Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Die Wiederherstellung des preußischen Staates

Nach dem Friedensschlusse begann für Preußen wieder, wie einst in den Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter stiller Sammlung, reizlos und nüchtern, arm an großen Ereignissen, reich an Arbeit und stillem Gedeihen, eine Zeit, da das gesamte politische Leben in der Tätigkeit der Verwaltung aufging und das königliche Beamtentum noch einmal seine alte staatsbildende Kraft bewährte. Trotz seiner diplomatischen Niederlagen war der preußische Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der gesamten Nation verbunden. Er beherrschte nur noch etwa zwei Millionen Slawen; er sah, mit Ausnahme der Bayern und der Schwaben, bereits alle deutschen Stämme in seinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegensätzen des religiösen Lebens der Nation stärker als sonst berührt, da nunmehr zwei Fünftel seiner Bevölkerung der katholischen Kirche angehörten; er empfing endlich in den großen Kommunen der Ostseegestade und des Rheinlandes ein neues Kulturelement, das ihn den deutschen Nachbarlanden näherbrachte und gewaltig anwachsend nach und nach auf den gesamten Charakter des Staatslebens umbildend einwirken sollte. Aber welch eine Arbeit, diese neuen Gebiete, die fast allesamt nur widerwillig unter die neue Herrschaft traten, mit den alten Provinzen zu verschmelzen. Niemals in der neuen Geschichte hatte eine Großmacht so schwierige Aufgaben der Verwaltung zu lösen; selbst die Lage des Königreichs Italien nach den Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.

Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr 1814 übriggeblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von 5 ½ Millionen hinzu – ein Gewirr von Ländertrümmern, zerstreut von der Prosna bis zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig, seitdem regiert durch die Gesetze von Frankreich, Schweden, Sachsen, Westfalen, Berg, Danzig, Darmstadt, Nassau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer Landstriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauscht hatte,– der kleinste der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die Bruchstücke von acht verschiedenen Staaten. Auch die altpreußischen Provinzen, welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der Napoleonischen Herrschaft ihre alten Institutionen fast bis auf die letzte Spur verloren. Schon bei der Besitznahme der neuen Provinzen entspann sich überall Streit mit mißgünstigen Nachbarn. Das russische Gouvernement in Warschau befahl noch im Frühjahr 1815 umfassende Domänenverkäufe in Posen; ebenso Darmstadt im Herzogtum Westfalen; auch die österreichisch-bayrische Verwaltung in den Ländern an der Mosel und Nahe erhob zum Abschied Renten und Steuern im voraus und ließ die Wälder bei Boppard niederhauen. Nassau weigerte sich, den Verträgen zuwider, das Siegensche zu räumen, bis Hardenberg drohte, das Land ohne Übergabe besetzen zu lassen. Die Russen hatten selbst Danzig nur ungern ausgeliefert; in Thorn blieb ihre Garnison, trotz dringender Mahnungen, bis zum 19. September 1815 stehen. Dann vergingen noch Jahre, bis der neue Besitzstand durch Verträge mit den grollenden Nachbarstaaten rechtlich gesichert wurde. Erst im Jahre 1816 wurde mit den Niederlanden, 1817 mit Rußland ein Grenzvertrag geschlossen; mit dem tiefgekränkten Dresdner Hofe mußten bis in das Jahr 1819 hinein kleinliche und peinliche Verhandlungen wegen der neuen Grenze geführt werden, und erst im Jahre 1825 war die Auseinandersetzung über alle zwischen den beiden Nachbarn streitigen Vermögensobjekte vollendet.

Nun erhob sich die Aufgabe, das also dem Neide Europas mühsam entrungene Gebiet einer gleichmäßigen Verwaltung zu unterwerfen; es galt, die Ausländerei im Inlande, die Kleinstaaterei im Großstaate zu überwinden, alle diese Trümmerstücke der deutschen Nation, die miteinander noch nicht viel mehr als die Sprache gemein hatten, mit einer lebendigen Staatsgesinnung zu erfüllen. Gelang das Werk der politischen Verschmelzung in dieser Hälfte Deutschlands, so war die Nichtigkeit des Partikularismus durch die Tat erwiesen und der Boden bereitet für den Neubau des deutschen Gesamtstaates; die Vollendung des preußischen Einheitsstaates gab dieser Epoche unserer politischen Geschichte ihren eigentlichen Inhalt. Die Aufgabe war um so schwieriger, da die Monarchie, als sie die neuen Provinzen erwarb, sich schon mitten in einem gefährlichen Übergangszustande befand: fast auf allen Gebieten der Gesetzgebung waren umfassende Reformen erst halb vollendet, und doch fehlte die in Wahrheit leitende Hand, stark genug, jene Überfülle von Talenten, die dem Staate diente, unter einen Willen zu beugen. Kein anderer Staat jener Tage zählte in den Reihen seiner Beamten eine solche Schar ungewöhnlicher Menschen: Verwaltungstalente wie Vincke, Schön, Merckel, Sack, Hippel, Bassewitz; Finanzmänner wie Maaßen und Hoffmann; Techniker wie Beuth und Hartig; Juristen wie Daniels und Sethe; unter den Diplomaten Humboldt, Eichhorn, Niebuhr; dazu die Generäle des Befreiungskrieges und die Größen der Kunst und Wissenschaft. Sie alle waren gewohnt, an den Taten der Staatsregierung eine rücksichtslos freimütige Kritik zu üben, die als ein Vorrecht des hohen Beamtentums, als ein Ersatz gleichsam für Volksvertretung und Preßfreiheit betrachtet wurde, und nahmen jetzt den alten Parteistreit, der während des Krieges nie ganz geruht hatte, eine Masse persönlichen Hasses und sachlicher Gegensätze, als eine böse Erbschaft in die Tage des Friedens hinüber. Aus diesen Kreisen drang Tadelsucht und Klatscherei in alle Klassen der Gesellschaft; der Staat, der bei allen Gebrechen seiner Unfertigkeit doch die beste und sparsamste Verwaltung Europas besaß, ward in den Briefen und Gesprächen seiner eigenen treuen Diener so maßlos gescholten, als eilte er, geleitet durch eine Rotte von Betrügern und Toren, rettungslos dem Verderben entgegen.

Vier keineswegs klar geschiedene Parteien bekämpften einander innerhalb der Regierung. Die alte Schule der absolutistischen Hofleute und Beamten zählte nur noch wenige Anhänger, doch sie gewann jetzt mächtige Bundesgenossen an Hardenbergs alten Gegnern, den Feudalen, die in dem Adel der Kurmark ihre Stütze, in Marwitz und dem vormaligen Minister Voß-Buch ihre Führer fanden. Die jungen Beamten dagegen und fast alle Geheimen Räte der Ministerien bekannten sich zu dem bureaukratischen Liberalismus Hardenbergs, was freilich nicht ausschloß, daß ihrer viele den Staatskanzler persönlich heftig bekämpften, wieder eines andern Weges ging die kleine Schar der aristokratischen Reformer, die noch an Steins Gedanken festhielten. Die Schwarmgeisterei der teutonischen Jugend fand unter den gewiegten Geschäftsmännern des hohen Beamtentums zwar manchen nachsichtigen Richter, doch keinen einzigen Anhänger. Gleichwohl wirkte jener finstere Argwohn, welchen alle Höfe des In- und Auslandes gegen Preußens Volk und Heer hegten, unausbleiblich auf Preußen selbst zurück. Seit Schmalz seinen Unheilsruf erhoben hatte, nahmen die Verleumdungen und giftigen Flüsterreden kein Ende. Nicht bloß Stein, der erklärte Gönner Arndts, sondern auch der Staatskanzler selbst ward des geheimen Einverständnisses mit den Deutschtümlern beschuldigt, obgleich Hardenberg die jugendlichen Einheitsschwärmer als unbequeme Störer seiner dualistischen Politik ansah und sie selbst in seinem verschwiegenen Tagebuch immer nur mit ärgerlichem Tadel behandelte.

So scharfe Gegensätze in fester Zucht zu halten, war der schonenden Gutherzigkeit König Friedrich Wilhelms nicht gegeben. Allzu rücksichtsvoll gegen seine Räte ließ er den Parteikampf am Hofe lange gewähren und fuhr nur zuweilen mit einer Mahnung dazwischen, wurde eine neue Kraft in die Negierung berufen, so pflegte man ein Ministerialdepartement in zwei Teile zu zerlegen, nur um den alten Minister nicht zu kränken, der oft ein Gegner des neuen war. Vollständige Übereinstimmung unter den Ministern galt noch für entbehrlich, da der Monarch am letzten Ende stets nach seinem freien Ermessen entschied, wie viele Stürme waren über das Land dahingebraust in den kurzen zwei Jahrzehnten, seit Friedrich Wilhelm die Krone trug; den Rückschauenden war, als ob die Anfänge seiner Regierung um mehrere Menschenalter zurücklägen. Das treue Volk der alten Provinzen nannte den König jetzt schon, da er noch in der Kraft der Mannesjahre stand, kurzweg den alten Herrn und wußte tausend Geschichten von seiner verlegenen und doch so herzlich wohltuenden Leutseligkeit. Seine Berliner lebten mit ihm und erwarteten als ihr gutes Recht, daß er häufig in seinem einfachen Soldatenüberrocke durch den Tiergarten ging, daß er mittags, wenn die Wachtparade aufzog, an dem allbekannten Eckfenster seines unscheinbaren Palastes sich zeigte und abends halb versteckt in seiner Loge einem Lustspiel, einer Oper oder einem Ballett zusah – denn die Tragödie liebte er wenig, weil das Leben selbst des Traurigen genug biete.

Die Erfahrungen einer großen Zeit hatten sein Selbstgefühl etwas gekräftigt; er erschien fester und sicherer, aber auch noch ernster und schweigsamer als vor Jahren. Eine stille Trauer lag auf seinen freundlichen Zügen und schwand nur selten, wenn er etwa seinen lebensfrohen Kindern und dem Großfürsten Nikolaus auf der Pfaueninsel ein ländliches Fest gab. Der bequeme Nationalismus seiner Jugendbildung genügte ihm längst nicht mehr; schon während der schweren Tage in Königsberg hatte er in einem festen Bibelglauben seinen Trost gefunden und sich mit dem ehrwürdigen Bischof Borowsky befreundet. Jetzt wuchs in ihm von Jahr zu Jahr die Sehnsucht nach dem Ewigen, fromme Betrachtungen und theologische Studien füllten einen guten Teil seiner freien Stunden aus. Obschon er den Gram um seine verlorene Gemahlin nie verwinden konnte, so widerfuhr ihm doch, was gerade den tiefgebeugten Witwern häufig geschieht: die Einsamkeit des ehelosen Lebens ward ihm unerträglich. Er faßte eine lebhafte Neigung für eine liebenswürdige junge Französin, die Gräfin Dillon, die seine Liebe leidenschaftlich erwiderte, und dachte eine Zeitlang ernstlich an eine Ehe zur linken Hand – denn für sein Volk sollte Königin Luise immer die Königin bleiben. Aber er wollte nicht, daß seine Preußen an ihrem Könige irr würden, und da er in Gewissensfragen dem Rate seines leichtlebigen Staatskanzlers nicht traute, so ließ er zwei Männer, von denen er eine rückhaltlos freimütige Antwort erwartete, Gneisenau und Schön, vertraulich befragen, wie man im Heer und im Volke die Heirat mit der katholischen Französin aufnehmen würde. Als beide übereinstimmend abrieten, gab der König tieferschüttert seine Pläne auf. Trüb und eintönig verflossen ihm die Tage. Er erledigte jede Eingabe mit der alten Pünktlichkeit, nach gewissenhafter Prüfung, und behielt das Ruder immer in der Hand, jedoch der persönliche Verkehr mit seinen höchsten Beamten blieb dem Schüchternen unbequem; den Staatskanzler sah er selten, noch seltener die Minister.

Weit näher stand dem Könige sein täglicher Begleiter, der Oberst Job von Witzleben, der im Jahre 1816, kaum dreiunddreißig Jahre alt, die Leitung des Militärkabinetts erhielt, zwei Jahre darauf zum Generalmajor und Generaladjutanten ernannt wurde. Welch ein Abstand zwischen der gediegenen Tüchtigkeit dieses Mannes und jenem schläfrigen Pedanten Köckritz, der vor 1806 das Vertrauen des Monarchen genossen hatte; schon an der Wahl seiner Freunde ließ sich erkennen, wie Friedrich Wilhelm gewachsen war mit der wachsenden Zeit. Der König war zuerst auf Witzlebens militärische Begabung aufmerksam geworden und erfuhr erst allmählich, welche vielseitige Bildung der junge Gardeoffizier besaß, wie er mit Wilhelm Humboldt und anderen Größen der Wissenschaft freundschaftlich verkehrte, als Musiker ein ungewöhnliches Talent bewährte, auch in der Theologie, die dem Herzen des Königs so nahestand, wohlbewandert war und bei alledem so anspruchslos blieb, ganz frei von Selbstsucht, fromm ohne Wortprunk, ein glücklicher Familienvater. Der neue Generaladjutant erwarb sich bald das unverbrüchliche Vertrauen Friedrich Wilhelms; er durfte dem Monarchen alles sagen, weil er die natürliche Lebhaftigkeit, die aus seinen dunklen Augen blitzte, immer zu beherrschen verstand und bei seinem ehrlichen Freimut niemals die herzliche Verehrung für seinen königlichen Freund vergaß. Er diente als Vermittler zwischen dem Könige und den Ministern, ward bei allen großen Staatsgeschäften zu Rate gezogen, und bewältigte Tag für Tag im Tabaksrauche seines einfachen Zimmers ungeheuere Arbeitslasten mit einem rastlosen Fleiße, der seinen Körper schon nach zwei Jahrzehnten vor der Zeit aufrieb. Im Drange der Geschäfte hat er nur selten die Muße gefunden, die Erlebnisse, des Tages aufzuzeichnen; seine Tagebücher enthalten oft viele Monate lang nur weiße Blätter, oft nur kurze Reisenotizen; wo sie aber über Politik reden, da zeigt sich stets ein gerader Soldatenverstand, gründliche Sachkenntnis und unbedingte Aufrichtigkeit. Obwohl er sich selber nicht zu den staatsmännischen Köpfen rechnete und den Parteien des Hofes behutsam fern blieb, so hielt er doch mit seinen gesunden politischen Urteilen nicht hinter dem Berge: er betrachtete die neue Heeresverfassung als das feste Band der Staatseinheit, hielt die Vollendung der Stein-Hardenbergischen Reformen für unerläßlich und – was in diesen Tagen der geheimen Einflüsterungen am schwersten wog – er kannte und liebte das preußische Volk. Nichts schien ihm verächtlicher als der Versuch, »in des Königs reiner Seele einen Argwohn zu erwecken«; nichts brachte ihn ab von dem zuversichtlichen Glauben: »es gibt keine gediegenere Treue, als die bei uns wohnt.«

Das stille Wirken dieses treuen Vermittlers war um so heilsamer, da der König seit den Mißerfolgen des Wiener Kongresses den Staatskanzler nicht mehr mit dem alten Vertrauen behandelte und den Unersetzlichen doch nicht entlassen konnte. Als Hardenberg seinen 70. Geburtstag feierte, rief Goethe dem alten Universitätsgenossen zu:

Auch vergehn uns die Gedanken,
wenn wir in dein Leben schauen,
Freien Geist in Erdenschranken,
Festes Handeln und Vertrauen.

