Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Die deutsche Bundesakte

So entstand die Bundesakte, die unwürdigste Verfassung, welche je einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrschern auferlegt ward, ein Werk, in mancher Hinsicht noch kläglicher als das Gebäude des alten Reichs in den Jahrhunderten des Niedergangs. Ihr fehlte jene Majestät der historischen Größe, die das Reich der Ottonen noch im Verfalle umschwebte. Blank und neu stieg dies politische Gebilde aus der Grube, das Werk einer kurzlebigen, in sich selbst versunkenen Diplomatie, die aller Erinnerungen des eigenen Volkes vergessen hatte; kein Rost der Jahrhunderte verhüllte die dürftige Häßlichkeit der Formen. Von Kaiser und Reich sang und sagte das Volk; bei dem Namen des Deutschen Bundes hat niemals ein deutsches Herz höher geschlagen. Unter den Bundesstaaten hatten nur sechs der kleinsten ihren Besitzstand seit zwanzig Jahren nicht verändert; selbst das geduldigste der Völker konnte an die Legitimität einer zugleich so neuen und so willkürlichen Länderverteilung nicht mehr glauben. Dieselbe Fremdherrschaft, die das alte Reich zugrunde gerichtet, belastete auch den neuen Bund. Österreichs Übermacht hatte sich seit den Tagen Friedrichs erheblich verstärkt, sie war jetzt um so schwerer zu brechen, da sie ihren Einfluß mittelbar, ohne die herrischen Formen des Kaisertums ausübte. Die auswärtigen Diplomaten lächelten schadenfroh: wie schön, daß wir Österreich und Preußen zusammengekoppelt und dadurch geschwächt haben! Das alte Reichsrecht sprach doch noch von einer deutschen Nation; die Vorstellung mindestens, daß alle Deutschen ihrem Kaiser treu, hold und gewärtig seien, war niemals ganz verschwunden. Die neue Bundesakte wußte gar nichts mehr von einem deutschen Volke; sie kannte nur Bayern, Waldecker, Schwarzburg-Sondershausener Untertanen jener deutschen Fürsten, welche nach Gefallen zu einem völkerrechtlichen Vereine zusammengetreten waren. Die Nation mußte den Becher der Demütigung bis zur Hefe leeren; jene württembergische Mahnung: »man werde doch nicht aus verschiedenen Völkerschaften sozusagen eine Nation bilden wollen«, hatte vollständig recht behalten. Die Deutschen standen außer jeder Beziehung zu der Bundesgewalt, waren nicht einmal verpflichtet, ihr zu gehorchen; nur wenn ein Souverän einen Bundesbeschluß als Landesgesetz zu verkündigen geruhte, mußten seine Untertanen diesem Landesgesetze sich fügen. Die Nation war mediatisiert durch einen Fürstenbund. Wie die Revolution von 1803, so ward auch diese neue Verfassung Deutschlands ausschließlich durch die Dynastien geschaffen.

Der neue Bundestag war der Regensburger Reichstag in etwas modernerer Gestalt, ganz ebenso schwerfällig und unbrauchbar; daß er bald als engerer Rat, bald als Plenum tagte, war eine leere Förmlichkeit, da auch im engeren Rate alle neununddreißig mitstimmten. Der Widerspruch zwischen dem formalen Rechte und der lebendigen Macht trat im Deutschen Bunde sogar noch greller hervor als im Heiligen Reiche. Der durch den Genuß der Souveränität aufgestachelte Dünkel der kleinen Kronen bewirkte in Wien eine Stimmenverteilung, welche alle Ungeheuerlichkeiten des alten Reichsrechts weitaus überbot und nun ihrerseits dazu half, jenen Dünkel bis zum Wahnsinn zu steigern. Eine gewisse Bevorzugung der kleinen Bundesglieder liegt im Wesen jeder Föderativverfassung; das aber ging doch über jedes Maß erlaubter Unbilligkeit hinaus, daß im Plenum des Bundestages die sieben größten Staaten, Österreich, die Königreiche und Baden, die zusammen mehr als fünf Sechstel des deutschen Volks umfaßten, mit nur 27 Stimmen die Minderheit bildeten neben den 42 Stimmen des letzten Sechstels. Das hieß die großen Staaten geradezu auffordern zur Umgehung der Bundesbeschlüsse oder zur gewaltsamen Einschüchterung der kleinen Genossen. Und dazu jenes Geschenk der Krone Sachsen, die Einstimmigkeit für alle wichtigen Beschlüsse – eine Vorschrift, die im Heiligen Reiche nur für Religionssachen und jura singulorum gegolten hatte. Jetzt konnte Reuß jüngerer Linie jede Entwicklung des Bundes verbieten. Diese Fortbildung ward aber vollends unmöglich gemacht durch die Begründung der landständischen Verfassungen. Denn sollte der Bund irgendwelches Leben gewinnen, so mußte er zunächst die Militärgewalt und die auswärtige Politik der Bundesstaaten zu beschränken suchen; dies waren aber gerade die einzigen Kronrechte, welche nach Einführung der Landstände den Kleinfürsten noch ungeschmälert verblieben, ein freiwilliger Verzicht darauf stand mithin ganz außer Frage.

