendigen Gemeinschaft der Stammesart und Sitte, der Erinnerungen und des Verkehrs. Mit diesen neuen acht Provinzen mußten die ständischen Körper sich decken, wenn nicht eine Kluft entstehen sollte zwischen der Verfassung und der Verwaltung. Dicht vor Augen stand ja das abschreckende Beispiel Hannovers, wo Verwaltungsbezirke und ständische Provinzen in wirrem Gemenge lagen.

In solchem Sinne sprachen Vincke, Schönberg und, als erfahrener Verwaltungsbeamter, sogar Schuckmann. Ancillon dagegen hielt für wünschenswert, daß die moderne Verwaltung vielmehr ihre Provinzen wieder nach den altständischen einrichte. Zum Glück ward die Hohlheit dieses doktrinären Einfalls sofort handgreiflich nachgewiesen, da die engere Vaterlandsliebe nochmals ihre Bitten und Beschwerden vor den Thron brachte. Die schlesischen Einberufenen verlangten den Schwiebuser Kreis für ihre Provinz zurück; unter den westfälischen Notabeln sprachen Merveldt und Hövel für die Herstellung der alten Territorien. Der zu Neumark geschlagene Lebusische Kreis, die Heimat des alten Marwitz, bat um Wiedervereinigung mit der Kurmark. Der Kreis Schivelbein, tief in Hinterpommern gelegen, doch vormals zur Neumark gehörig, forderte die Rückkehr zum alten Vaterlande; die benachbarten Dramburger Stände aber, die sich genau in derselben Lage befanden, beteuerten dem Kronprinzen, sie wollten bei Pommern bleiben. Am lautesten klagten die treuen Altmärker; sie schrieben dem König: »Die Trennung der Altmark, des ältesten Bestandteils der glorreichen preußischen Monarchie, von den übrigen Marken hat zugleich mit der Losreißung von der Monarchie selbst stattgefunden, darum bitten wir, auch das Andenken daran auszulöschen.« Die kurmärkischen Notabeln dagegen wünschten die Altmark nicht wieder aufzunehmen, die sächsischen wollten sie nicht aus ihrem Provinziallandtage ausscheiden sehen.

Die offenbare Unmöglichkeit, allen diesen widersprechenden partikularistischen Wünschen zugleich zu genügen, und das gebieterische Bedürfnis geordneter Verwaltung zwangen die Kommission endlich doch, die ständischen Landschaften im wesentlichen den Grenzen der neugebildeten Provinzen einzufügen. Nur das Stammland der Monarchie sollte in seiner alten historischen Herrlichkeit wiederhergestellt werden: die Altmark und die pommerschen Teile der Neumark traten wieder in den Verband der brandenburgischen Provinzialstände; mit ihnen freilich auch Jüterbog und die Niederlausitz, die niemals zu den Marken gehört hatten. Also haben die Verehrer des historischen Prinzips in Wahrheit nicht eine Restauration der alten Stände vollzogen, sondern acht völlig neue ständische Körper geschaffen. Um den Partikularismus zu entschädigen, wollte die Kommission den althistorischen Territorien das Recht der Itio in partes geben: jeder Provinziallandtag sollte in Teile gehen, sobald ein Landesteil sich in einem besonderen Interesse gefährdet glaube. Auf Schönbergs Antrag wurde diese gefährliche Befugnis abgeschwächt zu einem einfachen Beschwerderecht für den bedrohten Landesteil. Die »Kommunalverfassungen« der einzelnen Territorien hingegen sollten bis auf weiteres unverändert fortdauern. Doch nur in der Alt-, Kur- und Neumark, in den beiden Pommern und den beiden Lausitzen sind die alten Landtage als Kommunallandtage wieder aufgelebt. In allen andern Provinzen verschwanden die Trümmer ausländischen Sonderlebens spurlos vor den neuen Provinzialständen, die Toten begruben ihre Toten. Der Markaner trat mit dem Paderborner, der Magdeburger mit dem Thüringer willig zur politischen Arbeit zusammen. Wer hellen Blicks verfolgte, wie rasch der Gegensatz der Landschaften innerhalb der Provinzen sich ausglich, der mußte erkennen, daß dies Volk fähig war, den vollen Segen des Einheitsstaates zu ertragen.