Und der freie Geist allerdings blieb dem Greise bis zum Ende, wie er einst unter dem Drucke der Fremdherrschaft den Gedanken der Befreiung des Vaterlandes unwandelbar festgehalten hatte, so verfolgte er nunmehr unausgesetzt den Plan, das Werk der inneren Reform durch die verheißene reichsständische Verfassung zu krönen; dies sollte sein politisches Vermächtnis, der Abschluß seiner langen Laufbahn werden. Im persönlichen Verkehr bewährte er noch immer seine bestrickende Liebenswürdigkeit und zeigte eine so jugendliche Begeisterung für alles Schöne und Große, ging so geistreich und liebevoll auf jeden neuen Gedanken ein, daß selbst strenge Richter, wie Gneisenau und Clausewitz, trotz mancher Mißhelligkeiten dem hochverdienten Manne nicht gram werden konnten. Das feste Handeln aber war ihm schon in rüstigeren Tagen nicht immer gelungen; jetzt, da er alternd sich festklammerte an sein hohes Amt, fand er nur noch selten den Mut, seinen Feinden die freie Stirn zu zeigen, und glaubte oft selber zu leiten, wenn die Gegner ihn mißbrauchten. Die diktatorische Macht des Staatskanzlers hatte wohltätig gewirkt, solange er selbst noch alle Ministerien bis auf zwei in seiner Hand vereinigte; seit er nur noch die auswärtigen Angelegenheiten unmittelbar leitete und fünf Fachminister unter ihm standen, geriet er allmählich in eine ebenso unhaltbare Mittelstellung wie einst die vortragenden Kabinettsräte. Streitigkeiten mit den Ministern, Klagen über die Verschleppung der Geschäfte konnten nicht ausbleiben, da – außer Boyen, Witzleben und dem Kabinettsrat Albrecht – der Staatskanzler allein dem Monarchen regelmäßig Vortrag hielt und gleichwohl von den Ministern forderte, daß sie die volle Verantwortlichkeit für ihre Verwaltung übernähmen.

Nur Unkenntnis und Tadelsucht beschuldigten den greisen Staatsmann der Trägheit; alle Eingeweihten wußten, welche Unzahl von Denkschriften und Randbemerkungen, Verfügungen und Berichten diese rasche Feder, immer geistreich und gewandt, auf das Papier warf. Aber auf pünktliche Ordnung hatte er sich nie verstanden, und die Last dieser, das gesamte Staatsleben umfassenden Tätigkeit ward nach der Vergrößerung des Staatsgebiets auch seinen Schultern zu schwer. Dringende Arbeiten blieben oft monatelang liegen, wenn der Fürst sich in seinem Schlosse zu Glienicke vergrub und dann ruckweise, nach Zufall und Laune, dies oder jenes Stück von seinen Aktenbergen abhob, wer dort am träumerischen Havelsee den schönen Park durchwanderte oder auf dem Dotationsgute Neuhardenberg in der Neumark die gewählte Kunstsammlung und die neue, von Schinkel erbaute Kirche betrachtete, der fühlte wohl, daß ein edler, hochgebildeter Geist hier waltete. Aber welch ein Ärgernis, wenn man die freche Gesellschaft musterte, die sich in diesen vornehmen Räumen umhertrieb und den großmütigen Hausherrn an seinem eigenen reichen Tische verhöhnte: die klatschsüchtigen Literaten Schöll und Dorow, die magnetischen Ärzte Koreff und Wohlfart, die Somnambule Friederike Hähnel, späterhin Frau v. Kimsky genannt. Diese abgefeimte Gaunerin war dem Fürsten zuerst auf einem Zauberabend bei Wohlfart begegnet und hatte durch ihre krampfhaften Verzückungen sein weiches Herz im Sturme erobert. Seitdem ließ sie ihn nicht mehr los; sie wurde der Fluch seiner alten Tage. Unerschöpflich in geheimnisvollen Krankheitserscheinungen und in den Künsten sanfter Plünderung begleitete sie ihn überall, selbst zu den Kongressen der Monarchen, und ruhte nicht, bis auch seine dritte Ehe, gleich den beiden ersten, tatsächlich getrennt wurde. Um dieselbe Zeit vermählte sich des Staatskanzlers einzige Tochter, die geschiedene Gräfin Pappenheim, in überreifem Alter mit dem Virtuosen der eleganten Liederlichkeit, dem jungen Fürsten Pückler-Muskau. Der schlechte Ruf des Hardenbergischen Hauses bot den zahlreichen Spähern, welche Metternich in Berlin unterhielt, reichen Stoff, allen Feinden des Staatskanzlers eine gefährliche Waffe. Sie bemerkten schadenfroh, wie der König dem Staatsmanne, der seine weißen Haare so wenig achtete, kälter und fremder begegnete; und da der betriebsame Koreff zuweilen auch als liberaler Schriftsteller auftrat, so bildete sich am Hofe nach und nach das Parteimärchen, Hardenbergs Verfassungspläne seien das Werk seiner anrüchigen plebejischen Umgebung, wenn ein Freund den Fürsten vor diesem Gesindel warnte, dann erwiderte er lächelnd: »Und wenn ich auch oft betrogen worden bin, es ist ein so herrliches Gefühl, Vertrauen zu erweisen.«

Unter den Ministern besaß Hardenberg nur einen erklärten Gesinnungsgenossen, Boyen, und auch dieser dachte zu selbständig, um der Führung des Fürsten unbedingt zu folgen. Kircheisen bewährte sich bei der Organisation der Gerichte in den neuen Provinzen als trefflicher Fachmann und blieb der großen Politik fern. Schuckmann dagegen, der Minister des Innern, ein straffer Bureaukrat, tätig, sachkundig, herrschsüchtig, der Philister der alten Zeit, wie W. Humboldt ihn nannte, stand allen Reformplänen ebenso argwöhnisch gegenüber wie der Polizeiminister Fürst Wittgenstein, der vertraute Metternichs. Wie viele Jahre hat der arglose Hardenberg gebraucht, bis er die biedere Derbheit dieses schlauen Hofmanns endlich durchschaute, dereinst, durch den Sturz des Ministeriums Dohna, ihm selber den Weg zur Macht geöffnet hatte und darum schon der treuesten Freundschaft würdig schien. Dem Monarchen war Wittgenstein als geschickter Verwalter des königlichen Hausvermögens unentbehrlich; auch an den andern deutschen Höfen stand er in hohem Ansehen, bei allen fürstlichen Familienangelegenheiten zog man ihn zu Rate, und sogar der eigenwillige Kurfürst von Hessen hörte zuweilen auf seine Ratschläge. Arglosen Beobachtern erschien der muntere alte Herr mit seinen trivialen Späßchen sehr unschädlich; selbst ein so gewiegter Menschenkenner wie der alte Heim, der volksbeliebte erste Arzt Berlins, ließ sich durch die gemütlichen Formen des Fürsten völlig täuschen und liebte ihn zärtlich. Aber nichts entging den lauernden Blicken dieser falschen grauen Augen; mit unversöhnlichem, stillem Hasse verfolgte Wittgenstein alles, was an Stein und die stürmische nationale Bewegung der Kriegsjahre erinnerte, und nicht lange, so fand er auch den Staatskanzler selbst des teutonischen Jakobinertums verdächtig und begann ihn unmerklich Schritt für Schritt zur Seite zu drängen. Die verrufene »höhere« Polizei, welche ein Justus Gruner zur Notwehr gegen die Napoleonischen Späher eingerichtet hatte, wurde zwar nach dem Frieden aufgehoben; doch blieben mehrere ihrer geheimen Agenten noch in Tätigkeit, und nach ihren Berichten bildete Wittgenstein sein Urteil über die Gesinnung der Nation.

Ganz einsam stand der junge Finanzminister Graf Bülow unter den Genossen, der Vetter Hardenbergs, ein schöner blonder Mann, der mit seiner vornehmen, weltmännischen Anmut, seiner leichten, oft leichtfertigen Geschäftsgewandtheit den Staatskanzler an seine eigene Jugend erinnerte und von ihm wie ein Sohn geliebt wurde. Er war nach dem Tilsiter Frieden, gleich vielen andern wackeren Beamten des Magdeburger Landes, widerwillig in den Dienst des Königs Jerome getreten, da die alte Heimat ihn nicht unterbringen konnte, und hatte dann als westfälischer Minister für die Entfesselung des inneren Verkehrs, für die Durchführung verständiger handelspolitischer Grundsätze viel getan, bis er endlich wegen seiner deutschen Gesinnung und seines unabhängigen Auftretens entlassen wurde. Trotzdem ward er von den altpreußischen Beamten wie ein Verräter angesehen; der Stolz der Preußen vergab es nicht, daß Hardenberg noch während des Krieges gegen Napoleon einen Diener Jeromes in das Ministerium einführte. In der Tat war Bülow von den Anschauungen der französischen Bureaukratie nicht unberührt geblieben; er bewunderte das Napoleonische Steuersystem und hatte sich unter den westfälischen Präfekten an einen herrischen Ton und eine durchfahrende Eigenmächtigkeit gewöhnt, die dem preußischen Beamtentum unerträglich schienen. Alsbald überwarf er sich mit mehreren Oberpräsidenten; auch mit seinem Vetter und Gönner geriet er in Streit, da ein geordneter Staatshaushalt allerdings unmöglich war, solange der Staatskanzler, ohne den Finanzminister zu befragen, über beliebige Summen frei verfügen durfte. Die ewigen Händel verbitterten den Heftigen, und bald erkannte man in seinem reizbaren, zänkischen Wesen die alte Liebenswürdigkeit kaum noch wieder.

Die reaktionäre Partei des Ministeriums fand bei Hofe eine mächtige Stütze an dem Kommandeur der Garde, dem Herzog Karl von Mecklenburg. Der Bruder der Königin Luise hatte sich auf dem Schlachtfelde und dem Exerzierplatz stets als tüchtiger Offizier bewährt, aber für die reformatorischen Ideen der Freunde seiner Schwester hegte er kein Verständnis. Eine schöne ritterliche Erscheinung, ein angenehmer unterrichteter Gesellschafter, auf den Hoffesten als begabter Poet und Schauspieler viel bewundert, sehr tätig im Staatsrate wie in seinem militärischen Berufe, war er doch bei der Mehrzahl der Offiziere nicht beliebt, in der gebildeten Gesellschaft der Hauptstadt gründlich verhaßt. Denn er nährte in seinem Gardekorps ein dünkelhaftes Wesen, das dem Zivil wie den Linientruppen gleich anstößig ward, und blieb trotz seiner Jugend ein Berufssoldat der alten Schule, ein entschiedener Gegner der neuen Heeresverfassung. In der Politik schloß er sich eng an Wittgenstein an und bekämpfte wie dieser jede Neuerung, die dem Wiener Hofe mißfallen konnte. Und einmal doch in diesen Übergangsjahren erlangte die reaktionäre Partei einen großen Erfolg: durch die Deklaration vom 29. Mai wurde die Ablösung der bäuerlichen Lasten auf die Ackernahrungen, die spannfähigen Bauerngüter beschränkt. Die Neuerung ließ sich zur Not entschuldigen, weil die großen Grundbesitzer des Ostens der Tagelöhner in ihrer Wirtschaft nicht entbehren konnten; doch sie beeinträchtigte die Ausführung der Hardenbergischen Agrargesetze.

Noch mächtiger war der stille Einfluß Ancillons. Der in allen Sätteln gerechte Theolog wurde im Jahr 1814 als Geheimer Rat im Auswärtigen Amte angestellt und schwamm jetzt wieder selbstgefällig obenauf, obgleich der Erfolg des Krieges alle seine kleinmütigen Warnungen Lügen gestraft hatte. Hardenberg glaubte, durch diese Ernennung eine Brücke zwischen der Wissenschaft und der Politik zu schlagen, denn Ancillon verdankte seiner seichten, aber vielseitigen und immer für die Unterhaltung der Salons bereiten Gelehrsamkeit ein hohes Ansehen, das auch reichere Geister bestach. Die Diplomaten rühmten die sokratische Gelassenheit, die urbane Milde seiner Umgangsformen; selbst Schön, der alles tadelte, ließ ihn gelten, und noch in späteren Jahren schaute der junge Leopold Ranke bewundernd zu ihm auf. Er hatte am Ausgang des alten Jahrhunderts als eleganter Prediger an der Französischen Gemeinde den weichlichen Geschmack der Zeit glücklich getroffen und dann als Lehrer der Staatswissenschaft an der Kriegsschule seine Gemeinplätze mit so feierlicher Gespreiztheit, mit einem so überlegenen staatsmännischen Lächeln vorgetragen, daß sein Zuhörer, der junge Nesselrode, sich ganz bezaubert fühlte. Bei Hofe verstand er durch untertänige Beflissenheit seinen Platz unter den vornehmen Herren zu behaupten. Es ward verhängnisvoll für eine späte Zukunft, daß auch Königin Luise und der Freiherr vom Stein sich durch den erschlichenen Ruhm des glatten Halbfranzosen blenden ließen und ihm die Erziehung des jungen Thronfolgers anvertrauten. So geriet der verschwenderisch begabte, aber phantastische und eigenwillige Geist des Prinzen, der vor allem einer strengen Zucht und der Belehrung über die harte Wirklichkeit des Lebens bedurfte, unter die Leitung eines charakterlosen Schönredners, der selber kaum fühlte, wieviel von seinem Tun der angeborenen Furchtsamkeit, wieviel der weltklugen Berechnung entsprang, seitdem wurde Ancillon auch zu den politischen Beratungen öfters zugezogen und schrieb nun unermüdlich mit seiner schwunglosen, verkniffenen kleinen Gelehrtenhand eine Masse von Denkschriften – breite Betrachtungen ohne Kraft und Schneide, die allesamt ebenso leer wie seine Bücher doch immer den Eindruck erregten, als ob sich ein tiefer Sinn hinter dem Wortschwall verbärge. Durch ihn ward die Kunst, hohle Worte zu einem glitzernden Gewebe zu verknüpfen, zuerst in die preußische Politik eingeführt – eine Kunst, die unter dem gestrengen alten Absolutismus ganz unbekannt gewesen war und erst späterhin, in der parlamentarischen Epoche, ihre üppigsten Blüten entfalten sollte, von Haus aus ein Freund der Ruhe und der überlieferten Ordnung hatte er im Juni 1789 zu Versailles selber mit angesehen, wie die Vertreter des Dritten Standes sich die Rechte einer Nationalversammlung anmaßten und also den Sturz des Königtums vorbereiteten. Seit jenem Tage lag ihm die Angst vor der Revolution in allen Gliedern, und als das revolutionäre Weltreich endlich gefallen war, wahrlich ohne Ancillons Zutun, da wendete sich der Zaghafte den Ansichten Metternichs zu und folgte gelehrig jedem Winke der Hofburg. Geschäftig trug er die Anschuldigungen der Schmalzischen Schrift in der Hofgesellschaft umher, und obwohl er sich noch hütete, den Staatskanzler offen zu bekämpfen, so sprach er doch jetzt schon mit verdächtigem Eifer von den unermeßlichen Schwierigkeiten, welche dem Verfassungsplane entgegenständen, und wer den Mann kannte, mußte erraten, daß er insgeheim zu Wittgensteins Partei gehörte.

Das Volk begann den geheimen Parteikampf am Hofe zuerst zu bemerken, als bald nach dem Frieden einige unerwartete Veränderungen in den rheinischen Provinzen erfolgten. Dort am Rhein war die festliche Stimmung der Kriegsjahre so schnell nicht verflogen. Die preußischen Offiziere und Beamten, die das teuer erkaufte Grenzland jetzt dem deutschen Staatsleben einfügen sollten, schauten mit dem Hochgefühle des Siegers um sich; sie schwelgten in den Reizen der schönen Landschaft und in der hellen Lebenslust der rheinischen Geselligkeit. Ihnen war, als ob die Heldenkraft des Nordens hier mit der Anmut des reichen Südens fröhlich Hochzeit hielte. Um Gneisenau, der in Koblenz befehligte, sammelte sich ein froher Kreis von bedeutenden Männern und schönen Frauen, der selbst die leichtlebigen Bewohner der alten Bischofsstadt zu dem Geständnis zwang, daß ihre neue Landesherrschaft doch über ganz andere geistige Kräfte gebot als weiland der kurtriersche Hof und der Präfekt Napoleons. Da waren Clausewitz und Bärsch, einer von Schills Gefährten; der tollkühne Husar Hellwig und der hünenhafte Graf Karl v. d. Gröben, der einst als Gneisenaus Vertrauter fast so abenteuerlich wie sein Ahn, der afrikanische Held des Großen Kurfürsten, von Land zu Land gezogen war, um den Heiligen Krieg vorzubereiten; dann die romantischen Schwärmer Max von Schenkendorf, Werner von Haxthausen, Sixt von Armin, der Pädagog Johannes Schulze und der gelehrte Sammler Meusebach. wenn Gneisenau abends die Damen in dem Wagen Napoleons, dem Beutestücke von Belle-Alliance, zu einem Feste abholen ließ und nun in seiner heiteren Hoheit, gebieterisch und doch bescheiden, errötend vor dem eigenen Ruhm, inmitten der lauten Tafelrunde saß, wenn die Lieder Arndts und Körners erklangen, die Kriegsmänner von ihren Fahrten erzählten und Meusebach durch den urkräftigen Humor seiner geistreichen Verse alles zu stürmischem Gelächter hinriß, dann meinte Schenkendorf glückselig:

So hab' ich wohl im Knabentraume
Die alte Ritterschaft gesehn.