Und diese vielköpfige Bundesversammlung ohne Haupt trug keine Verantwortlichkeit, weder rechtlich noch sittlich, sie bestand aus Gesandten, welche lediglich ihre Instruktion zu befolgen hatten und also jeden Tadel von sich auf ihre Auftraggeber abwälzen konnten, während andererseits die kleinen Kronen nur allzubald die Kunst lernten, sich vor dem Zorne der öffentlichen Meinung hinter dem Bundestage zu verstecken. Deutschlands innere Politik ward zu einem Luftkampfe; niemand wußte mehr, wo er eigentlich seine Gegner suchen sollte. Die entsittlichenden Wirkungen solcher Unwahrheit zeigten sich rasch genug, an den Höfen wie im Volke: feige Angst auf der einen, Wolkenkuckucksheimer Träume und unklare Verbitterung auf der andern Seite. Die heillose Verwirrung mußte um so unerträglicher werden, da ein schwerer Kampf zwischen dem Bunde und seinen Gliedern gar nicht ausbleiben konnte; denn die Zentralgewalt des Bundes war absolutistisch, war lediglich ein Organ der Fürsten, in den Einzelstaaten aber kam bald die Macht der Landtage empor.

Die Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf. Wer überhaupt davon redete, sprach seine grimmige Entrüstung aus. Die wenigen Artikel über Volksrechte, an denen der öffentlichen Meinung zumeist gelegen war, enthielten so leere, so windige Versprechungen, daß sogar diese gutherzige Nation anfangen mußte, an den bösen Willen ihrer Machthaber zu glauben, wie sonderbar nahm sich neben den unbestimmten Phrasen über Preßfreiheit, Handelsfreiheit, Landstände die genaue Aufzählung der Privilegien der Mediatisierten und der Thurn- und Taxisschen Postrechte aus. Und zu alledem das Kläglichste: die Bundesakte war gar keine Verfassung, sondern enthielt nur die damals ausgeführten Grundzüge eines künftigen Bundesrechts. Vier Jahre später schrieb der ehrliche Gagern nicht ohne Reue einem konservativen Freunde: »Sie reden von der Erhaltung des Bestehenden. Ich suche vergeblich den Bestand. Ich sehe eine Bundesakte, die wir zu entwickeln zu Wien uns erst vornahmen!«

In den Gebietshändeln hatten Preußens Staatsmänner, durch die Festigkeit ihres Königs, doch einen halben Erfolg erreicht. In den Bundesverhandlungen wurden sie aufs Haupt geschlagen, nichts, gar nichts von ihren Absichten hatten sie durchgesetzt. Aber der Schild preußischer Ehre war ohne Makel geblieben. Die Haltung des Staates, der uns von den Fremden befreit, gereichte noch in Wien allen andern Deutschen zur Beschämung – wenn in einem solchen harten Interessenkampfe die Scham überhaupt Raum fände. Zäh und redlich, konsequenter als Stein, hatten Hardenberg und Humboldt einen bestimmten Plan eingehalten, immer nur Schritt für Schritt zurückweichend vor dem vereinten Widerstande nahezu des gesamten Deutschlands, einen Plan, der freilich auch an der allgemeinen politischen Unklarheit der Epoche krankte, aber jedenfalls ehrenhafter und verständiger war als alle andern Wiener Vorschläge. Die beständig wechselnde Form ihrer Entwürfe war nicht ihre Schuld, sondern ergab sich unvermeidlich aus der Bedrängnis eines aussichtslosen Streites wider Gegner, die nicht durch das Wort, sondern allein durch den Schlag überzeugt werden konnten. Das einzige, was den beiden zur Last fiel, war das arglose Vertrauen zu den falschen Freunden Österreich und Hannover. Aber selbst ein vollkommener Staatsmann, der von solcher Schwäche frei blieb, konnte in diesem Kriege nicht siegen. Der gesamte Gang der deutschen Schicksale während der jüngsten Jahre führte unabwendbar zu der traurigen und doch notwendigen Folge, daß nach Napoleons Fall nicht sein tapferer Feind Preußen, sondern sein schwankender Gegner Österreich und dessen Bundesgenossen, die Rheinbündner, über die Gestaltung unseres Staates entschieden.

Selbst der Zar äußerte seinen Unwillen über den kläglichen Ausgang, und sogar Gentz hatte ein so lächerliches Machwerk doch nicht erwartet. Gleichwohl besaß die neue Ordnung der deutschen Dinge drei folgenschwere Vorzüge. Die welthistorischen Wirkungen der Fürstenrevolution von 1803 blieben unverändert, das fratzenhafte theokratische Wesen kehrte nicht wieder; das neue Deutschland atmete in der gesunden Luft weltlichen Staatslebens. Sodann ward durch die Bundesverfassung die Entstehung eines neuen Rheinbundes zwar keineswegs verhindert, aber wesentlich erschwert; deshalb allein, so gestanden Hardenberg und Humboldt oftmals, nahmen Preußens Staatsmänner ein Werk an, über dessen Mängel sie sich nicht täuschten. Preußen trat dem Bunde bei, um die Mittelstaaten an wiederholtem Landesverrate zu hindern, während diese und Österreich in der Bundesverfassung nur ein Bollwerk gegen den preußischen Ehrgeiz sahen. Endlich war der Deutsche Bund so locker und ohnmächtig, daß er den Staat Friedrichs in seiner inneren und äußeren Entwicklung kaum stören konnte. Sobald Preußen sich erst wieder auf sich selbst besann, bot ihm die schattenhafte Bundesverfassung tausend Mittel und Wege, um die kleinen Staaten durch Sonderbünde an sich zu ketten und durch die Tat zu beweisen, daß Österreich für Deutschland nichts leisten, Preußen allein der Sehnsucht der Nation und dem recht verstandenen Interesse der kleinen Höfe selber gerecht werden konnte. Und dies bleibt für uns, die wir die abgeschlossene Laufbahn überschauen, der historische Ruhm des Deutschen Bundes: er besaß nicht die Kraft, das Erstarken des einzigen lebendigen deutschen Staates zu hindern – des Staates, der berufen war, dereinst ihn selber zu zerstören und diesem unglücklichen Volke eine neue, würdige Ordnung zu schenken. (710–713.)


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