Ebenso unmöglich wie die Wiederherstellung der historischen Territorien war die einfache Erneuerung der alten ständischen Gliederung. Die Provinzialstände wurden, so sagte das Gesetz, »im Geiste der älteren deutschen Verfassungen« errichtet, sie waren das »gesetzmäßige Organ der verschiedenen Stände Unserer getreuen Untertanen«. Oftmals hat in späteren Tagen König Friedrich Wilhelm IV. ihnen eingeschärft, sie seien »deutsche Stände im altherkömmlichen Wortsinne, d. h. vor allem und wesentlich Wahrer der eigenen Rechte, der Rechte der Stände, sie sollten ihren Beruf nicht dahin deuten, als seien sie Volksrepräsentanten«. Das Gesetz hielt streng darauf, daß jeder Gewählte wirklich seinem Stande und seinem Wahlbezirke angehörte, gab den Ständen sogar das heillose Recht der Itio in partes. Gleichwohl waren die Provinzialstände nichts anderes als eine einseitig verbildete moderne Interessenvertretung. Da die alten ständischen Korporationen überall vernichtet waren, so konnte man auch die Erwählten nicht an die Aufträge, ihres »Standes« binden; die Abgeordneten stimmten, wie Volksvertreter, nach persönlicher Überzeugung. Die geringe Kopfzahl der Landtage verhinderte auch die von Stein geforderte Errichtung ständischer Kurien; jeder Provinziallandtag beratschlagte in einer Versammlung und faßte gültige Beschlüsse mit einfacher oder Zweidrittelmehrheit aller Stimmen. Und wie war doch in den meisten Provinzen, zur Verzweiflung der antiquarischen Idealisten, selbst die Erinnerung an die alten ständischen Unterschiede gänzlich verschwunden! Wer hätte auch nur daran denken mögen, den Klerus, der doch die Landtage der rheinischen Krummstabslande allein beherrscht hatte, wieder zum ersten Stande zu erheben? Da andererseits die ländliche Selbstverwaltung noch nicht durchgeführt war, mithin die Grundlage für ein billig abgestuftes Wahlsystem noch fehlte, so wurde die Kommission von selbst zu den drei Ständen der Hardenbergschen Entwürfe zurückgeführt – zu einer ständischen Gliederung, die nach der Lage der Dinge unvermeidlich, doch ganz gewiß nicht historisch war.

Stein mit seinen westfälischen Freunden forderte, unter leidenschaftlichen Ausfällen gegen die »zerstörende« Richtung des Beamtentums, daß der Adel den ersten Stand bilde; vier Ahnen und Grundbesitz müßten der Regel nach den Zutritt zu der Adelskorporation bedingen. Die Mehrheit der schlesischen Notabeln wünschte nur die adligen Rittergutsbesitzer in den ersten Stand aufzunehmen; den bürgerlichen Rittergutsbesitzern sollten die ständischen Rechte nur kraft besonderer königlicher Verleihung zustehen, auf daß »verdienstlose Glückspilze« dem ersten Stande fernblieben. Überhaupt trat unter den Notabeln der Adelshochmut der Zeit weit härter auf als im Schoße der Kommission. Die ungeheure Umwälzung, die sich in den Besitzverhältnissen des flachen Landes vollzogen hatte, verbot der Kommission, auf solche Begehren einzugehen; man beschloß, alle »Rittergutsbesitzer« ohne Unterschied der Geburt in den ersten Stand aufzunehmen. Der Begriff »Rittergut« war freilich am Rhein ganz unbekannt, auch im Osten so unsicher, daß die sächsischen Notabeln ihn durch einundzwanzig verschiedene Definitionen vergeblich zu erläutern versuchten. Man half aus durch Matrikeln, die in den westlichen Provinzen »auch andere größere Landgüter« aufnehmen sollten. Der erste Stand war mithin eine Vertretung des Großgrundbesitzes. Auf den Vorschlag der Kommission behielt sich die Krone jedoch das Recht vor, den adligen Besitzern großer Fideikommißgüter ein verstärktes Stimmrecht zu gewähren. Dazu in vier Provinzen ein besonderer oberster Stand für die Standesherren und die Domkapitel.