Auch im Lande hatte sich der freimütige Held bald alle Herzen gewonnen; als er die Mosel hinauffuhr, kamen aus jedem Dorfe singende Landleute herangerudert und reichten ihm den Ehrenwein.

Das fröhliche Nachspiel der großen Kriegszeit sollte nicht lange währen. Gneisenau hatte schon, als die Schmalzische Schrift erschien, den Staatskanzler gewarnt, diesem ersten Schlage würden schwerere folgen, und mußte nun erfahren, daß man bei Hofe ihn selber als das Haupt des Tugendbundes anschwärzte, seine heitere Tafelrunde »Wallensteins Lager« nannte. Die Verleumdung verstimmte ihn um so tiefer, da er eben jetzt von jener krankhaften Abspannung befallen wurde, welche die Männer der Tat beim Eintritt ruhiger Zeiten so häufig heimsucht; er fühlte sich im Friedensdienste wie der Fisch auf dem Lande und legte schon im Sommer 1816 sein rheinisches Kommando nieder, teils seiner Gesundheit wegen, teils um den Gegnern zu beweisen, daß er keine ehrgeizigen Absichten hege. Auch dann noch hörten die Afterreden am Hofe nicht auf; der König aber blieb den Einflüsterungen unzugänglich, und kaum zwei Jahre später übernahm Gneisenau, nachdem sein Körper sich in den schlesischen Bergen wieder erholt hatte, die Stelle des Gouverneurs von Berlin.

In denselben Tagen wurde der Oberpräsident Sack vom Rheine nach Stettin versetzt. Anderthalb Jahre lang hatte er die provisorische Verwaltung in seiner rheinischen Heimat mit Geschick und Umsicht geleitet; aber wie er einst als brandenburgischer Oberpräsident mit dem feudalen Adel zusammengeraten war, so konnte es dem derben, durchgreifenden Beamten auch jetzt nicht an Feinden fehlen. Die Minister Wittgenstein, Schuckmann, Bülow beschwerten sich über seine Unbotmäßigkeit; mit dem Militärgouverneur General Dobschütz lebte er in offener Fehde. Freiherr von Mirbach und andere aus dem stolzen niederrheinischen Adel verklagten ihn wegen bureaukratischer Härte und Zurücksetzung der Edelleute; selbst seine Freunde konnten nicht leugnen, daß er sich in den Zeitungen mehr, als für einen preußischen Beamten schicklich war, loben ließ, und seine zahlreiche Vetterschaft, »die Säcke«, doch gar zu sorgsam in der rheinischen Verwaltung untergebracht hatte. Nach so zahlreichen Klagen fand es Hardenberg geraten, dem verdienten Manne einen andern Wirkungskreis anzuweisen; er blieb bei seinem Entschlusse, obgleich Sack sich schwer beleidigt fühlte, die große Mehrzahl der Rheinländer ihren Landsmann ungern ziehen sah, und zahlreiche Gemeinden der Provinz dringend um Zurücknahme der Versetzung baten.

Auch der feurige Patriot Justus Grüner, der bisher im Namen der verbündeten Mächte das Bergische Land verwaltet hatte, fand eine laue Aufnahme, als er jetzt, durch Gneisenau lebhaft empfohlen, wieder in den preußischen Staatsdienst einzutreten verlangte. Sonderbares Schicksal, daß gerade der Begründer der preußischen geheimen Polizei unter den Berichten der geheimen Agenten am schwersten leiden mußte. In der Hofburg galt er, neben Stein und Görres, als das Haupt der deutschen Jakobiner. Im Sommer 1812 war er auf Metternichs Befehl nach Peterwardein auf die Festung gebracht worden, weil er von Prag aus eine Schilderhebung gegen Napoleon vorbereitete und mit Jahns »Deutschem Bunde« insgeheim verkehrte. Erst im Oktober 1813 freigelassen, hatte er dann als Gouverneur von Berg die Österreicher und die Rheinbündner durch die leidenschaftliche Sprache seiner Reden und Manifeste aufs neue erschreckt und beim Ausbruche des Krieges von 1815 gar einen geheimen Bund gestiftet, der zwar niemals zu einer Tätigkeit gelangte und alsbald nach dem Frieden wieder einging, aber schon durch seinen Wahlspruch »Deutschlands Einheit unter Preußen!« alle ängstlichen Gemüter mit Entsetzen erfüllte. Nach alledem hielt es der Staatskanzler für unmöglich, dem vielverleumdeten ein einflußreiches Verwaltungsamt anzuvertrauen, und Gruner wurde mit dem bescheidenen Gesandtschaftsposten in Bern abgefunden. Alle diese Vorfälle berührten die öffentliche Meinung sehr peinlich, zumal da sie fast gleichzeitig mit der Unterdrückung des »Rheinischen Merkurs« und bald nach dem Erscheinen der Schmalzischen Schrift erfolgten. Die argwöhnische Welt suchte nach einem geheimen Zusammenhange, obgleich Gneisenau das Verbot des Görresschen Blattes ganz in der Ordnung fand, und Sack ein erklärter Gegner Gruners war. Die Luft ward täglich schwüler. Derweil man bei Hofe von den geheimen Umtrieben der Demagogen erzählte, klagten die Liberalen über den Anbruch der Reaktion. –

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Trotz dieser Reibungen innerhalb der Regierung ging die unscheinbare und doch so folgenreiche Arbeit der Neuordnung der Verwaltung stetig und sicher vorwärts. Sobald sich der Umfang der neugewonnenen Landschaften einigermaßen übersehen ließ, genehmigte der König, noch in Wien, am 30. April 1815 die Verordnung über die verbesserte Einrichtung der Provinzialbehörden, welche das Staatsgebiet in zehn Provinzen und achtundzwanzig Regierungsbezirke einteilte. Zwei dieser Provinzen, Niederrhein und Westpreußen, wurden später mit den Nachbarprovinzen Jülich-Cleve-Berg und Ostpreußen vereinigt: die sechs andern, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Posen, Sachsen, Westfalen, bestehen noch heute unverändert. Es war das Werk des Königs, daß die im Jahre 1810 durch Hardenberg aufgehobenen Ämter der Oberpräsidenten wiederhergestellt wurden. Friedrich Wilhelm wünschte, in großen, lebensfähigen Provinzen die Eigenart der Stämme und Landschaften sich frei entfalten zu lassen; er wollte, daß die bedachtsame Unparteilichkeit der kollegialischen Regierungen an der Tatkraft und dem persönlichen Ansehen der vorgesetzten Einzelbeamten ihre Ergänzung fände und die Verwaltung dergestalt die Vorzüge des kollegialischen und des bureaukratischen Systems vereinigte. Zugleich hegte er jetzt schon die Absicht, neben jeden Oberpräsidenten einen Kommandierenden General zu stellen und also, nach dem Vorbilde Österreichs und Rußlands, die militärische Einteilung des Landes der Zivilverwaltung anzupassen. Den Vorschlag Bülows, die Regierungskollegien durch Präfekten zu ersetzen, lehnte der König rundweg ab und verwarf auch den Plan, ihnen selbständige Finanzkollegien an die Seite zu stellen. Sie behielten ihre kollegialische Form, zerfielen aber fortan in zwei Abteilungen, deren eine unter der Aufsicht des Ministers des Innern die Hoheitssachen, die Polizei und das Gemeindewesen bearbeitete, während die zweite, dem Finanzminister untergeordnet, das Finanzwesen und die Gewerbeangelegenheiten übernahm, so daß jeder Minister, soweit möglich, seine eigenen, von ihm allein abhängigen Organe erhielt.

Bei der Abgrenzung der neuen Verwaltungsbezirke verfuhr die Regierung mit höchster Schonung, mit jener Pietät für das historisch Gegebene, die von alters her im Charakter der preußischen Staatskunst lag. Sobald ein Dorf aus seinem alten Kreisverbande ausgeschieden werden sollte, mußten zwei Ministerien ihr Gutachten abgeben; der König selbst entschied und, wo irgend möglich, rücksichtsvoll nach dem Wunsche der Einwohner. Gleichwohl ließ sich die Störung mancher altgewohnten Verhältnisse nicht vermeiden, da die neuerworbenen Länderfetzen untereinander und mit den alten Gebietsteilen in krausem Gemenge lagen. Keine von den alten Provinzen konnte ihre alten Grenzen unverändert behalten. Sofort begann denn ein allgemeines Sturmlaufen gegen die Regierung. Die ungeheure Macht des Partikularismus, in Preußen um nichts schwächer als in den kleinen deutschen Staaten, erhob sich aufgescheucht; die tausend und tausend zähen Interessen des örtlichen Kleinlebens, an denen der Sturm einer ungeheuern Zeit unbemerkt vorübergerauscht war, riefen um Hilfe. Aus unzähligen Eingaben erklang überall dieselbe starr konservative Gesinnung, überall derselbe Jammerruf: »Wir wollen uns nicht trennen von unsern Brüdern, die mit uns Freud' und Leid in schwerer Zeit geteilt.« Als man den Sitz der Kreisbehörde des Freystädter Kreises nach Neusalz verlegen wollte, da häuften sich die Petitionen, eine Gesandtschaft drang bis zum Könige; der alte Kalckreuth schrieb an Hardenberg, er müsse zugrunde gehen, wenn die Behörde nicht mehr in der Nachbarschaft seines Gutes hause, die Strolche würden ihm den Kohl und die Kartoffeln von den Feldern stehlen; der passive Widerstand war unüberwindlich. Die Monarchie erfuhr in hundert Fällen, was sie späterhin bei allen Reformen der Kommunalverwaltung abermals erfahren sollte, daß es in Deutschland ungleich leichter ist, zwei Staaten zu verschmelzen als zwei Kreise oder Gemeinden.

Überall, im Volke wie auf den Thronen, überschätzte man noch unendlich den Gegensatz der Landschaften und Stämme, wenn sogar die königlichen Beamten in Pommern sich nur bis zu der bescheidenen Hoffnung verstiegen, es werde im Verlaufe langer Jahre die allmähliche »Annäherung zwischen den beiden Nationen«, den schwedischen Pommern und den Altpommern, möglich werden; wenn selbst Sack in seinen Verwaltungsberichten versicherte, der Jülicher, der Aachener, der Kölner und der Moselländer wichen in ihrem Charakter dermaßen voneinander ab, »als ob es ganz verschiedene Nationen wären«: so zeigte sich vollends im Volke die nachbarliche Abneigung oft bis zur leidenschaftlichen Gehässigkeit gesteigert.

Alle altpreußischen Landesteile betrachteten es als eine Schande, wenn man sie den neuen Provinzen einfügen wollte. Als die Regierung den Plan faßte, die Niederlausitz samt der altbrandenburgischen Herrschaft Beeskow der Provinz Sachsen zuzuteilen, da wendeten sich die Stände des Beeslow-Storkower Kreises an den König und klagten, ganz so laut und stürmisch, wie sie einst unter Marwitz' Führung gegen Hardenbergs Agrargesetze geeifert hatten: »Wir fangen mit demjenigen an, was uns das Heiligste und wichtigste sein muß, von Ew. Majestät Beamten aber ganz unbeachtet gelassen, vielleicht als ein leeres Vorurteil angesehen wird, weil sie nicht gewohnt sind, die Gesinnungen der Völker zu beachten: Wir sollen aufhören Brandenburger und Preußen zu sein! Sollen wir Brandenburger bleiben und unsere Volkstümlichkeit erhalten? Dann wird es uns auf eine ähnliche Weise ergehen, wie es einst erging und noch ergeht dem Überrest des wendischen Volks in unserer Nachbarschaft, das in einem beständigen Mißtrauen, in einer beständigen Absonderung von seinen Nachbarn und in einer beständigen Anfeindung, seitens letzterer, seine Existenz noch jetzt fortschleppt. Sollen wir aber den sächsischen Volkscharakter annehmen? Das werden wir nicht können, nicht weil wir ihn für unwürdig anerkennen, sondern weil wir einmal Brandenburger sind!« Da auch die Stände des wiedergewonnenen Kottbuser Landes sich ebenso ungestüm gegen jede Gemeinschaft mit den Sachsen verwahrten, so gab der Staatskanzler nach und ließ die Grenze der Provinz Brandenburg weiter nach Süden verlegen. Minder glücklich fuhren die Altmärker. Auch sie verlangten ihre Wiedervereinigung mit der Kurmark als ein unbestreitbares Recht. Die Regierung aber beharrte bei dem Entschlusse, die Wiege des brandenburgischen Staates der Provinz Sachsen einzuverleiben; denn die Landschaft war durch ihre Lage auf Magdeburg angewiesen und hatte seit der westfälischen Herrschaft nichts mehr gemein mit der für die Kurmark so wichtigen Schuldenverwaltung, auch ihr Kommunalwesen stimmte nicht mehr zu dem brandenburgischen Brauche.

Im Herzogtum Preußen war noch unvergessen, daß einst die Städte des Weichseltals zuerst das Banner des Aufruhrs gegen den Deutschen Orden erhoben und den Polen ins Land gerufen hatten; das tapfere Volk war gewohnt, auf die westpreußischen Nachbarn wie auf Verräter herabzusehen und fühlte sich schwer gekränkt, als einige Striche Ostpreußens der Weichselprovinz zugewiesen wurden. Durch flehentliche Bitten beim Könige erlangten mindestens die Kreise Mohrungen und Neidenburg, daß sie bei Ostpreußen verblieben. Dagegen verlangte eine Petition des polnischen Adels in Michelau und dem Kulmerlande, daß dies alte Stammland der deutschen Ordensmacht zum Großherzogtum Posen geschlagen würde. Die treuen deutschen Städte aber widersprachen lebhaft, und die Regierung wies den verdächtigen Vorschlag ab. Die Neuvorpommern steiften sich auf ihre »Rechte, Privilegien und Freiheiten«, welche der König in den Verträgen mit Schweden und Dänemark aufrechtzuhalten versprochen hatte; sie verstanden darunter, nach deutscher Weise, kurzweg alle bestehenden Institutionen, das schwedische Zollwesen und die alte Münze so gut wie das alte Beamtentum, und verteidigten ihre Unabhängigkeit so hartnäckig, daß der Staatskanzler erst im Jahre 1818 wagte, den kleinen Regierungsbezirk Stralsund mit der Provinz Pommern zu vereinigen. Darauf beschwerten sich die Deputierten der Kreise und Städte bei dem König bitter über die Verletzung ihrer Privilegien; sie erklärten die schwedische Gouvernements-Kanzleiordnung von 1669 für unantastbar und verstummten erst, als der König ihnen nachdrücklich erwidern ließ, keine Provinz dürfe unter dem Vorwand besonderer Gerechtsame eine Ausnahme von der allgemeinen Verwaltungsordnung des Staates für sich verlangen. In den westlichen Provinzen stieß die Einführung der neuen Verwaltungsbezirke auf geringeren Widerstand, da der Sondergeist der Städte und der Landschaften hier schon längst durch die harte Faust des Napoleonischen Beamtentums gebeugt war; doch ward auch hier um die Spitze der Behörden leidenschaftlich gekämpft, zuweilen auch versucht, längst vergessene, altständische Ansprüche aus dem Staube der Jahrhunderte hervorzuholen. Die Grafschaft Werden wollte nicht von der Grafschaft Mark getrennt werden; die Stadt Herford erklärte dem Staatskanzler in einer pomphaften Zuschrift: sie könne und werde keinem Kreise beitreten, sie besitze ein Recht auf »fernere Selbständigkeit und Immedialität« – nur unter diesem Vorbehalte habe Herford einst dem Großen Kurfürsten gehuldigt.

