Johann Ludwig Tieck
Der wiederkehrende griechische Kaiser
Johann Ludwig Tieck

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Graf Conrad lebte auf seinem einsamen Schlosse fast mehr in der Kapelle, als in den Zimmern der Burg. Um die Jagd schien er sich gar nicht kümmern zu wollen, und seinem Sohne Wachsmuth hatte er erklärt, dieser müsse die Geschäfte und Berechnungen mit den Wirthschaftern und Pachtern abmachen, weil er sein beruhigtes Gemüth durch dergleichen irdische Rücksichten und kleinliche Verwickelungen nicht wolle stören lassen. Der Sohn war vom Betragen des Vaters gerührt und erbaut, doch schmerzte es ihn, daß sein eigenes Glück und seine innigsten Wünsche darüber zu wenig berücksichtigt würden.

Aber noch am nehmlichen Tage ward die Ruhe des einsamen Schlosses auf eine unerwartete Art gestört. Man sah aus der Umgegend von allen Hügeln sich Schaaren von Landleuten unruhig und mit Geschrei herbeiwälzen. Alle die einzelnen Haufen vereinigten sich und richteten gemeinsam ihren Weg nach dem Schlosse. Als sie näher kamen, unterschied man, daß sich Edle unter ihnen befanden und manche Schaar von würdigen Geistlichen angeführt wurde. Als Alle versammelt waren, riefen die Massen mit großem Geschrei nach dem Grafen Conrad, einige Edelleute näherten sich dem Thore, welches sie verschlossen fanden. Sie klopften heftig, indessen die Menge wieder schrie: Graf Conrad! Hülfe! Seid unser Anführer! Rettet uns, tapferer Held! Wachsmuth zeigte sich am offenen Fenster und fragte, was man verlange, und Friedrich, ein junger Edler, nahm für Alle das Wort: Sagt Euerm verehrten Vater, daß es der Wunsch und die Bitte der ganzen Landschaft sei, daß der verkannte und gekränkte Held sich an unsere Spitze stellen möge, um unsern großen Fürsten, der uns durch ein Wunder wieder geschenkt ist, zu dem angestammten Sitz seiner Ahnen zurückzuführen. – So ist es! So ist es! schrieen Alle einstimmig. – Wo ist der edle, fromme Mann? fragte der Abt.

Mein Vater, antwortete der Sohn, ist mit seinem Kaplan in der Kirche, im frommen Gebet vertieft: ich sehe ihn selbst nur wenig, doch will ich ihm melden, daß Ihr da seid, und ich bitte den Herrn Abt, so wie Herrn Friedrich und Einige Eures Zuges, daß Ihr eintreten und ihm selber, was Ihr an ihm sucht, vortragen mögt. Die Uebrigen aber, Ihr Herren, ersucht, daß sie außen und ruhig bleiben, denn unser stilles Haus hätte doch keinen Raum für sie.

So sei es, antworteten sie, indem ihnen von Dienern der Eingang geöffnet wurde. Es währte lange, bevor Graf Conrad seinem Sohn die festverschlossene Kapelle eröffnete. Er wollte zürnen und ließ sich nur ungern zum Saale führen, wo die edlen Herren seiner mit Ungeduld warteten.

Edler Graf, fing der Abt an, als Conrad nachdenkend eingetreten war. Ihr findet hier viele Freunde des Vaterlandes und treue Unterthanen versammelt, um Euch, selbst gegen Euren Willen, Eurer Einsamkeit und Muße zu entführen, die Euch jetzt bei den großen Dingen, die sich gezeigt haben, nicht mehr geziemt. Soll Alles in Verwirrung untergehn, soll Blut unnütz vergossen werden, sollen die Schlechten den Sieg davontragen und die Lüge herrschen, bloß weil Ihr der Ruhe und der Andacht pflegen möchtet? Dem sei nicht also. Jetzt wartet eine höhere Pflicht auf Euch, als dem Herrn zu dienen, denn dessen Wort eben ruft Euch auf, das Heilige anzuerkennen und zu vertreten. Wir Alle sind überzeugt, daß Balduin uns wieder geschenkt ist, aber Keiner im Lande kann es bekräftigen, als Ihr allein. Keinem wollen wir unbedingt glauben, als Euch allein.