Der Satz »das Grundeigentum ist Bedingung der Standschaft« stand schon seit Hardenbergs erstem Entwurfe fest; man führte ihn jetzt so streng durch, daß sogar die Kirche, der doch ein unbestreitbares historisches Anrecht zur Seite stand, keine Vertretung erhielt. Auch für die Wählbarkeit in den Städten wurde Grundbesitz verlangt, und mit Recht zürnte Stein über die Ausschließung der bestgebildeten Kräfte der städtischen Bevölkerung. Die Vorliebe der historischen Romantik für den Adel und die Klassenselbstsucht der adligen Notabeln wurden sodann handelseinig über eine Stimmenverteilung, welche die berechtigten Ansprüche der Städte und der Bauern unbillig verletzte. Die Kommission nahm als Regel an, daß dem großen Grundbesitz die Hälfte, den Städten ein Drittel, den Bauern ein Sechstel der Stimmen gebühre; nur im Westen und in Ostpreußen sollten die unteren Stände stärker vertreten werden, von den 584 Stimmen der acht Landtage kamen 278 auf die Standesherren und Ritter, 182 auf die Städte, 124 auf die Bauern. Die bescheidene Stimmenzahl der Städte entsprach ungefähr dem Verhältnis der Kopfzahl, da die Städte der Monarchie im Jahre 1820 erst 3 Mill. Einwohner umfaßten, neben 8 ¼ Mill. Landbewohnern. Doch sie entsprach mit nichten der Machtstellung, welche die Bildung und die längst über das flache Land verbreiteten Kapitalkräfte der Städte in der neuen Gesellschaft behaupteten; sie zeigte handgreiflich, daß die staatsrechtliche Trennung von Stadt und Land ihren Sinn verloren hatte in dem modernen Verkehrsleben. Noch schwerer war der Bauernstand benachteiligt; galt es doch noch als ein Wagnis, dem neuen Stande irgendeine Vertretung zu geben. Und dieser zurückgesetzte Stand trug im Osten ungleich schwerere Steuerlasten als die Ritterschaft!

Aus den Reihen der Notabeln erhob sich kein irgend lebhafter Widerspruch. Zwar die schlesischen Ritter murrten, sie fanden das Opfer, das man dem Adel zumute, fast zu groß; aber nur ein Bürgermeister aus dieser Provinz wagte für die unteren Stände eine stärkere Stimmenzahl zu verlangen, und die Bauernschaft war ja gar nicht vertreten unter den Notabeln. Schönberg dagegen forderte nachdrücklich für jeden Stand ein Drittel der Stimmen, er trug diese Ansicht während der Ferien nochmals brieflich dem Kronprinzen vor und beruhigte sich erst, als man ihm vorstellte, daß der Bauernstand, vornehmlich in den Marken, erst in der Entwicklung begriffen sei, seine Interessen mit denen des Adels meist zusammenfielen, und ihm im Notfall noch die Itio in partes offenstehe. Zudem sollte die Stimmenzahl der Bauern »nach Zeit und Umständen« erhöht werden. Doch diese Zeiten und Umstände konnten niemals erscheinen. Der Gesetzgeber selber gewöhnte den Adel, seinen Einfluß nicht auf die schweren Pflichten der Selbstverwaltung, sondern auf die bequeme Ausbeutung des ständischen Stimmrechts zu stützen; wie durfte man erwarten, daß der herrschende Stand der Provinziallandtage freiwillig auf die Macht der Mehrheit verzichten würde?

Der politische Fehler, der in dem vorläufigen Aufgeben der Reichsverfassung lag, rächte sich am schwersten bei der Beratung über die Befugnisse der Provinzialstände. Der Kronprinz hoffte mit der ehrlichen Begeisterung der Jugend, ein reiches vielgestaltiges Leben im Schoße seiner historischen Stände erblühen zu sehen. Auch Voß, Ancillon, Vincke und Schönberg wollten keineswegs die Stände zur Ohnmacht verdammen. Nicht böser Wille, sondern die unerbittliche Konsequenz des verfehlten Grundgedankens zwang den Ausschuß, der Macht der Stände enge und doch unbestimmte Schranken zu setzen, war die Krone fest entschlossen, die Reichsstände den Provinzialständen auf dem Fuße folgen zu lassen, so mußten letztere ausschließlich auf die Provinzialangelegenheiten angewiesen werden, und man konnte ihnen unbedenklich auf diesem ihrem natürlichen Gebiete sehr wirksame Rechte einräumen. Jetzt, da jene entscheidende Frage in der Schwebe blieb, erschien auch das Selbstverständliche zweifelhaft. Die Verordnung vom 22. Mai und das Staatsschuldenedikt verhießen den Reichsständen bestimmte Rechte, den Provinzialständen gar nichts. Schönberg verfiel nun in guter Absicht auf den Vorschlag, daß die den Reichsständen zugesagten Rechte vorderhand, solange kein Reichstag bestehe, von den Provinzialständen ausgeübt werden sollten. Natürlich nicht alle jene verheißenen Rechte; die Zustimmung der acht Provinziallandtage zu der Aufnahme von Staatsanleihen konnte nur ein Tor fordern. Nur das Recht der Beratung über alle Gesetze, »welche Veränderungen in Personen- und Eigentumsrechten und in den Steuern zum Gegenstände haben,« sollte jedem Provinziallandtage zustehen, »soweit sie die Provinz betreffen«. Ancillon sah diesmal schärfer. Er warnte: »Durch eine solche Dotation der Provinzialstände wird man in der öffentlichen Meinung die künftigen allgemeinen Stände dermaßen schon berauben und enterben, daß sich daraus ergibt, die letzteren sollten nie stattfinden.« Die Kommission nahm trotzdem den Antrag an, in der arglosen Meinung, die bescheidene Befugnis zur Beratung könne wenig schaden. So erhielten die Provinzialstände ein hochgefährliches Recht, das ihre Macht nicht vermehrte, doch die Tätigkeit der Gesetzgebung ins Stocken brachte. Die achtfache Beratung mit ständischen Körpern, welche jedes allgemeine Gesetz nur vom Standpunkte des Provinzialinteresses beurteilten, wurde in der Tat »eine Schraube ohne Ende«, wie Savigny im Jahre 1846 klagte.