Die weitaus größten Schwierigkeiten bot doch die Neuordnung der vormals sächsischen Gebiete, welche ohnehin der neuen Landesherrschaft anfangs fast ebenso feindselig wie die Polen gegenüberstanden. Alles wehklagte über den Untergang der sächsischen Nation, in Naumburg riß der Pöbel die schwarzen Adler in den Kot, selbst die Ruhigen bezeichneten sich wehmütig als Mußpreußen – ein Ausdruck, der in manchen Landstrichen noch viele Jahre im Schwange blieb. Solange die Erwerbung des gesamten Königreichs Sachsen in Aussicht stand, hatte Hardenberg nur an eine Personalunion zu denken gewagt. Jetzt, da man sich mit der Hälfte des Landes begnügen mußte, ergab sich sofort, daß diese Trümmer nicht einmal in einer Provinz zusammenbleiben konnten. Kaum die Anfänge der Staatseinheit, gleichmäßiger moderner Staatsordnung waren durch das schläfrige, altständische Regiment Kursachsens geschaffen; die Lande, die man das Herzogtum Sachsen nannte, bestanden in Wahrheit aus sieben lose verbundenen Territorien: aus den Markgrafschaften Ober- und Niederlausitz, den beiden Stiftern Merseburg und Naumburg, dem Fürstentum Querfurt, der Grafschaft Henneberg und einem Stück der sächsischen Erblande. Trotzdem baten die Vertreter des Adels, als im Herbst 1815 eine sächsische Deputation in Berlin erschien, »um Erhaltung der Integrität und Nationalität des Herzogtums Sachsen«; andere, darunter die Bürgermeister, verwahrten sich dawider und erklärten, sie hegten volles Zutrauen zu der bürgerfreundlichen Regierung Preußens. Zur selben Zeit sprachen die Niederlausitzer Stände für die Erhaltung ihrer Privilegien; die Stände der Oberlausitz aber verlangten, »daß die Provinz Lausitz mit keinem andern Teile der Monarchie verbunden werde«: die beiden Lausitzen sollten ein selbständiges Gesamtreich bilden mit der Hauptstadt Görlitz.

Wie war es möglich, allen solchen partikularistischen Begehren, die einander ins Gesicht schlugen, gerecht zu werden? Zudem lagen diese Landschaften weithin zerstreut von Görlitz bis Langensalza, abgetrennt von ihrem natürlichen Mittelpunkte, dem Meißnerlande, das bei Sachsen geblieben war. Die Regierung beschloß daher nach längerem Schwanken, die weit nach Osten abgelegene Niederlausitz mit Brandenburg, die Oberlausitz mit Schlesien zu verbinden und vereinigte die übrigen Stücke des Herzogtums Sachsen mit der Altmark, dem Herzogtum Magdeburg und dem kurmainzischen Eichsfelde zu einer neuen Provinz. So kamen die vormals sächsischen Landesteile an drei Provinzen und sechs Regierungsbezirke. Was Wunder, daß sie laut klagten und den ganzen Schmerz der Teilung ihres Heimatlandes noch einmal zu erleben glaubten. Die Bitten und Beschwerden währten noch lange fort. Der dicht bei Potsdam gelegene sächsische Amtsbezirk Belzig verlangte stürmisch, beim Wittenberger Kreise zu bleiben; sämtliche Grundbesitzer des Eichsfeldes forderten als ein verbrieftes Recht, daß ein eichsfeldisches Oberlandesgericht in Heiligenstadt gegründet werde. Noch drei Jahre später sprach einer der ersten Grundbesitzer des Landes, Graf Schulenburg, gegen den Minister Klewitz die Erwartung aus, daß die altsächsischen Gebiete sämtlich zu einer Provinz vereinigt würden, sonst werde »diese Wunde ewig bluten«; und bis zum heutigen Tage fühlt sich die Stadt Görlitz als eine oberlausitzische, nicht als eine schlesische Stadt. In der Tat war die Provinz Sachsen der einzige, völlig künstliche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken, während bei der Bildung aller anderen Provinzen umsichtige Schonung der Interessen und Erinnerungen waltete und jede von ihnen einen ausgeprägten Stammescharakter zeigte, wurde hier, Dank der unglücklichen Halbheit der Wiener Kongreßbeschlüsse, manches althistorische Band gewaltsam zerrissen, thüringische, ober- und niedersächsische Stammesart willkürlich zusammengezwängt. Und doch ward auch hier durch die ausdauernde Geduld, die Pflichttreue und Gerechtigkeit des Beamtentums die Wildnis allmählich gerodet, die feindselige Bevölkerung zu einem gesunden Gemeingeist erzogen. Es war die Idee der praktischen deutschen Einheit, die in einem täglich und stündlich erneuertem Kampfe sich durchsetzte gegen die Trümmer des Partikularismus. –

Sobald die Verwaltung der Provinzen sich etwas befestigt hatte, nahm Hardenberg die so lange unterbrochene Arbeit der Gesetzgebung wieder auf. Durch die Verordnung vom 20. März 1817 wurde die seit dem Jahre 1808 wiederholt verheißene höchste beratende Behörde der Monarchie, der Staatsrat, endlich eingerichtet, allerdings mit geringeren Befugnissen, als Stein ihr einst zugedacht hatte. Der Beratung des Staatsrats unterlagen alle Gesetzentwürfe sowie die allgemeinen Verwaltungsgrundsätze, desgleichen die Streitigkeiten über den Wirkungskreis der Ministerien, die Entsetzung der Beamten und alle die Beschwerden der Untertanen, welche der König ihm zuwies, so daß die leicht zu mißbrauchende Macht der neuen Fachminister jetzt eine wirksame Schranke fand. Den Vorsitz übernahm der König selbst oder der Staatskanzler, die formelle Leitung der Geschäfte der neue Minister-Staatssekretär von Klewitz. Mitglieder waren: die königlichen Prinzen, die Minister und die Chefs der andern selbständigen Zentralbehörden, die Feldmarschälle, die Kommandierenden Generale und die Oberpräsidenten, endlich vierunddreißig durch das Vertrauen des Königs berufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienstes – die besten Kräfte des Beamtentums, sehr wenige darunter, die nicht irgendwie über die Mittelmäßigkeit herausragten. Von den namhaften Staatsmännern hatte man nur zwei übergangen, deren Schroffheit dem Staatskanzler bedrohlich schien: Stein und den hochkonservativen alten Minister Voß-Buch. Die beiden Kirchen waren durch die Bischöfe Sack und Spiegel, die Wissenschaft durch Savigny vertreten. So lebte der alte Geheime Staatsrat, der seit dem Kurfürsten Joachim Friedrich bis zu den Tagen Steins, zuletzt nur noch als ein Schatten bestanden hatte, jetzt wieder auf, in neuen Formen, welche den gesetzlichen Gang der Verwaltung sicherten, ohne ihre rasche Schlagkraft zu lähmen. Dem neuen Staatsrate verdankte Preußen, daß die Gesetze der letzten Jahre Friedrich Wilhilms III. gründlicher, brauchbarer, gediegener ausfielen als die zuweilen überhasteten Arbeiten der großen Reformperiode und doch, trotz der reiflichen Beratung, nicht wie späterhin die Gesetze der parlamentarischen Zeit den widerspruchsvollen Charakter mühseliger Parteikompromisse trugen. Es war die letzte glänzende Vertretung der alten absoluten Monarchie, eine Vereinigung von Talent, Sachkenntnis und unerschrockenem Freimut, wie sie außer England kein anderer Staat jener Tage aufweisen konnte, eine Körperschaft, deren Wirksamkeit allein schon genügte, alle die gehässigen Urteile über den preußischen Staat, die jetzt wieder in den deutschen Kleinstaaten umhergetragen wurden, zu widerlegen. Aber sie tagte geheim, in Preußen selbst wußte das Volk kaum etwas von ihrem Dasein.

Am 30. März 1817 eröffnete Hardenberg die Sitzungen des Staatsrats mit einer Rede, die noch einmal den zuversichtlichen Ton früherer Jahre anschlug. Er sagte: Die Aufgabe sei, »das Bestandene in die gegenwärtigen Verhältnisse des Staats, in die Bildung des Volks und in die Forderungen der Zeit verständig einzufügen. Der preußische Staat – so schloß er – muß der Welt beweisen, daß wahre Freiheit und gesetzliche Ordnung, daß Gleichheit vor dem Gesetze und persönliche Sicherheit, daß Wohlstand des Einzelnen sowie des Ganzen, daß Wissenschaft und Kunst, daß endlich, wenn's unvermeidlich ist, Tapferkeit und Ausdauer im Kampfe fürs Vaterland am besten und sichersten gedeihen unter einem gerechten Monarchen.« Darauf wurden die neuen Steuergesetzentwürfe des Finanzministers einer Kommission übergeben.

Währenddem besprachen sich die im Staatsrate versammelten Oberpräsidenten vertraulich über die Ereignisse der neuen Verwaltungsordnung. Das Werk Steins, die Einheit der obersten Verwaltung, galt noch keineswegs allgemein als eine unwiderrufliche Tatsache; die rechte Grenze zwischen den unveräußerlichen Rechten der Staatsgewalt und dem Übermaße der zentrifugalen Kräfte war so schwer zu finden, daß im Schoße der Regierung selber noch lebhaft darüber gestritten wurde. Vor kurzem erst hatte der Staatssekretär Klewitz, ein wohlmeinender, in der Provinzialverwaltung seiner magdeburgischen Heimat gründlich erfahrener Beamter der alten Schule, dem Staatskanzler im besten Glauben einen ungeheuren Rückschritt, die Wiederherstellung der Provinzialminister vorgeschlagen: eine straffere Zentralisation ertrage der so bunt zusammengesetzte Staat nicht, und wie leicht könne die Macht der neuen Fachminister in einen gefährlichen Despotismus ausarten! Der Ruf nach Herstellung der Provinzialministerien ward bald ein Losungswort für den Partikularismus der altständischen Adelspartei und fand auch Anklang bei einem Teile der Oberpräsidenten. Diese hohen Beamten fühlten sich allesamt unbehaglich in ihrer schwierigen, noch nirgends klar begrenzten Mittelstellung zwischen den Ministerien und den Bezirksregierungen – stolz auf ihre bewährte Kraft standen sie ihren Vorgesetzten mit jener trotzigen Amtseifersucht gegenüber, die dem preußischen Beamtentum von jeher eigen war, und da sie in ihren Provinzen fast nur Klagen über die ungewohnten neuen Verhältnisse vernommen hatten, so überboten sie einander in düsteren Berichten, sie bestärkten sich wechselseitig in ihrem Mißmut und gerieten allmählich unter die Leitung Schöns, des Mannes, in dem sich die ganze unfruchtbare Verdrießlichkeit dieser Übergangstage verkörperte. In den ersten Zeiten der Hardenbergischen Verwaltung hatte Schön, gleich Sack und vielen andern tüchtigen Beamten, zur Einführung des Präfektensystems geraten; seit er selbst Oberpräsident von Westpreußen geworden, empfahl er ebenso lebhaft eine fast unbeschränkte Selbständigkeit der Provinzialbehörden. Welche Lebensstellung hätte auch dem ewig Unbefriedigten je genügen können? Die Abhängigkeit von den Ministern fiel seinem überspannten Selbstgefühle um so lästiger, da er sich bereits ein Idealbild von der Geschichte der letzten Jahre zurecht gelegt hatte, in dessen Vordergrunde er selber inmitten seiner altpreußischen Freunde glänzte. Eine unruhige Einbildungskraft verband sich in seinem Geiste seltsam mit dialektischem Scharfsinn, wenn er erzählte – oft viele Stunden lang mit unaufhaltsamer Lebendigkeit und starker Leidenschaft – dann überkam die Zuhörer schnell das Gefühl, daß die Phantasie mit ihm durchging: durch ihn waren dem ideenlosen Stein die leitenden Gedanken des gesamten Reformwerks geschenkt worden, während er in Wahrheit nur an einem einzigen jener grundlegenden Gesetze, an dem Edikte über die Aufhebung der Erbuntertänigkeit, wirksam teilgenommen hatte, er allein hatte im Frühjahr 1813 die Provinz Preußen vor Steins moskowitischen Eroberungsplänen gerettet; durch seine Freunde, die Führer des Königsberger Landtags, war der große Liniensoldat Scharnhorst wider Willen zur Bildung der Landwehr genötigt worden. Solche Märchen wiederholte er beharrlich in Wort und Schrift, bis er endlich selbst daran glaubte, er fühlte kaum noch, wie schwer er sich an dem Ruhm größerer Männer versündigte, und bekannte sich, derweil er in eitlem Selbstlob schwelgte, ganz unbefangen zu dem Wahlspruch: »Tue das Gute und wirf es ins Meer; sieht es der Fisch nicht, sieht es der Herr!« Geistreich, beredt, vielseitig gebildet, ein Schüler Kants und Freund von Fichte und Niebuhr, unterhielt er mit der gelehrten Welt einen regen Verkehr, so daß sein Name auch draußen in den Kleinstaaten, wo man sich sonst um Preußens Männer und Dinge wenig kümmerte, überall mit Achtung genannt wurde, und blieb dabei doch ein Mann der Geschäfte, ein gründlicher Kenner des Landbaus und der Gewerbe, ein tatkräftiger Beamter, der die gute Schule des trefflichen alten Provinzialministers von Schrötter nicht verleugnete und, wenn es galt, rücksichtslos, ja despotisch durchgriff. Fast seine gesamte Dienstzeit hatte er in der Verwaltung seiner altpreußischen Heimat zugebracht, kein Bauernhof der Salzburger Exulanten in Litauen und keine Fischerhütte auf den Dünen der Kurischen Nehrung war ihm unbekannt. So, mit dem zweifachen Stolze des Kantianers und des gewiegten Praktikers schaute er verächtlich auf die staubige Weisheit des grünen Tisches nieder, und da er die preußischen Staatsmänner sämtlich, Stein so gut wie Wittgenstein, auf der Wage seines kategorischen Imperativs allzu leicht befand, so überschüttete er sie alle, sehr wenige ausgenommen, mit der ätzenden Lauge eines grausamen Tadels, der zu Kants menschenfreundlicher Weisheit wenig stimmte. Männer tuen uns not, so wiederholte er beständig, die von der Macht der Ideen ergriffen sind, Männer, die vor dem Volke stehen und mit ihm leben! Die religiöse Erregung der Kriegsjahre ließ seinen durchaus kritischen Geist ebenso kalt wie die vaterländische Schwärmerei der Teutonen, denn in der »Nationalität« wollte er niemals mehr sehen als eine blinde Naturgewalt, die von der »Idee« des Staates gebändigt werden müsse.

Sein Programm hatte er schon vor Jahren in dem sogenannten Politischen Testamente Steins niedergelegt. Diese bisher nur einigen hohen Beamten bekannte Denkschrift wurde eben jetzt (1817) von unbekannter Hand, schwerlich ohne Vorwissen des Verfassers, im Weimarischen Oppositionsblatte veröffentlicht und fand den lauten Beifall der süddeutschen Liberalen. Ein abgesagter Feind aller Adelsvorrechte, hielt Schön für unzweifelhaft, daß die Verheißungen jenes Testaments – Volksvertretung für alle aktiven Staatsbürger, Aufhebung der gutsherrlichen Polizei und der Patrimonialgerichte – den Wünschen der gesamten Nation entsprächen, und schloß seine heftigen Ausfälle gegen die Menschen, »die das Volk in den Maschinendienst vor dem Jahre 1806 zurückzwingen wollen«, gern mit dem Ausruf: Vox populi, vox Dei. Auch sein fanatischer Haß gegen Rußland kam seinem Rufe in der liberalen Welt zu statten, wie oft wünschte er sich, in seinen Briefen an Hardenberg, einen fröhlichen Krieg wider diese Barbaren, »die auf der untersten Stufe der Entwicklung, nur bei den Prolegomenen stehen«; als er dem Staatskanzler einst das Gerücht von einem Mordanschlag gegen den Zaren meldete, sprach er triumphierend seine Freude aus, »daß dieses Volk sich selbst so tief lästert und von sich Dinge verbreitet, die die höchste Schande jedes Volks ausdrücken. Gott sei gelobt!« Bei seinen altpreußischen Landsleuten stand er in hohem Ansehen, obwohl seine Schroffheit nirgends Liebe erweckte; der rationalistische Zug seines Geistes entsprach der Gesinnung, die in der Stadt der reinen Vernunft seit langem vorherrschte, und alle wußten, wie glühend er seine Heimat liebte, wie einsichtig und unerschrocken er sich aller ihrer Interessen vor dem Throne annahm. Das Beispiel seiner absprechenden Tadelsucht wirkte verderblich auf das ohnehin zu scharfem Urteil geneigte Volk; durch Schöns langjährige Verwaltung wurde die Übermacht der extremen Partei in unserer Ostmark zuerst begründet. In Berlin spottete man insgeheim über seinen unermeßlichen Dünkel und erzählte sich lächelnd, wie er einmal, unmittelbar vor der Heimreise, eine Einladung Hardenbergs mit den Worten ausgeschlagen hatte: »Meine Provinz kann meiner nicht eine Stunde länger entbehren«; doch mochte niemand gern dem streitbaren Manne mit den strengen, strafenden Augen offen entgegentreten, Witzleben, Klewitz, Vincke schätzten ihn hoch – auch der König nahm von ihm manches herbe Wort hin, da er seine Ergebenheit kannte.