So ist es! rief der ungestüme Friedrich, darum zögert nicht, weicht uns nicht aus, denn wir nehmen, weigert Ihr unsere Bitten, Euch mit Gewalt fort, und die versammelten Haufen da unten werden auf keine Einrede sonderlich achten. Der Kaiser hat sich uns schon zu erkennen gegeben, bestätigt Ihr sein Wort, Ihr, dessen Adel, Tugend und Frömmigkeit wir Alle kennen und verehren, so leben und sterben wir für unsern Fürsten. Könnt Ihr uns, nach reifer Prüfung auf Euer Gewissen, versichern, dieser Balduin der Eremit sei nicht unser Fürst, so wollen wir den Einsiedler für einen Betrüger achten und unsern Glauben und unsere Sinne Eurer Ueberzeugung gefangen geben.

Graf Conrad zögerte, schien aber nach einiger Zeit dem Wunsche der Besuchenden beizustimmen. Indessen erhob sich vor dem weitverbreiteten Gebäude und auf dem Felde ein gewaltiges Geschrei und Toben der Menge, denn einige von ihnen wollten die Nachricht erhalten haben, daß der Graf sich durchaus nicht ihrem Begehren fügen wolle. Furchtbar tobte das Volk und es gelang den Edelleuten nur nach und nach, den Aufruhr wieder einigermaßen zu stillen. Man sprach schon von Verräthern, die den rechtmäßigen Herrn verleugneten, man machte Anstalten, das Thor mit Gewalt zu erbrechen, doch verwandelte sich das Schelten und Zürnen plötzlich in ein lautes Freudengeschrei, als Graf Conrad ihnen freundlich mit seinen Begleitern entgegentrat. Sie drängten sich um ihn und er sprach laut, damit Viele ihn vernehmen möchten: Ich will mich Euch nicht entziehen, meine theuern Landesgenossen, ich will gern, wenn Ihr mich auffordert, das allgemeine Wohl befördern helfen; aber Freiheit muß mir bleiben, daß ich mich erst überzeuge, daß mir auch der kleinste Zweifel nicht mehr hafte, er sei es wirklich, unser allgeliebter Fürst, damit wir nicht statt des Schlimmen das noch Schlimmere erwählen. Diese Freiheit ist mir von diesen edlen Herren zugesichert worden, und so wie ich mich nur überzeugt habe, werde ich auch keinen Anstand nehmen, die Wahrheit öffentlich zu verkündigen.

Der Zug machte sich nun auf den Weg. In der Stadt hatte sich die Bürgerschaft schon mit ihren Schultheißen und Vorstehern versammelt, die Ersten des Adels, so wie die Vornehmsten der Geistlichkeit waren alle im großen Saale des Rathhauses in ihren Festgewanden, auf einem erhöhten Sessel saß der ehrwürdige Eremit, der sich schon mit dem Purpur geschmückt hatte, ein Schwert an der Seite und das Zeichen seiner Würde auf seinem Haupte trug. So sehr seine ganze Tracht verändert war, so hatte er doch seinen übermäßig langen Bart behalten, der das ehrwürdige Ansehn des großen, majestätischen Mannes nur noch erhöhte.

Die Stadt war in Bewegung, alle Gewerbe standen still, die Bürger sprachen und rathschlagten auf den Straßen, die Läden waren geschlossen und die Menge wogte in unruhiger Erwartung auf dem Markt und den Plätzen. Die wundersamsten Neuigkeiten wurden erzählt, die seltsamsten Mährchen fanden Glauben, und das gewöhnliche, alltägliche Leben war so völlig aufgelöst, daß jedes Gemüth Wunder und Zauber erwartete, und schon bereit war, Gut und Leben für irgend ein Phantom aufzuopfern, wie vielmehr für den wiedergefundenen Fürsten, der nach so vielen Jahren wie ein Geist aus dem Grabe unter sie getreten war.