Während oft die rechte Hand allzu reichlich spendete, kargte die linke. Steins Gutachten verlangte für die Stände durchaus das Recht entscheidender Mitwirkung bei allen Provinzialsteuern und Provinzialgesetzen; der tapfere Freiherr blieb bei seiner alten Meinung, daß beratende Stände in ruhiger Zeit nichts leisten, in bewegter den Versuchungen des Aufruhrs schwerlich widerstehen würden. Die Kommission ging zuerst auf den Vorschlag ein. Nachher erwachten doch berechtigte Zweifel. Solange das Gegengewicht des Reichstags fehlte, waren mächtige Provinzialstände eine Gefahr für die Staatseinheit; unmöglich konnte man ihnen überlassen, ob sie eine Last selber tragen oder sie auf den Staat abwälzen wollten. Daher wurde ihnen schließlich auch für Provinzialsachen nur das Recht der Beratung zugestanden. Selbst die Befugnis, in Sachen der Provinz Bitten und Beschwerden vor den Thron zu bringen, mußte zu unfruchtbaren Kompetenzstreitigkeiten führen, solange der allgemeine Landtag nicht bestand. Denn in diesem festgeschlossenen Einheitsstaate griff fast jede Sorge, welche einen Landesteil bedrückte, über die Grenzen der Provinz hinaus. Alles in allem erhielten die Provinzialstände, die man für althistorisch ausgab, eine Kompetenz, welche nur wenig hinausging über die Befugnisse der Napoleonischen Generalräte, dieser Musterschöpfungen nivellierender Bureaukratie. Wie diese standen sie dem Staatsbeamtentum nur mit unmaßgeblichen Ratschlägen zur Seite. Politische Körper aber, die keine wirkliche Verantwortlichkeit für ihr Tun tragen, verwildern entweder oder sie verfallen in Schlummer.

Dagegen erhielten die Provinziallandtage ein beschränktes, aber fruchtbares Gebiet der Selbstverwaltung, das sie bei einiger Rührigkeit leicht erweitern konnten, zugewiesen: »die Kommunalangelegenheiten« der Provinzen, die Sorge für Armenwesen, Straßenbau, Irrenhäuser und andere gemeinnützige Anstalten, wurden ihren Beschlüssen überlassen, unter Vorbehalt königlicher Genehmigung. Noch weit folgenreicher aber ward die Zusage, daß die Reform der Kreis- und Gemeindeordnung nur unter Mitwirkung der Stände, für jede Provinz besonders, stattfinden solle. Das war der Triumph des ständischen Partikularismus. Die Anhänger der historischen Doktrin rühmten als einen Vorzug des preußischen Verfassungsplanes, daß er auf »organische Entwicklung« rechne, den Ständen selber den Ausbau ihrer eigenen Institutionen anheimgebe, im erfreulichen Gegensatze zu dem engherzigen bureaukratischen Geiste der süddeutschen Konstitutionen. Der Versuch Hardenbergs und Frieses, das gesamte Gemeindewesen der Monarchie gleichmäßig zu ordnen, hatte sich als so ganz verfehlt erwiesen, daß jetzt der entgegengesetzte Plan kaum noch einen Widerspruch in der Kommission fand. Und doch berührte diese Frage die Grundlagen des gesamten Staatslebens. Indem die Krone das Kreis- und Gemeindeleben acht ständischen Körperschaften preisgab, verzichtete sie auf ein unveräußerliches Recht der Staatsgewalt; sie ließ die ständische Selbstsucht schalten auf einem Gebiete, das nur durch eine die Klasseninteressen kraftvoll bändigende Macht mit Gerechtigkeit geordnet werden kann. Eine Kreisordnung, welche den Interessen der Städte und der Bauerschaft einigermaßen gerecht wurde, ließ sich von dem Beirat solcher Landstände nimmermehr erwarten, vollends die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei, diese erste Voraussetzung jeder ernstlichen Reform des Landgemeindewesens, war fortan unmöglich.