Als Schön aus den Verhandlungen des Staatsrats die Uneinigkeit der Minister kennenlernte, hielt er die Lage des Staates alsbald für ebenso verzweifelt, wie sie vor der Schlacht von Jena gewesen, und riet dem Staatskanzler dringend zur Bildung eines neuen Ministeriums, das nur aus Gesinnungsgenossen bestände und, gleich dem englischen Kabinett, durch »die Achtung des Volks« getragen würde: dies England blieb ihm nun einmal der liberale Musterstaat, obgleich dem Hochtory-Kabinett jener Tage wahrlich nichts gleichgültiger war als die Achtung des Volks. Um seinen Vorschlägen Nachdruck zu geben, überreichte Schön sodann den versammelten Oberpräsidenten den Entwurf einer gemeinsamen Beschwerdeschrift, die den Monarchen über »den bekümmerten Zustand der Verwaltung« aufklären sollte. Dies sonderbare, an drastischen Wendungen überreiche Schriftstück schilderte mit grellen Farben, Wahres und Falsches willkürlich vermischend: wie der so bunt zusammengesetzte Staat allein durch den Geist zusammengehalten werden könne, und dieser Geist jetzt unterdrückt werde; die Polizei bekunde sich als Druck, die allgemeine Wehrpflicht arte in eine Last des Landes aus, die Justiz sei nur noch eine leidende Maschine in der Hand des Ministers, für Kirche und Schule geschehe gar nichts. Daran schlossen sich scharfe Anklagen wider die eigenmächtige und nachlässige Amtsführung des Finanzministers und wohlberechtigte Beschwerden über »das ungebundene Ziehen aller Geschäfte der Provinzialverwaltung, in französischer Art, nach der Mitte«. So mächtig war die grämliche Verstimmung der Zeit, daß sieben von den zehn Oberpräsidenten sich entschlossen, dies lange Register unbestimmter und zum Teil grundloser Klagen zu unterzeichnen (30. Juni). Nur Zerboni, ein persönlicher Freund Hardenbergs, und der hochkonservative Hendebreck verweigerten die Unterschrift; der Oberpräsident von Sachsen war als Bruder des Finanzministers von vornherein aus dem Spiel geblieben.

Der Staatskanzler nahm die Opposition der höchsten Provinzialbeamten zuerst sehr unwillig auf und nannte im vertrauten Kreise ihr Unterfangen geradezu eine Verschwörung. Doch überwand er sich bald, erkannte einige der Beschwerden als berechtigt an und forderte für andere genaueren Beweis, worauf die Klagenden selber mehrere ihrer Vorwürfe zurücknehmen mußten. Auch der König begnügte sich mit einem milden Tadel gegen die Übertreibungen der Denkschrift, dankte den Unterzeichnern für diesen neuen Beweis ihres Diensteifers und kündigte ihnen an, daß er den Klagen über die allzu straffe Zentralisation soeben abgeholfen habe. In der Tat erließ der Monarch, um den Wirkungskreis der Provinzialbehörden endlich klar abzugrenzen, am 23. Oktober 1817 die Instruktionen für die Oberpräsidenten und die Regierungen, zwei seit langem vorbereitete treffliche Gesetze, welche den Neubau der oberen Verwaltung zum Abschluß brachten und die Grundsätze des Verwaltungsrechts auf ein halbes Jahrhundert hinaus feststellten. Geheilt von seiner Vorliebe für die Napoleonische Verwaltung, kehrte Hardenberg jetzt zu den Gedanken Steins zurück. Das neue Verwaltungsrecht schloß sich eng, oft wörtlich an die Gesetzgebung des Jahres 1808 an. Die Oberpräsidenten sollten mindestens einmal jährlich die ganze Provinz bereisen, überall aus eigener Anschauung den Mängeln und Beschwerden abhelfen; sie erhielten ein so weites Gebiet selbständiger Tätigkeit angewiesen, daß Vincke in Westfalen, Merckel in Schlesien, Sack in Pommern bald fast wie Landesväter verehrt wurden und in dem gesamten öffentlichen Leben ihrer Provinzen die dauernden Spuren ihres Wirkens hinterlassen konnten. Als Hardenberg aber im Juni 1818 die hohen Verwaltungsbeamten der Provinzen zu freimütigem Gutachten über die Wirkung der neuen Instruktionen aufforderte, da gingen die Erwiderungen noch nach allen Richtungen der Windrose auseinander. Schön schalt nach seiner Weise über die bureaukratische Mißgeburt; er und Vincke sahen nur noch Rettung in der Wiederherstellung der Provinzialminister. Motz dagegen empfahl den Übergang zu einem gemäßigten Präfektursystem; die kollegialische Verwaltung passe nur für rein monarchische Staaten, Preußen aber stehe im Begriff, sich in einen konstitutionellen Staat zu verwandeln. Die Aufgabe, den künstlichen Staat durch eine Verwaltung, die doch nicht unfrei sein durfte, zusammenzuhalten, erschien dieser Generation bis zur Unlösbarkeit schwierig. Lange Jahre sollten noch vergehen, bis das Beamtentum selber anerkannte, daß der greise Staatskanzler noch einmal seinen sicheren politischen Blick bewährt und die feine Mittellinie zwischen dem bureaukratischen und dem Kollegialsystem glücklich getroffen hatte. –

Unterdessen ward in dem Ausschuß und im Plenum des Staatsrats ein Kampf durchgefochten, ernster, folgenreicher als manche vielbewunderte Parlamentsverhandlung jener Tage. Auch die Leidenschaft und der rednerische Reiz parlamentarischer Debatten fehlten ihm nicht; wie erstaunte Gneisenau, als er die kunstvolle und doch streng sachliche Beredsamkeit Humboldts, Maaßens, Eichhorns, Ferbers kennenlernte und das allgemeine Vorurteil der Zeit, das den schüchternen Deutschen die Gabe der freien Rede absprach, so schlagend widerlegt sah. Gleich nach dem Frieden hatte der König den Finanzminister aufgefordert, einen umfassenden Steuerreformplan vorzulegen; die neuen Untertanen, so schrieb er, sollen es fühlen, daß sie mir angehören. Sobald man der Aufgabe nähertrat, zeigte sich schnell, daß nur eine billigere Verteilung, nicht eine Erleichterung der Steuerlast möglich war. Der außerordentliche Aufwand des Staates für Kriegszwecke betrug, wie sich später herausstellte, 206 Millionen Taler für die Jahre 1806 bis 1815, in den nächsten vier Jahren kamen noch weitere 81 Millionen hinzu. Die Staatsschuld war schon im Jahre 1812 auf 132 Millionen gestiegen und seitdem durch den Befreiungskrieg und die 45 Millionen fremder Schulden, die man mit den neuen Provinzen übernehmen mußte, bis auf 217 Millionen (1818) angewachsen. Der Kredit lag so tief darnieder, daß Hardenberg sich im Jahre 1817 glücklich schätzen mußte, eine fünfprozentige Anleihe in England zum Kurse von kaum 72 abzuschließen; zur selben Zeit standen die vierprozentigen Staatsschuldscheine an der Berliner Börse auf 71 bis 73, ein Jahr darauf noch niedriger, bis auf 65. Und welch ein Wagnis, diesem erschöpften Volke, das nach deutscher Art fiskalischen Druck stets ungeduldiger trug als polizeilichen Zwang, jetzt inmitten der allgemeinen Verarmung neue Lasten aufzulegen. Der Kaufwert der großen Landgüter stand in den alten Provinzen kaum mehr halb so hoch als vor dem Jahre 1806, in einzelnen Landesteilen war er auf ein Viertel herabgesunken. Als der König im Juni 1816 den für die Kriegsjahre gewährten Indult endlich aufhob, mußte er gleichwohl den verschuldeten Grundbesitzern in den östlichen Provinzen noch bis zum Jahre 1819, in Altpreußen sogar bis 1822, einige außerordentliche Zahlungserleichterungen bewilligen.

Das Ärgste blieb doch, daß niemand die Lage des Staatshaushalts übersah. Die Massen der Rückstände, der Kriegsleistungen, der mannigfachen, mit den neuen Provinzen übernommenen Verpflichtungen entzogen sich noch jeder Berechnung; noch drei Jahre später lagen allein bei der Regierung des kleinen Bezirks Erfurt 2141 unbezahlte Rechnungen aus der Kriegszeit. Graf Bülow erklärte sich daher außerstande, dem Staatsrate eine ins einzelne gehende Veranschlagung zu übergeben und schätzte, ohne nähere Berechnung, das Defizit für das Jahr 1817 auf 1,9 Millionen Taler. Die an das peinlich genaue altpreußische Rechnungswesen gewöhnten Kommissionsmitglieder wollten der unwillkommenen Mitteilung keinen Glauben schenken; sie suchten den Grund des Defizits allein in Bülows Nachlässigkeit und stellten eine Gegenrechnung auf, welche einen Überschuß von reichlich 4 Millionen an ordentlichen und 2 Millionen an außerordentlichen Einnahmen ergab. Bei einem Budget von etwa 50 Millionen wichen also die Schätzungen der tüchtigsten Finanzmänner um volle 8 Millionen voneinander ab. Der in der Polemik immer maßlose Schön wollte sogar einen Überschuß von 21 Millionen nachweisen. Die Folge lehrte, daß Bülow, der nur von Schuckmann unterstützt wurde, die Lage richtiger beurteilt hatte als seine zuversichtlichen Gegner. Aber er vermochte seine Behauptungen nicht zu beweisen, und als nun der Referent der Kommission, Staatsrat Friese, den Staatshaushalt im einzelnen mit eindringender Sachkenntnis prüfte, da stellte sich in allen Zweigen der Finanzverwaltung eine arge Unordnung heraus, die mit den Wirren der Kriegsjahre allein nicht mehr entschuldigt werden konnte. Von Humboldt geführt, nahm die gesamte Kommission wie ein Mann gegen den Finanzminister Partei und überhäufte ihn mit Vorwürfen. Der wies die Anklagen in leidenschaftlicher Rede zurück, warf alle Schuld auf die unerschwinglichen Kosten des neuen Heerwesens und ließ in seinem Zorne auch einige scharfe Worte wider die verschwenderische Sorglosigkeit seines Vetters fallen. Seltsame Verschiebung der Parteien! Mit einem Male sah sich Hardenberg von seinem Liebling Bülow angegriffen, von seinem Nebenbuhler Humboldt verteidigt.

Der Kriegsminister nahm sofort den Handschuh auf. Er bemerkte mit Besorgnis, daß jener geheime Kampf des Zivilbeamtentums gegen die Armee, der in dem Jahrzehnt vor 1806 soviel Unheil angerichtet, jetzt, da die Waffen ruhten, von neuem zu entbrennen drohte; er wußte auch, daß sich Bülow bereits bei dem General Lingelsheim ein Gutachten über die Wiederherstellung der friderizianischen Heeresverfassung bestellt hatte. Um solchen Bestrebungen einen Riegel vorzuschieben und den Staatsrat ein für allemal über die staatswirtschaftlichen Vorzüge des neuen Heerwesens aufzuklären, verfaßte Boyen eine geistvolle Denkschrift »Darstellung der Grundsätze der alten und der gegenwärtigen preußischen Kriegsverfassung« (Mai 1817), die mit überzeugender Klarheit erwies, daß Preußen noch nie ein so starkes und zugleich so wohlfeiles Heer besessen hatte. Der Staat war doch allmählich ausgewachsen; mit jeder Vermehrung seines Gebiets verringerte sich die krampfhafte Überspannung seiner physischen Kräfte. Das Heer hatte unter Friedrich Wilhelm I. fünfmal, unter Friedrich dem Großen fast dreimal mehr gekostet als die gesamte übrige Verwaltung; jetzt zum ersten Male nahm der Zivildienst, allerdings mit Einschluß der kostspieligen Staatsschuldenverwaltung, die größere Hälfte der Staatseinnahmen in Anspruch. Boyen berechnete die Kosten des Heerwesens, etwas zu niedrig, auf 21 Millionen und zeigte, daß der Staat jetzt 238 000 Mann mehr ins Feld stellen könne als im Jahre 1806, und trotzdem in Friedenszeiten, wenn man die zahlreichen Naturalleistungen der alten Zeit zu Geld veranschlage, 2 Millionen Taler weniger für die Armee aufwende. Er schloß mit der energischen Erklärung: Die Stärke des Heeres könne nicht allein durch finanzielle Rücksichten bestimmt werden, sie ergebe sich aus der Weltstellung des Staates, aus der Macht und der Gesinnung seiner Nachbarn.

Auch der Staatskanzler fühlte sich durch Bülows Vorwürfe »gekränkt als Chef, Freund und naher Verwandter« und stellte den Ankläger ernstlich zur Rede. Da der erschreckte Finanzminister also seine letzte Stütze wanken sah, so lenkte er behutsam ein und weigerte sich, seine keineswegs grundlosen Klagen über Hardenbergs Nachlässigkeit bis vor den Thron zu bringen: »Eher möge der König seine Ungnade auf mich werfen, eher will ich alles in dieser Welt verlieren, als meine Seele mit Undank beladen und mit Ew. Durchlaucht in einen öffentlichen Streit gehen.« Aber das freundliche Verhältnis zwischen den beiden Vettern blieb gestört, Bülows Stellung ward täglich unhaltbarer.

Gleichzeitig führte der Staatsrat eine nicht minder stürmische Verhandlung über die Steuerreform. Von den zwei Gesetzentwürfen, welche der Finanzminister vorlegte, fand der eine, das Zollgesetz, fast auf allen Seiten Anerkennung, während der zweite, das Gesetz über die Besteuerung im Innern des Staates, sofort mit Unwillen aufgenommen wurde. Bülow dachte außer der Gewerbe- und Stempelsteuer auch die bestehenden Grundsteuern vorläufig, bis zur Einberufung der Provinzialstände, aufrechtzuhalten; die drückende alte Akzise hingegen, die sich nach Einführung der Gewerbefreiheit und des Zollgesetzes ohnehin nicht mehr halten ließ, wollte er beseitigen und an ihrer Stelle eine Mahl- und Fleischsteuer für Stadt und Land, ferner Steuern auf Tabak, Bier und Branntwein einführen. Seine Vorschläge entfernten sich nicht weit von dem friderizianischen Steuersysteme, das 70 Prozent des gesamten Abgabenertrags durch indirekte Steuern aufgebracht hatte. Sie verrieten die Hand eines gewandten Praktikers, der ohne eigene reformatorische Gedanken lediglich die Staatskassen in der gewohnten Weise zu füllen trachtete, und erschienen der Opposition, deren Führung wieder Humboldt übernahm, um so verdächtiger, da sie von einem Napoleonischen Minister herrührten und fast wörtlich mit den Ansichten übereinstimmten, welche Bülows früherer Amtsgenosse Malchus soeben in seiner Schrift über die westfälische Finanzverwaltung ausgesprochen hatte.