Als Graf Conrad mit seinem Sohne in dem Saal trat, ging ihm mit edler Geberde Derjenige, den Alle schon Balduin nannten, entgegen. Conrad führte den Fürsten mit allen Zeichen der Ehrerbietung nach seinem Sitze zurück, und nachdem die Versammlung sich beruhigt hatte, sprach Graf Conrad, der einen Sessel zunächst dem Herrn eingenommen hatte, auf folgende Weise: Die Wunder, meine verehrten Freunde, der grauen Vorzeit wiederholen sich, die Gräber geben ihre Todten zurück, Leichname kehren wieder, mit neuem, frischem Leben begabt. Wie glücklich uns die Ueberzeugung, die Gegenwart dieses Wunders machen muß, so ist es doch auch nicht ungeziemlich, zu zweifeln, zu fragen und zu forschen, um uns eben durch edle Ruhe der Wohlthat des Himmels würdig zu machen und keiner Täuschung nachzugehn, die uns vielleicht willkommen seyn möchte, weil sie etwa der Leidenschaft von Diesem oder Jenem schmeichelt. Die Stände, die Geistlichkeit, das Landvolk, so viele von diesen haben mich Unwürdigen ausgewählt, in ihrem Namen zu forschen und zu fragen, um endlich zu entscheiden und dieser meiner Entscheidung alsdann unbedingt zu folgen. Wie mich dies ehrt, so bekümmert es mich auch, denn so soll von meiner Zunge das Schicksal dieses Landes, der Fürstin, unsers Herrn und vieler Tausende abhängig werden, sie soll an dieser Riesenwage den Balken hüben oder drüben entscheidend niederziehen. Darum, Freunde, und Ihr, mein edler Herr (mögt Ihr auch seyn, wer Ihr seid), muß es mir vergönnt seyn, meine Zweifel bis auf die äußerste Grenze, bis über meine eigene Ueberzeugung hinüberzuwerfen, um der Sache genugzuthun, und dies muß meiner Pflicht und meinem Gewissen verziehen werden, weil es nicht geschieht, um Euch, ehrwürdiger Herr, oder irgend wen, zu kränken oder zu beleidigen.

Ihr sprecht und handelt hierin nur, antwortete Balduin, wie ein edler, frommer Mann und ächter Patriot, als einen solchen habe ich Euch stets erkannt, und fern sei es, daß ich mich irgend durch ein Wort beleidigt wähnen sollte, nein, ich danke es Euch vielmehr, wenn Ihr nicht Euerm Herzen, oder Euerer Ueberzeugung selbst allzuschnell folgen wollt.

Die größte Stille herrschte im Saal und Conrad begann: Wie ist es also nur möglich, daß wir Euch nach so vielen Jahren als unsern Fürsten anerkennen sollen? Welche Wahrscheinlichkeit, welche Möglichkeit ist nur, diesen Vorfall, der stets unglaublich bleiben wird, anzunehmen? Zwar haben Euch einige alte Krieger und Gefährten Eurer Leiden anerkennen wollen; zwar zeigt Ihr die Narben auf, die unserm Fürsten die Feinde schlugen; zwar ist die Aehnlichkeit mit dem Verblichenen, so viel sie sich nach zwanzig Jahren wiederfinden läßt, deutlich genug, und Mancher möchte sie unwidersprechlich nennen: aber alles Dieses wiegt die innern, die näher liegenden Unwahrscheinlichkeiten nicht auf, die sich Jedem, der nicht kindischen Wunderglauben gern nährt, sogleich anbieten müssen. Ich und wir Alle, die wir mit Euch waren, glaubten uns mit Recht überzeugt zu haben, Ihr wärt in Euerm Gefängniß gestorben; die Feinde selbst, die sich doch von Euerm Leben Vortheil versprechen durften, haben jeder wiederholten Gesandtschaft von neuem die Versicherung Eures Todes wiederholt. Ein anderer Kaiser, Euer Bruder, nahm damals ohne Widerspruch den Thron Griechenlands ein, keine Stimme meldete sich, kein Gerücht Eures Lebens erscholl. Sei es, daß Euch sonderbare Schicksale entfernt hielten, daß Aufenthalt unter Fremden es Euch unmöglich machte, Nachrichten hieher, oder selbst nur nach Constantinopel zu senden: aber wie, nachdem Ihr zurückgekehrt seid, nachdem Ihr schon lange, manches Jahr, in unserer Mitte lebt, indem Ihr aus jedem Munde die Drangsale und Noth Eures Landes hört, wie, da Ihr durch ein Wunder gerettet, als Fürst unter uns seid – verstummt Ihr, verbergt Ihr Euch Jahre hindurch? Ist diese Gesinnung, diese Verlarvung eines Fürsten würdig, ja ist sie nur zu denken möglich? Wäret Ihr auch des Sinnes gewesen, Euch von der Welt und der Regierung zurückzuziehen, mußtet Ihr nicht mindestens Euer Dasein melden und die notwendigsten Verordnungen, Euer Vermächtniß den Räthen und Regenten übergeben? Ist dieses Betragen mir schon an einem Fürsten unbegreiflich, was soll ich erst vom Vater sagen? Mußte Euch das Herz nicht zur edeln, schönen Tochter unwiderstehlich hinreißen, die Ihr als ein unmündiges Kind verließet? Ihr Wohl und Weh, ihre Verwaistheit, ihre Leiden waren Euch kein Sporn? Kein Sporn war es Euch, Euch ihr zu offenbaren, und ihr diesen Trost zu geben, ihr dies Entzücken zu gönnen, dem keins auf Erden gleichkommt, einen edlen, tapfern, weltberühmten Vater in die Arme zu schließen, den sie seit zwanzig Jahren fast beweinte? Ihr habt es sogar zugeben können, daß sie als mündig auf den Fürstenstuhl gesetzt wurde, und habt den unbegreiflichen Muth, sie in die traurige Verlegenheit zu setzen, daß sie diesen wieder räumen muß, oder daß Ihr, der Vater, sie in die Versuchung führt, Euch mit offener Gewalt zu widerstehn und einen Kampf zu entzünden zwischen Tochter und Vater, den unnatürlichsten, den die Welt noch gesehen hat? Nein, meine versammelten Freunde, mögen noch mehr Wahrscheinlichkeiten, als sich schon zeigten, für diesen Mann sprechen, unsere Vernunft, unser einfaches, unbestochenes Gefühl muß uns überzeugen, daß er Der nicht seyn kann, für welchen er sich ausgiebt, und zwar so sehr überzeugen, daß eigentlich keine Widerrede stattfindet. Nun fragt sich nur, zu welcher Absicht, auf wessen Anstiften tritt diese Erscheinung auf, den schwer und spät errungenen Frieden unsers Landes von neuem zu stören? Dies zu untersuchen, diesem Unheil vorzubeugen, möchte, nach meiner Meinung, wohl jetzt unsere nächste und heiligste Pflicht seyn.