Daß die Rechte der Standschaft an das christliche Bekenntnis geknüpft wurden, schien den Zeitgenossen selbstverständlich; nur wenige Stimmen unter den Notabeln (unter den schlesischen eine einzige) sprachen dawider. Ancillon gab sich sogar der harmlosen Hoffnung hin, die Juden würden, von der Standschaft ausgeschlossen, fortan seltener als bisher versuchen, christliche Grundherren auszuwuchern. Über die Zahlung von Diäten war alle Welt einig; die Selbstsucht der besitzenden Klassen stimmte hier überein mit der alten bureaukratischen Gewohnheit und mit den heiligen Glaubenssätzen des vulgären Liberalismus. Die Öffentlichkeit der Verhandlungen, die allerdings für Provinziallandtage nicht unbedingt notwendig ist, schien selbst einem Niebuhr und Gneisenau schreckhaft und gefährlich; in der Kommission galt sie von Haus aus für unannehmbar, auch die Notabeln bestanden nicht darauf. –

Als die Arbeit der Kommission beendet war, gab ihr Haller öffentlich seinen Segen und verkündete – was glücklicherweise nicht zutraf –, nunmehr sei die alte Begrenzung der vom Hause Brandenburg allmählich erworbenen Besitzungen wiederhergestellt. ›Diese Verordnung‹, schrieb er zufrieden, ›ist wesentlich antirevolutionär und restaurierend, eine Rückkehr zur natürlichen Ordnung der Dinge.‹ Niebuhrs geistvoller Freund Deserre aber meinte bedenklich: wie seltsam, daß die jüngste der großen Monarchien ihre Provinzialstände freiwillig wiederherstelle, während sie fast in allen andern Großstaaten untergegangen seien! Und in der Tat stand es in grellem Widerspruche mit allen Traditionen Preußens, daß dieser Staat, der sich immer nur durch das kräftige Zusammenfassen seiner Macht hatte behaupten können, jetzt einer romantischen Doktrin zuliebe seine zentrifugalen Kräfte selber wachrief. Gleichwohl erwiesen sich die Hoffnungen der Altständischen bald als ebenso irrig, wie die Schadenfreude jener föderalistischen Toren, die schon den Tag kommen sahen, da der künstliche Bau des preußischen Staates wieder urwüchsiger Zersplitterung anheimfallen würde, was war denn im Grunde das Ergebnis dieser langen Kämpfe? Der Versuch, den in der Verwaltung schon vollendeten Einheitsstaat auch in die Verfassung einzuführen, war einfach gescheitert. Das alte Verhältnis, das schon im achtzehnten Jahrhundert bestanden, stellte sich in modernen Formen vorläufig wieder her: in den Provinzen ständische Körper ohne Macht und Leben, über ihnen eine Staatsgewalt, die alle aufstrebenden Kräfte des Gemeinwesens in sich vereinigte. Die errungene Staatseinheit ward mit nichten aufgelockert, es gelang nur für diesmal nicht, sie zu verstärken. Ein Gewirr halbselbständiger Kronländer, wie in dem belobten Österreich, konnte in diesem Staatsbau, der durch die festen Klammern moderner Verwaltung zusammengehalten wurde, unmöglich entstehen. Die ohnmächtigen Provinziallandtage vermochten nur wenig zu leisten, aber auch den Werdegang der praktischen deutschen Einheit nicht zu hemmen. Die unverwüstliche Gesundheit dieses Staates ließ das Fieber des Partikularismus nicht aufkommen. Verwaltung und Wehrpflicht, Verkehr und Unterricht verbanden die Bewohner der Monarchie zu treuer Gemeinschaft, zerstörten in stiller Arbeit alle die Kräfte des Widerstandes, welche der Einheit des deutschen Staates noch im Wege standen. Als endlich nach einem Vierteljahrhundert die Provinzialstände zum vereinigten Landtag zusammentraten, da versammelten sich um den Thron nicht die Vertreter von acht Provinzen, sondern die Bürger eines Staates, die Söhne eines Volkes. Der alte Haß der Landschaften war vernichtet. (236–248.)


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