Unter den preußischen Beamten, die fast allesamt bei A. Smith und Kraus in die Schule gegangen waren, standen die indirekten Steuern des Bonapartismus in üblem Rufe: hatte doch Smith die Mahlsteuer kurzweg für die verderblichste aller Abgaben erklärt. Die Kommission griff daher die Konsumtionssteuern nachdrücklich an und tadelte vornehmlich, daß der Finanzminister nicht auch ein Gesetz über die direkten Abgaben vorgelegt habe; denn um eine gerechte Verteilung der Steuerlast zu finden, müsse zunächst die Ungleichheit der Grundsteuern beseitigt oder doch den einzelnen Provinzen angerechnet werden. Sie sprach damit nur aus, was die große Mehrzahl des Bürgertums wünschte. Die bunte Mannigfaltigkeit der Grundsteuern war eine alte Klage im Lande. An ihr zeigte sich auf das grellste, wie mühsam dieser Staat aus einem Gewirr selbständiger Territorien emporgewachsen war; je strenger seine Könige den Gedanken der Staatseinheit in der oberen Verwaltung durchgeführt hatten, um so nachsichtiger war auf dem flachen Lande das altständische Wesen geduldet worden. In der Monarchie bestanden 33 verschiedene, meist uralte Grundsteuerverfassungen, in der Provinz Sachsen allein acht, deren jede wieder mannigfache örtliche Verschiedenheiten und Privilegien aufwies. Ost- und Westpreußen zahlten auf der Geviertmeile 639 Taler Grundsteuer, die Rheinlande, allerdings auf weit wertvollerem Boden, 4969 Taler. Kein Wunder, daß die Rheinländer über die Steuerfreiheit des Ostens laut murrten und auch Schlesien, das durch Friedrich II. ein Kataster erhalten hatte, sich gegen die andern, nicht katastrierten, alten Provinzen benachteiligt glaubte. Und doch blieb eine Reform für jetzt noch unmöglich. Da die alte Grundsteuer im Verlaufe der Jahrhunderte den Charakter einer Rente angenommen hatte, so ließ sich die Ausgleichung nur nach Entschädigung der Befreiten durchführen. Und woher jetzt die Mittel dazu nehmen? Woher die technischen Kräfte zur Katastrierung des gesamten Landes? Und war es billig, den Landadel, der in den östlichen Provinzen noch fast allein die Kosten der gutsherrlichen Polizei, der Patrimonialgerichte und des Kirchenpatronats trug, mit neuen Lasten zu beschweren in einem Augenblick, da er, durch harte patriotische Opfer erschöpft, sich kaum noch im Besitz seiner Güter zu behaupten vermochte? Von allen diesen ernsten Bedenken wollte Humboldt nichts hören; er begnügte sich mit einer schonungslosen Kritik und schilderte die Ungleichheit der bestehenden Grundsteuern, die Gebrechen aller indirekten Abgaben nicht ohne doktrinäre Übertreibung.

Auch von partikularistischen Hintergedanken war die Opposition nicht frei. In Sachsen, Posen und am Rhein hoffte das Volk auf eine Quotisierung der Steuern, dergestalt, daß die Stände jeder Provinz ihren Anteil an dem Staatsbedarfe nach eigenem Ermessen aufbringen und verteilen sollten. Dieser ungeheuerliche Vorschlag, der die Monarchie in einen lockeren Staatenbund zu verwandeln drohte, ward von mehreren Oberpräsidenten befürwortet, am eifrigsten von dem wackeren Grafen Solms-Laubach in Jülich-Cleve-Berg. Indes erlangte er im Staatsrate nicht die Mehrheit, da Bülow lebhaft für die gefährdete Staatseinheit eintrat und Schuckmann in einer langen Denkschrift ausführte: Wenn der preußische Staat diese Lebensfrage dem Gutdünken von zehn Provinziallandtagen anheimgebe, so werde er bald in eine ähnliche Lage geraten, wie Frankreich in den Tagen Calonnes. Die Kommission wagte auch nicht, wie Humboldt vorschlug, geradezu die Mitwirkung der Landstände bei der Feststellung des neuen Steuersystems zu fordern. Sie fühlte, daß die Krone noch immer hoch über der politischen Einsicht des Volkes stand, und eine durchgreifende Steuerreform nur durch ein königliches Machtgebot gelingen konnte; zudem bestanden die verheißenen neuen Landtage noch gar nicht, und mit den alten Ständen von Neuvorpommern und Sachsen, die sich trotzig auf ihre verbriefte Steuerfreiheit beriefen, war jede Verhandlung aussichtslos. Daher wurde dem Kommissionsberichte nur die vieldeutige Schlußwendung hinzugefügt: Zur Beruhigung des Volkes scheine es notwendig, »den neuen Steuerplan mit den Maßregeln wegen der Stände in Zusammenhang zu setzen«. Am 20. Juni ging der Bericht an den Monarchen ab; er beantragte Annahme des Zollgesetzes und Vorlegung eines umfassenden neuen Planes für die gesamte innere Besteuerung.

Der König verhehlte der Kommission nicht, daß er nicht bloß scharfe Kritik, sondern bestimmte Gegenvorschläge erwartet habe; doch genehmigte er ihre Anträge und befahl den Oberpräsidenten, zunächst angesehene Einwohner aus ihren Provinzen zu berufen, damit die öffentliche Meinung sich über den Steuerplan äußern könne. Im August und September wurden die Notabelnversammlungen in allen zehn Provinzen abgehalten, und sie sprachen sich allesamt gegen die Mahl- und Fleischsteuer aus. Es fehlte nicht an stürmischen Auftritten. Die Notabeln des Großherzogtums Posen, neun polnische Edelleute und drei bürgerliche Deutsche, behaupteten mit sarmatischer Überschwenglichkeit: diese Steuer vernichte »die gänzliche Zivil- oder Menschenfreiheit; der Angriff auf solches Heiligtum löset alle Bande der menschlichen Gesellschaft auf«. Darauf versicherten sie dreist die grobe Unwahrheit, daß der Steuerertrag Posens zur Bereicherung der alten Provinzen verwendet werde: »Das Gewehr ist niedergelegt, die Hand gedrückt; soll denn das Herzogtum keinen Anteil an den Vorteilen des Friedens haben?« Die schlesischen Notabeln fügten ihrem Gutachten sogar eine bedeutsame Rechtsverwahrung hinzu. Sie erklärten, auf den Antrag des Grafen Dyhrn, daß sie nur ihre persönliche Meinung abgäben; die Mitwirkung bei dem neuen Steuergesetze müsse den künftigen Ständen vorbehalten bleiben. Es war ein Schatten kommender Ereignisse, ein erstes böses Anzeichen der staatsrechtlichen Verwirrung, welche durch das übereilte Verfassungsversprechen hervorgerufen wurde.

Bei alledem zeigte sich viel gesunder Menschenverstand und schließlich, obgleich jede Provinz ihre besonderen Beschwerden vorbrachte, doch eine überraschende Übereinstimmung. Die Notabeln fanden zuerst eine Antwort auf die schwierige Frage, was an die Stelle der verworfenen indirekten Steuern treten solle. Während der letzten Jahre hatte der Gedanke einer allgemeinen, in wenige große Klassen abgestuften Personensteuer in der Stille seinen Weg gemacht, ein Gedanke, der bereits in der ersten Zeit der Hardenbergischen Verwaltung von dem Finanzrat von Prittwitz-Quilitz, einem landeskundigen, angesehenen Landwirt, aufgebracht worden war. Er entsprach der herrschenden volkswirtschaftlichen Theorie wie dem allgemeinen Abscheu gegen das indirekte Steuersystem der Franzosen und schien leicht durchführbar, da die Masse des Volks noch seßhaft, unbeweglich in patriarchalischen Lebensverhältnissen verharrte. An eine Einkommensteuer wagte man noch nicht zu denken; sie war schon durch den vergötterten A. Smith, neuerdings auch durch F. von Raumer, als tyrannisch gebrandmarkt und vollends in Verruf gekommen, seit der Versuch ihrer Einführung in der bitteren Not des Jahres 1812 mit einem Mißerfolge geendet hatte. Im Staatsrate trat der gelehrte Statistiker J. G. Hoffmann zuerst nachdrücklich für die Klassensteuer ein und fand Anklang bei der Mehrzahl der Oberpräsidenten. Als nun die Notabeln ratlos nach einem Ersatze für die Mahl- und Fleischsteuer suchten, wurden sie von ihren Vorsitzenden auf diesen Ausweg hingewiesen. So geschah es, daß die Mehrheit der Notabelnversammlungen die Einführung einer abgestuften Personensteuer – einer »fixierten Konsumtionssteuer«, wie die Schlesier sich ausdrückten – bei dem Staatskanzler befürwortete. Auf diese Gutachten gestützt, entwarf dann Hoffmann (27. Oktober) eine große Denkschrift über die Klassensteuer und wies damit der preußischen Steuerpolitik einen neuen Weg, der freilich erst nach abermals zwei Jahren schwieriger Verhandlungen zögernd betreten wurde. Während alle andern Großmächte in verschiedenen Formen das System der überwiegenden indirekten Abgaben beibehielten, wendete sich Preußen mehr und mehr der Ausbildung seiner direkten Steuern zu. Die neue Steuerpolitik, welche sich hier ankündigte, war die Politik eines tief verarmten Staates, der das Geld nehmen mußte, wo er es fand, eines wohlwollenden Absolutismus, der zwar die Anfänge der Selbstverwaltung bereits geschaffen hatte, aber von den Geldbedürfnissen großer Städte noch keine klare Vorstellung besaß, einer friedfertigen Regierung, die auf lange Jahre ungestörter Ruhe rechnete und darum sich nicht scheute, den Notpfennig der Kriegszeiten, die direkten Steuern, schon im Frieden scharf anzugreifen.

Der lange Kampf im Staatsrate war, zu Schuckmanns Kummer, »den Horchern an der Tür mit den Schreiberklauen« nicht unbekannt geblieben. Die Berliner höhnten laut über den unglücklichen Finanzminister, der die Hälfte seiner Steuerpläne beseitigt, seine gesamte Amtsführung unbarmherzig bloßgestellt sah und durch die Schroffheit seines Auftretens, durch seine Ausfälle auf die neue Heeresverfassung den Unwillen der Opposition bis zum Hasse gesteigert hatte. Die Partei Humboldts verhehlte längst nicht mehr, daß nur die Entlassung Bülows ihr noch genügen konnte. In solchem Sinne schrieben Schön und Klewitz mehrmals an den Staatskanzler, Sack forderte mindestens die Beschränkung der Willkür des Finanzministers durch eine beigeordnete Kommission. Auch Schuckmann, der während des ganzen Streites auf Bülows Seite gestanden, ward in die Niederlage seines Genossen mit hineingerissen. Und da sich nun plötzlich die Aussicht auf einen vollständigen Ministerwechsel zu eröffnen schien, so richtete Schön, der Heißsporn der Opposition, einen leidenschaftlichen Angriff auch gegen Wittgenstein, der an den Verhandlungen des Staatsrates kaum teilgenommen hatte. Abermals maßlos übertreibend warf er dem Fürsten nicht bloß die schlechten Künste der geheimen Polizei vor, sondern auch den Fortbestand der im Jahre 1812 errichteten Gendarmerie, die sich überall gut bewährte: sie sei eine Waffe zur Bekriegung des Volks und gänzlich überflüssig neben der zahlreichen Armee.

Sobald Hardenberg einsah, daß ein Zugeständnis an den allgemeinen Unmut des hohen Beamtentums unvermeidlich war, suchte er zunächst seinen alten Gegner Humboldt zum Eintritt in die Regierung zu bewegen. Der aber erwiderte scharf (14. Juli): Mit Bülow und Schuckmann könne er niemals übereinstimmen, ja sich nicht einmal verständigen, »durch den einen würden die materiellen, durch den andern die moralischen Kräfte des Staates gefährdet«; nur Hardenberg selbst und Boyen besäßen noch das vertrauen des Volks, nur in der Kriegsverwaltung zeige sich noch Ernst, Ordnung, vaterländische Gesinnung; dem Ministerium fehle die innere Einheit, wie die Selbständigkeit dem Staatskanzler gegenüber. Noch dringender mahnte Boyen: »Der Zeitgeist fordert in den höheren Posten Männer des Vertrauens;« man darf nicht warten, bis die Nation selber die Entlassung Bülows verlangt; »eine solche Verwaltung, ein solcher Mann kann bei längerer Fortdauer nur dem Vaterlande namenloses Verderben bereiten.«

Hardenberg aber wollte weder auf die Rechte seines Staatskanzleramts verzichten, noch seinen Vetter und den bei Hofe unentbehrlichen Wittgenstein, dem er noch immer volles Vertrauen schenkte, kurzerhand preisgeben. Noch weniger wünschte der König eine durchgreifende Umgestaltung; »bei Veränderungen von Personen«, so äußerte er sich, »ist große Vorsicht nötig, man läuft Gefahr, ungerecht zu sein.« Im September erhielt Humboldt zu seiner Überraschung den Befehl, sich auf seinen Londoner Gesandtschaftsposten zu begeben. Am 3. November und 2. Dezember erfolgte sodann eine Neubildung des Ministeriums, welche allein die Departements des Krieges und der Polizei unberührt ließ und gleichwohl den Wünschen der Opposition nur halb entsprach. Bülow trat das Finanzwesen an Klewitz ab und behielt unter dem Titel eines Handelsministers nur noch die Leitung der Handelspolitik – eine Aufgabe, die seinem Talent und seinem Bildungsgange besser entsprach. Das unter Schuckmanns Verwaltung gänzlich vernachlässigte Unterrichtsdepartement wurde als Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten von dem Ministerium des Innern abgezweigt und unter Altensteins Leitung gestellt. Ebenso wurde von dem Justizministerium ein Ministerium für die Revision der Gesetze und die Justizorganisation der neuen Provinzen abgetrennt; an seine Spitze trat der Kanzler Beyme, der noch von den alten Zeiten her, da er Kabinettsrat gewesen, das Vertrauen des Königs besaß und jetzt allgemein für einen entschiedenen Liberalen galt. Um die Einheit des Willens bei der Reform des Staatshaushalts zu sichern, errichtete Hardenberg endlich noch eine Generalkontrolle zur Prüfung sämtlicher Staatsausgaben sowie ein Schatzministerium für den Schatz, die Schuld, die außerordentlichen Ausgaben und behielt sich die oberste Leitung beider Departements selber vor.

So war denn keiner der Minister gänzlich beseitigt. Die Männer, die einander mit den härtesten Vorwürfen überhäuft, verstanden sich allesamt zum Bleiben, weil der Staatskanzler doch ohne Rücksicht auf die Stimmenmehrheit selbständig zu entscheiden hatte. In der Staatsratskommission, welche die Reform des Steuersystems vollenden sollte, führten die beiden Gegner Bülow und Klewitz gemeinsam den Vorsitz. Der Zwiespalt in der Regierung ward eher verschärft als gemildert; namentlich die Zersplitterung des Finanzministeriums in drei gleichberechtigte Departements erwies sich sogleich als ein schwerer Mißgriff. Da die Kräfte des Staatskanzlers für dies Übermaß der Arbeit nicht ausreichten, so überließ er die Staatsschuldenverwaltung gänzlich seinem vertrauten Rother, einem sehr tüchtigen Finanzmanne, der sich durch sein rühriges Talent vom gelben Reiter zu den höchsten Staatsämtern emporgearbeitet hatte. In der Generalkontrolle aber herrschte bald unumschränkt der Direktor Geh. Rat von Ladenberg, ein Beamter der alten Schule von eisernem Fleiß und steifem Selbstgefühle, der die Steuerreform hartnäckig bekämpfte und zu dem alten Akzisesystem zurückstrebte. Deutscher Eigensinn und deutscher Pflichteifer hatten jederzeit heftige Reibungen zwischen den preußischen Behörden hervorgerufen. Jetzt vollends, da der natürliche Zusammenhang des Staatshaushaltes willkürlich zerrissen war, konnten erbitterte Händel nicht ausbleiben. Der Finanzminister Klewitz entbehrte des notwendigen Ansehens bei den andern Ministern, weil sie nicht von ihm die Bewilligung ihrer Ausgaben zu erwarten hatten, und sah sich darum außerstande, auch nur einen genauen Voranschlag für das gesamte Budget zu entwerfen. Übellaunig und mißtrauisch wie die Zeit war, schenkte die öffentliche Meinung jedem gehässigen Märchen Glauben, das über die geheimnisvolle Lage der Finanzen ausgesprengt wurde. –

Gleichwohl gelang unter dieser wunderlich zersplitterten Verwaltung der große Umschwung der preußischen Handelspolitik, die folgenreichste politische Tat der Epoche. Das Verdienst des neuen Finanzministers wurde nur in dem Kreise seiner vertrauten Räte ganz gewürdigt; der häßliche kleine Mann mit dem gutmütigen Philistergesicht wußte sich nicht recht zur Geltung zu bringen, diente dem jungen Kronprinzen oft zur Zielscheibe für seine ausgelassenen Witze. Eine konservative Natur, langsam im Urteil, nicht reich an eigenen Gedanken, verstand Klewitz doch die reformatorischen Ideen anderer besonnen und gründlich zu verarbeiten, und was er sich einmal angeeignet, das hielt er fest mit zäher Geduld und unerschütterlichem Gleichmut, wie er einst in Königsberg bei der Aufhebung der Erbuntertänigkeit freudig mitgewirkt hatte, so rettete er jetzt aus dem Schiffbruch der Bülowschen Entwürfe den wertvollsten Teil, das Zollgesetz, und führte die radikale Neuerung gelassen durch unter dem leidenschaftlichen Widerstande des In- und Auslandes.

In dem Sturm und Drang der großen Reformperiode war für die Umgestaltung des alten Akzisewesens wenig geschehen; man hatte sich begnügt, dem flachen Lande mehrere städtische Steuern aufzulegen und in Altpreußen die Einfuhr fremder Fabrikwaren gegen eine Akzise von 8 1/3 Prozent des Wertes zu gestatten. Daneben bestanden in den alten Provinzen noch 67 verschiedene Tarife, nahezu 3000 Warenklassen umfassend; außerdem die kursächsische Generalakzise im Herzogtum Sachsen, das schwedische Zollwesen in Neuvorpommern, in den Rheinlanden endlich seit Aufhebung der Napoleonischen Douanen ein schlechterdings anarchischer Zustand. Und diese unerträgliche Belästigung des Verkehrs gewährte doch, da eine geordnete Grenzbewachung noch fehlte, keinen Schutz gegen das Ausland. Auch in dem chaotischen Geldwesen zeigte sich die Abhängigkeit des verarmten Staates von den Fremden: in Posen und Pommern mußten 48, in den Provinzen links der Elbe 71 fremde Geldsorten amtlich anerkannt und tarifiert werden. Schon längst bemerkte der König mit Besorgnis, wie schwer der gesetzliche Sinn des Volkes durch die Fortdauer des überlebten Prohibitivsystems geschädigt wurde. Seit die bürgerlichen Gewerbe auf dem platten Lande sich ansiedelten, nahm der Schmuggel einen ungeheuren Aufschwung. Im Jahre 1815 versteuerte jeder Materialwarenladen der alten Provinzen täglich nur zwei Pfund Kaffee.

Auch die unhaltbaren Verhältnisse an der Ostgrenze mahnten zu rascher Tat. Sobald Preußen, Polen und Rußland im März 1816 zu Warschau wegen der Ausführung des Wiener Vertrags vom 3. Mai 1815 zu verhandeln begannen, stellte sich bald heraus, daß Hardenberg in Wien von dem Fürsten Czartoryski überlistet worden war. Die scheinbar so harmlosen Bestimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien Verkehr mit den Landeserzeugnissen aller vormals polnischen Landschaften legten dem preußischen Staate fast nur Pflichten auf, da sein Gebiet das Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchstäblich zu genügen, hätte Preußen seine polnischen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch eine Zollinie trennen müssen, während Rußland, dem Vertrage zuwider, seine alte Zollgrenze, die das polnische Litauen von Warschau abschied, unverändert ließ und auch Österreich sich keineswegs geneigt zeigte, seinen polnischen Kronlanden handelspolitische Selbständigkeit zuzugestehen. Die polnischen Unterhändler sahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel, um durch die Ansiedlung von Handelsagenten und Kommissionären ihre nationale Propaganda in Preußens polnische Gebiete hineinzutragen. Sie erdreisteten sich, der Krone Preußen geradezu die unbeschränkte Souveränität über Danzig zu bestreiten, und stellten so übermütige Forderungen, daß der König mit einer entschiedenen Ablehnung antwortete, als Zar Alexander nach seiner Gewohnheit versuchte, die Ansprüche der Polen durch einen zärtlichen Freundesbrief zu unterstützen. Der unerquickliche Verlauf dieser Verhandlungen zwang zu dem Entschlusse, die polnischen Landschaften den übrigen Provinzen des Ostens völlig gleichzustellen. Auf der andern Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgesetz ganz unmöglich war und Preußen mithin zunächst im eigenen Hause Ordnung schaffen mußte.

Im Jahre 1816 erfolgten die ersten vorbereitenden Schritte. Das Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Provinzen gleichmäßig eingeführt; dann sprach die Verordnung vom 11. Juni die Aufhebung der Wasser-, Binnen- und Provinzialzölle als Grundsatz aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenzzollsystems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das neue Zollgesetz beendigt. Sobald aber von den reformatorischen Absichten des Entwurfes einiges ruchbar ward, erscholl der Notschrei der geängsteten Produzenten weithin durch das Land. Leidenschaftliche Eingaben der Baumwoll- und Kattunfabrikanten aus Schlesien und Berlin, die doch allesamt unter der bestehenden Unordnung schwer litten, bestätigten die alte Wahrheit, daß die Selbstsucht der Menschen der schlimmste Feind ihres eigenen Interesses ist. Der Lärm ward so bedrohlich, daß der König für nötig hielt, zunächst eine Spezialkommission mit der Prüfung dieser Vorstellungen zu beauftragen. Hier errang die alte friderizianische Schule noch einmal die Oberhand. Der Vorsitzende, Oberpräsident von Heydebreck, betrachtete als höchste Aufgabe der Landespolitik »das Numeraire dem Lande zu conserviren«; die Mehrheit beschloß, der Krone die Wiederherstellung des Verbotsystems, wie es bis zum Jahre 1806 bestanden, anzuraten. Aber zugleich mit diesem Berichte ging auch ein geharnischtes Minderheitsgutachten ein, verfaßt von Staatsrat Kunth, dem Erzieher der Gebrüder Humboldt, einem selbstbewußten Vertreter des altpreußischen Beamtenstolzes, der das gute Recht der Bureaukratie oftmals gegen die aristokratische Geringschätzung seines Freundes Stein verteidigte. Mit den Zuständen des Fabrikwesens aus eigener Anschauung gründlich vertraut, lebte und webte er in den Gedanken der neuen Volkswirtschaftslehre. »Eigentum und Freiheit, darin liegt alles; es gibt nichts anderes« – so lautete sein Kernspruch. Als das ärgste Gebrechen der preußischen Industrie erschien ihm die erstaunlich mangelhafte Bildung der meisten Fabrikanten, eine schlimme Frucht des Übergewichts der gelehrten Klassen, welche nur durch den Einfluß des auswärtigen Wettbewerbs allmählich beseitigt werden konnte; waren doch selbst unter den ersten Fabrikherren Berlins viele, die kaum notdürftig ihren Namen zu schreiben vermochten. Kunths Gutachten fand im Staatsrate fast ungeteilte Zustimmung; es ließ sich nicht mehr verkennen, daß die Aufhebung der Handelsverbote nur die notwendige Ergänzung der Reformen von 1808 bildete. Als das Plenum des Staatsrats am 3. Juli über das Zollgesetz beriet, sprachen die politischen Gegner Gneisenau und Schuckmann einmütig für die Befreiung des Verkehrs. Oberpräsident Merckel und Geh. Rat Ferber, ein aus dem sächsischen Dienste herübergekommener trefflicher Nationalökonom, führten aus, daß dem Notstande des Gerwerbefleißes in Schlesien und Sachsen nur durch die Freiheit zu begegnen sei; und zuletzt stimmten von 56 Anwesenden nur drei gegen das Gesetz: Heydebreck, Ladenberg und Geh. Rat Beguelin. Am 1. August genehmigte der König von Karlsbad aus »das Prinzip der freien Einfuhr für alle Zukunft«. Nun folgten neue peinliche Verhandlungen, da es anfangs unmöglich schien, die neue Ordnung gleichzeitig in den beiden Hälften des Staatsgebiets einzuführen. Endlich, am 26. Mai 1818, kam das Zollgesetz für die gesamte Monarchie zustande.

Sein Verfasser war der Generaldirektor Karl Georg Maaßen, ein Beamter von umfassenden Kenntnissen, mit Leib und Seele in den Geschäften lebend, ein Mann, der hinter kindlich anspruchslosen Umgangsformen den kühnen Mut des Reformers, eine tiefe und freie Auffassung des sozialen Lebens verbarg. Aus Cleve gebürtig, hatte er zuerst als preußischer Beamter in seiner Heimat, dann eine Zeitlang im bergischen Staatsdienste die Großindustrie des Niederrheines, nachher bei der Potsdamer Regierung die Volkswirtschaft des Nordostens kennen und also die Theorien Adam Smiths, denen er von früh auf huldigte, durch vielseitige praktische Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim Entwerfen des Zollgesetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, sondern von drei Gesichtspunkten der praktischen Staatskunst. Die Aufgabe war: zunächst in der gesamten Monarchie durch Befreiung des inneren Verkehrs eine lebendige Gemeinschaft der Interessen zu begründen, sodann dem Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimischen Gewerbefleiß einen mächtigen Schutz gegen die englische Übermacht zu gewähren und ihm doch den heilsamen Stachel des ausländischen Wettbewerbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünsche der Industrie den Ansprüchen der Staatskassen widersprachen, da mußte das Interesse der Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängnis des Staatshaushalts.

Die beiden ersten Paragraphen des Gesetzes verkündigten die Freiheit der Ein-, Aus- und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates. Damit wurde die volle Hälfte des nichtösterreichischen Deutschlands zu einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirtschaftlichen Gemeinschaft, welche, wenn sie die Probe bestand, sich auch über die andere Hälfte der Nation erweitern konnte. Denn die schroffsten Gegensätze unseres vielgestaltigen sozialen Lebens lagen innerhalb der preußischen Grenzen. War es möglich, Posen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirtschaftlichen Eigenart derselben wirtschaftlichen Gesetzgebung zu unterwerfen, so war schon erwiesen, daß diese Gesetze mit einigen Änderungen auch für Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte sich – so sagte Maaßen oftmals – genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die andern deutschen Staaten, welche ernstlich nach Zolleinheit verlangten, und konnte, wegen der Mannigfaltigkeit seiner wirtschaftlichen Interessen, leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staats, war in Preußen schwieriger als in irgendeinem andern Reiche; sie erschien zuerst vielen ganz unausführbar. Man sollte eine Zollinie von 1073 Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen, da die kleinen deutschen Staaten, die mit dem preußischen Gebiete im Gemenge lagen, zumeist noch kein geordnetes Zollwesen besaßen, ja sogar den Schmuggel grundsätzlich begünstigten. Solche Bedrängnis veranlaßte die preußischen Finanzmänner zur Aufstellung eines einfachen übersichtlichen Tarifs, der die Waren in wenige große Klassen einordnete. Eine umfängliche, verwickelte Zollrolle, wie sie in England oder Frankreich bestand, erforderte ein zahlreiches Beamtenpersonal, das in Preußen den Ertrag der Zölle verschlungen hätte. Durch denselben Grund wurde Maaßen bewogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waren vorzuschlagen, während in allen andern Staaten das von der herrschenden Theorie allein gebilligte System der Wertzölle galt. Die Abstufung der Zölle nach dem Werte würde die Kosten der Zollverwaltung unverhältnismäßig erhöht haben; zudem lag in der hohen Besteuerung kostbarer Waren eine starke Versuchung zum Schmuggelhandel, welche ein Staat von so schwer zu bewachenden Grenzen nicht ertragen konnte.

Auch in der großen Prinzipienfrage der Handelspolitik gab die Rücksicht auf die Finanzen den Ausschlag. Der Staat hatte die Wahl zwischen zwei Wegen. Man konnte entweder nach Englands und Frankreichs Beispiel Prohibitivzölle einführen, um diese sodann als Unterhandlungsmittel gegen die Westmächte zu benutzen und also Zug um Zug durch Differentialzölle zur Erleichterung des Verkehrs zu gelangen; oder man wagte sogleich in Preußen ein System mäßiger Zölle zu gründen, in der Hoffnung, daß die Natur der Dinge die großen Nachbarreiche dereinst in dieselbe Bahn drängen werde. Maaßen fand den Mut, den letzteren Weg zu wählen, vornehmlich weil der zweifelhafte Ertrag aus hohen Schutzzöllen dem Bedürfnis der Staatskassen nicht genügen konnte. Verboten wurden allein die Einfuhr von Salz und Spielkarten; die Rohstoffe blieben in der Regel abgabenfrei oder einem ganz niedrigen Zolle unterworfen. Von den Manufakturwaren sollte ein mäßiger Schutzzoll erhoben werden, nicht über 10 Prozent, ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entsprechend. Die Kolonialwaren dagegen unterlagen einem ergiebigen Finanzzolle, bis zu 20 Prozent, da Preußen an seiner leicht zu bewachenden Seegrenze die Mittel besaß, diese Produkte wirksam zu besteuern.

Dies freieste und reifste staatswirtschaftliche Gesetz des Zeitraums wich von den herrschenden Vorurteilen so weit ab, daß man im Auslande anfangs über die gutmütige Schwäche der preußischen Doktrinäre spottete. Den Staatsmännern der absoluten Monarchie fällt ein undankbares entsagungsvolles Los. Wie laut preist England heute seinen William Huskisson, one of the world's greatest spirits; alle gesitteten Völker bewundern die Freihandelsreden des großen Briten. Der Name Maaßens aber ist bis zur Stunde in seinem eigenen Vaterlande nur einem engen Gelehrtenkreise vertraut. Und doch hat die große Freihandelsbewegung unseres Jahrhunderts nicht in England, sondern in Preußen ihren ersten bahnbrechenden Erfolg errungen. Das wiederhergestellte französische Königtum hielt in dem Tarife von 1816 die strengen Napoleonischen Prohobitivzölle gegen fremde Fabrikwaren hartnäckig fest. Die Selbstsucht der Emigranten fügte noch schwere Zölle auf die Erzeugnisse des Landbaus, namentlich auf Schlachtvieh und Wolle, hinzu. Auch in England war nur ein Teil des Handelsstandes für die Lehren der Verkehrsfreiheit gewonnen. Noch stand der Grundherr treu zu den hohen Kornzöllen, der Reeder zu Cromwells Navigationsakte, der Fabrikant zu dem harten Prohibitivsysteme; noch urteilte die Mehrzahl der Gebildeten wie einst Burke über Adam Smith: solche abstrakte Theorien sind gut genug für das stille Katheder von Glasgow. Erst das kühne Vorgehen der Berliner Staatsmänner ermutigte die englischen Freihändler, mit ihrer Meinung herauszurücken. Auf das »glänzende Beispiel, welches Preußen der Welt gegeben«, berief sich die freihändlerische Petition der Londoner City, welche Baring im Mai 1820 dem Parlament übergab. An Preußen dachte Huskisson, als er seinen berühmten Satz aufstellte: »Der Handel ist nicht Zweck, er ist das Mittel, Wohlstand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten« und seinem Volke zurief: »Dies Land kann nicht stillstehen, während andere Länder vorschreiten in Bildung und Gewerbefleiß.«

Den freihändlerischen Ansichten der preußischen Staatsmänner genügte das neue Gesetz nicht völlig. Man ahnte im Finanzministerium wohl – J. G. Hoffmann hat es oft gestanden –, daß der weitaus größte Teil des Zollertrags allein von den gangbarsten Kolonialwaren aufgebracht werden und die Staatskasse von andern Zöllen nur geringen Vorteil ziehen würde. Aber man sah auch, daß jedem Steuersysteme durch die Gesinnung der Steuerpflichtigen feste Schranken gezogen sind; die öffentliche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn sie den Kaffee besteuert, den Tee frei gelassen hätte. Maaßen verwarf jede einseitige Begünstigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete die Schutzzölle nur als einen Notbehelf, um die deutsche Industrie allmählich zu Kräften kommen zu lassen. Schon bei der ersten Revision des Tarifs im Jahre 1821 tat man einen Schritt weiter im Sinne des Freihandels, vereinfachte den Tarif und setzte mehrere Zölle herab, während das Gesetz von 1818 für die westlichen Provinzen einen eigenen Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgestellt hatte, fiel jetzt jeder Unterschied zwischen den Provinzen hinweg; die Zollrolle van 1821 bildete in Form und Einrichtung die Grundlage für alle späteren Tarife des Zollvereins.

Derweil der Staatsrat diese Reform zum Abschluß brachte, erging sich die unreife nationalökonomische Bildung der Zeit in widersprechenden Klagen. Die Massen meinten, die Verteuerung des Lebensunterhalts nicht ertragen zu können, die Fabrikanten sahen »dem englischen Handelsdespotismus« Tür und Tor geöffnet und bestürmten den Thron abermals mit so verzweifelten Bittschriften, daß der König, obwohl selbst mit Maaßens Plänen ganz einverstanden, doch eine nochmalige Prüfung des schon unterschriebenen Gesetzes befahl. Erst am 1. September 1818 wurde das Zollgesetz veröffentlicht, erst zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenzzollämter in Tätigkeit. Am 8. Februar 1819 erschien das ergänzende Gesetze über die Besteuerung des Konsums inländischer Erzeugnisse, wonach nur Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die ohne unmittelbare Belästigung der Verzehrer von den Produzenten zu erheben war.

Die neue Gesetzgebung hielt im ganzen sehr glücklich die Mitte zwischen Handelsfreiheit und Zollschutz. Nur nach einer Richtung hin wich sie auffällig ab von den Grundsätzen des gemäßigten Freihandels: sie belastete den Durchfuhrhandel unverhältnismäßig schwer. Der Zentner Transitgut zahlte im Durchschnitt einen halben Taler Zoll, auf einzelnen wichtigen Handelsstraßen noch weit mehr – sicherlich eine sehr drückende Last für ordinäre Güter, zumal wenn sie das preußische Gebiet mehrmals berührten. Die nächste Veranlassung zu dieser Härte lag in dem Bedürfnis der Finanzen. Preußen beherrschte einige der wichtigsten Handelsstraßen Mitteleuropas: die Verbindung Hollands mit dem Oberlande, die alten Absatzwege des polnischen Getreides, den Verkehr Leipzigs mit der See, mit Polen, mit Frankfurt. Man berechnete, daß die volle Hälfte der in Preußen eingehenden Waren dem Durchfuhrhandel angehörte. Die erschöpfte Staatskasse war nicht in der Lage, diesen einzigen Vorteil, den ihr die unglückliche langgestreckte Gestalt des Gebietes gewährte, aus der Hand zu geben. Überdies stimmten alle Kenner des Mautwesens überein in der für jene Zeit wohlbegründeten Meinung, daß nur durch Besteuerung der Durchfuhr der finanzielle Ertrag des Grenzzollsystems gesichert werden könne. Gab man den Transit völlig frei, so wurde dem Unterschleif Tür und Tor geöffnet, ein ungeheurer Schmuggelhandel von Hamburg, Frankfurt, Leipzig her geradezu herausgefordert, das ganze Gelingen der Reform in Frage gestellt. Die unbillige Höhe der Durchfuhrzölle aber und das zähe Festhalten der Regierung an diesen für die deutschen Nachbarlande unleidlichen Sätzen erklärt sich nur aus politischen Gründen. Der Transitzoll diente dem Berliner Kabinett als ein wirksames Unterhandlungsmittel, um die deutschen Kleinstaaten zum Anschluß an die preußische Handelspolitik zu bewegen.

Von jenem Traumbilde einer gesamtdeutschen Handelspolitik, das während des Wiener Kongresses den preußischen Bevollmächtigten vorgeschwebt hatte, war man in Berlin längst zurückgekommen. Die Unmöglichkeit solcher Pläne ergab sich nicht bloß aus der Nichtigkeit der Bundesverfassung, sondern auch aus den inneren Verhältnissen der Bundesstaaten. Hardenberg wußte, daß der Wiener Hof an seinem altväterischen Provinzialzollsystem nichts ändern wollte und seine nichtdeutschen Kronländer einem Bundeszollwesen schlechterdings nicht unterordnen konnte. Aber auch das übrige Deutschland bewahrte noch viele Trümmer aus der schmählichen kosmopolitischen Epoche unserer Vergangenheit. Noch war Hannover von England, Schleswig-Holstein von Dänemark abhängig, noch stand Luxemburg in unmittelbarer geographischer Verbindung mit dem niederländischen Gesamtstaate. Wie war ein gesamtdeutsches Zollwesen denkbar, solange diese Fremdherrschaft währte? Auch die Verfassung mehrerer Bundesstaaten bot unübersteigliche Hindernisse. Die preußische Zollreform ruhte auf dem Gedanken des gemeinen Rechts. Wer durfte erwarten, daß der mecklenburgische Adel auf seine Zollfreiheit, der sächsische auf die mit den ständischen Privilegien fest verkettete Generalakzise verzichten würde, solange die ständische Oligarchie in diesen Landen ungestört herrschte? Wie war es möglich, die preußischen Zölle, welche die Einheit des Staatshaushaltes voraussetzten, in Hannover einzuführen, wo noch die Königliche Domänenkasse und die Ständische Steuerkasse selbständig nebeneinander standen? Das Zollwesen hing überdies eng zusammen mit der Besteuerung des inländischen Konsums; nur wenn die Kleinstaaten sich entschlossen, das System ihrer indirekten Steuern auf preußischen Fuß zu setzen oder doch dem preußischen Muster anzunähern, war eine ehrliche Gegenseitigkeit, eine dauernde Zollgemeinschaft zwischen ihnen möglich. Und ließ sich solche Opferwilligkeit erwarten in jenem Augenblicke, da der Rheinbund und das Ränkespiel des Wiener Kongresses den selbstsüchtigen Dünkel der Dynastien krankhaft aufgeregt und jeder Scham entwöhnt hatten? Selbst jene Staaten, denen redlicher Wille nicht fehlte, konnten gar nicht sofort auf die harten Zumutungen eingehen, welche Preußen ihnen stellen mußte, um sich den Ertrag seiner Zölle zu sichern. Man mußte, so gestand Eichhorn späterhin, sich erst orientieren in der veränderten Lage, die nationalökonomischen Bedürfnisse des eigenen Landes und die zur Deckung der Staatsausgaben notwendigen Opfer überschlagen; »bevor man hierüber ins klare gekommen, konnte man sich von einer gemeinsamen Beratung keinen Erfolg versprechen, am wenigsten von einer Beratung für ganz Deutschland am Bundestage.«

Wie die Dinge lagen, mußte Preußen selbständig vorgehen ohne jede schonende Rücksicht für die deutschen Nachbarn. Unter den gemütlichen Leuten herrschte die Ansicht vor, Preußen solle die Binnengrenzen gegen Deutschland offen halten und allein an den Grenzen gegen das Ausland Zölle erheben. Der kindische Vorschlag hätte, ausgeführt, jede Grenzbewachung unmöglich gemacht, die finanziellen wie die volkswirtschaftlichen Zwecke der Zollreform völlig vereitelt, selbst eine mildere Besteuerung deutscher Produkte war unausführbar. Gerade die deutschen Kleinstaaten mit ihren verzwickten, mangelhaft oder gar nicht bewachten Grenzen mußten der preußischen Staatskasse als die gefährlichsten Gegner erscheinen. Ursprungszeugnisse, von solchen Behörden ausgestellt, boten den genauen Rechnern der Berliner Bureaus keine genügende Sicherheit. Jede Erleichterung, die an diesen Grenzen eintrat, ermutigte den Unterschleif, solange nicht eine geordnete Zollverwaltung in den kleinen Nachbarstaaten bestand. Noch mehr: gewährte Preußen den deutschen Staaten Begünstigungen, so griff das Ausland unfehlbar zu Retorsionen, und der Staat wurde allmählich in ein Differentialzollsystem hineingetrieben, das den Absichten seiner Staatsmänner schnurstracks zuwiderlief. Differentialzölle erschienen dem Finanzministerium noch weit bedenklicher als Schutzzölle, da diese den Verkehr belasteten zugunsten der einheimischen, jene zum Vorteil der ausländischen Produzenten.

Es war nicht anders, sollte das neue Zollsystem überhaupt ins Leben treten, so mußten alle nichtpreußischen Waren zuvörderst auf gleichem Fuß behandelt werden. Allerdings wurden dadurch die deutschen Nachbarn sehr hart getroffen. Sie waren gewohnt, einen schwunghaften Schmuggelhandel nach Preußen hinüberzuführen; jetzt trat die strenge Grenzbewachung dazwischen. Die Zollinien an den Grenzen der neuen Provinzen störten vielfach altgewohnten Verkehr. Das Königreich Sachsen litt schwer, als die preußischen Zollschranken dicht vor den Toren Leipzigs aufgerichtet wurden. Die kleinen rheinischen Lande sahen nahe vor Augen das beginnende Erstarken der preußischen Volkswirtschaft; was drüben ein Segen, ward hüben zur Last. Begreiflich genug, daß gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft Preußens die Mißstimmung überhand nahm. Auch die Einrichtung der Gewichtszölle war für die deutschen Nachbarstaaten unverhältnismäßig lästig, da das Ausland zumeist feinere, Deutschland gröbere Waren in Preußen einzuführen pflegte.

Indes, wenn es nicht anging, den Kleinstaaten sofort Begünstigungen zu gewähren, so war doch die Zollreform von Haus aus darauf berechnet, die deutschen Nachbarn nach und nach in den preußischen Zollverband hineinzuziehen. »Die Unmöglichkeit einer Vereinigung für den ganzen Bund erkennend, suchte Preußen durch Seperatverträge sich diesem Ziele zu nähern« – mit diesen kurzen und erschöpfenden Worten hat Eichhorn zehn Jahre später den Grundgedanken der preußischen Handelspolitik bezeichnet. Die Zerstückelung seines Gebietes zwang den Staat, deutsche Politik zu treiben, machte ihm auf die Dauer unmöglich, sich selbstgenügsam abzuschließen, seine Verwaltung zu ordnen ohne Verständigung mit den deutschen Nachbarlanden. Ein großer Teil der thüringischen Besitzungen Preußens, 41 Geviertmeilen, mußten vorderhand aus der Zollinie ausgeschlossen bleiben. Es war eine unabweisbare Notwendigkeit, die Zollschranken mindestens so weit hinauszuschieben, daß das gesamte Staatsgebiet gleichmäßig besteuert werden konnte. In dem Zollgesetze selber (§ 5) war die Absicht erklärt, durch Handelsverträge den wechselseitigen Verkehr zu befördern. Die harte Besteuerung der Durchfuhr gab diesem Winke fühlbaren Nachdruck. Noch bestimmter sprach sich Hardenberg über die Absicht des Gesetzes aus, schon ehe es in Kraft trat. Als die Fabrikanten von Rheydt und andern rheinischen Plätzen den Staatskanzler um Beseitigung der deutschen Binnenzölle baten, gab er die Antwort (3. Juni 1818): Die Vorteile, welche aus der Vereinigung mehrerer deutscher Staaten zu einem gemeinschaftlichen Fabrik- und Handelssystem hervorgehen können, seien der Regierung nicht unbekannt; mit steter Rücksicht hierauf sei der Plan des Königs zur Reife gediehen. »Es liegt ganz im Geiste dieses Planes, ebensowohl auswärtige Beschränkungen des Handels zu erwidern als Willfährigkeit zu vergelten und nachbarliches Anschließen an ein gemeinsames Interesse zu fördern.« Ebenso erklärte er den Elberfeldern: die preußischen Zollinien sollten dazu dienen, »eine allgemeine Ausdehnung oder sonstige Vereinigung vorzubereiten«.

Damit wurde deutlich angekündigt, daß der Staat, der seit langem das Schwert des alten Kaisertums führte, jetzt auch die handelspolitischen Reformgedanken der Reichspolitik des sechzehnten Jahrhunderts wieder aufnahm und bereit war, der Nation nach und nach die Einheit des wirtschaftlichen Lebens zu schaffen, welche ihr im ganzen Verlaufe ihrer Geschichte immer gefehlt hatte. Er dachte dies Ziel, das sich nicht mit einem Sprunge erjagen ließ, schrittweis, in bedachtsamer Annäherung, durch Verträge von Staat zu Staat zu erreichen. Mars und Merkur sind die Gestirne, welche in diesem Jahrhundert der Arbeit das Geschick der Staaten vornehmlich bestimmen. Das Heerwesen und die Handelspolitik der Hohenzollern bildeten fortan die beiden Rechtstitel, auf denen Preußens Führerstellung in Deutschland ruhte. Und diese Handelspolitik war ausschließlich das Werk der Krone und ihres Beamtentums. Sie begegnete, auch als ihre letzten Ziele sich späterhin völlig enthüllten, regelmäßig dem verblendeten Widerstande der Nation. Im Zeitalter der Reformation war die wirtschaftliche Einigung unseres Vaterlandes an dem Widerstande der Reichsstädte gescheitert; im neunzehnten Jahrhundert ward sie recht eigentlich gegen den Willen der Mehrzahl der Deutschen von neuem begonnen und vollendet.

Im Kampfe gegen das preußische Zollgesetz hielten alle deutschen Parteien zusammen, Kotzebues »Wochenblatt« so gut wie Ludens »Nemesis«, vergeblich widerlegte J. G. Hoffmann in der »Preußischen Staatszeitung« mit überlegener Sachkenntnis das fast durchweg wertlose nationalökonomische Gerede der Presse. Dieselben Schutzzöllner, die um Hilfe riefen für die deutsche Industrie, schalten zugleich über die unerschwinglichen Sätze des preußischen Tarifs, der doch jenen Schutz gewährte. Dieselben Liberalen, die den Bundestag als einen völlig unbrauchbaren Körper verspotteten, forderten von dieser Behörde eine schöpferische handelspolitische Tat. Wenn Hoffmann nachwies, daß das neue Gesetz eine Wohltat für Deutschland sei, so erwiderten Pölitz, Krug und andere sächsische Publizisten, kein Staat habe das Recht, seinen Nachbarn Wohltaten aufzudrängen. Alberne Jagdgeschichten wurden mit der höchsten Bestimmtheit wiederholt und von der Unwissenheit der Leser begierig geglaubt. Da hatte ein armer Höker aus dem Reußischen, als er seinen Schubkarren voll Gemüse zum Leipziger Wochenmarkt fuhr, einen Taler Durchfuhrzoll an die preußische Maut zahlen müssen – nur schade, daß Preußen von solchen Waren gar keinen Zoll erhob. Auch die Sentimentalität ward gegen Preußen ins Feld geführt; sie findet sich ja bei den Deutschen immer ein, wenn ihnen die Gedanken ausgehen. Da war gleich am ersten Tage, als das unselige Gesetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langensalza von einem gothaischen Patrioten im Rausche heiligen Zornes erstochen worden; der Mann hatte sich aber selbst entleibt. Da hieß es wehmütig, König Friedrich Wilhelm hege wohl menschenfreundliche Absichten, aber »finanzielle Rücksichten vergiften die besten Maßregeln«; für die harte Notwendigkeit dieser finanziellen Rücksichten hatte man kein Auge. Die ersehnte Einheit des deutschen Marktes – darüber bestand unter den liberalen Patrioten kein Streit – konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der Hälfte Deutschlands wieder zerstört wurde.

Unbekümmert um die allgemeine Entrüstung hielt Klewitz die Zollreform aufrecht. In der Gewerbepolitik dagegen zeigte die Regierung geringere Festigkeit gegen die hochkonservativen Vorurteile der Zeit. Immer wieder mußten kundige Beamte in der »Staatszeitung« die Vorzüge des freien Gewerbes ungläubigen Lesern schildern. Dennoch wagte man nicht, das Gewerbegesetz von 1811 in den neuen Provinzen einzuführen, sondern ließ einen widerspruchsvollen Zustand, der sich mit der Einheit des Marktgebietes kaum vertrug, während eines vollen Menschenalters unangetastet; in Sachsen blieb das alte Zunftwesen bestehen, in den rheinisch-westfälischen Landen und in den alten Provinzen herrschte die Gewerbefreiheit, hier nach preußischem, dort nach französischem Gesetze. (181-221.)


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