Ein wachsendes Murren ließ sich vernehmen, Friedrich sprach laut von Verdrehern des Rechtes, einige Andere, wie sehr man sich in der lautern Tugend des Grafen geirrt habe; doch Ildefons, der Abt, besänftigte die zürnenden Gemüther wieder, und nachdem sich Alles beruhigt hatte, fing der vormalige Einsiedler also zu reden an: Wie könnt Ihr doch, Ihr versammelten, mir wohlwollenden Freunde, den allergetreuesten Landesherrn in seiner erprüften Redlichkeit nur irgend verkennen? Er spricht und handelt, wie er muß. Ist es denn eine Kleinigkeit, ein Spiel etwa, was Ihr mit mir unternehmt, wozu ich Euch, wie zu einem Maienfeste, anführe? Er hat ja nur in Euerm Namen gesprochen, seine Zweifel müssen ja die Eurigen seyn, wollt Ihr nicht den Vorwurf sündlicher Uebereilung auf Euch laden. Um Euch aber Genüge zu thun, sei es mir erlaubt, meine Geschichte und in ihr die Ursachen zu erzählen und darzulegen, die mich bewegen mochten, mich so lange allen Blicken, selbst den Augen meiner geliebten Tochter zu entziehen. – Graf Conrad, noch einige hier Anwesende und alte Freunde in Gent, Brüssel und Brügge, welche zugegen waren, mögen sich noch mit Reue und Herzensbangigkeit erinnern, unter welchen verhaßten, schauderhaften Umständen damals das unermeßliche Constantinopel erobert wurde. Der getäuschte, erzürnte Krieger kannte keine Schranke, der Christ hatte sogar vergessen, daß er Mensch sei. Was die Geschichte von Greueln nur erzählt, ward hier verübt, und schauderhafter, unmenschlicher als je, so daß die Scheu des Herzens aus Sitte und Erbarmen lieber schweigt, und Gedächtniß und Einbildung gern auf ewig, wenn es nur möglich wäre, diese scheuseligen Thaten vergessen möchten. Wie ich gefangen ward, weiß Graf Conrad, denn er war in der Nähe, fast zugegen, und hätte beinah mein Schicksal getheilt. So bitter wurde der Mangel an Klugheit bestraft, den ich aus mißverstandnem Heldensinn gegen jenen barbarischen Johannizza, den König der Bulgarei, beging. Er wollte sein Lehnsverhältniß zu Griechenland erneuen und mir die Vasallenpflicht leisten: ich wies aber ihn und seinen Beistand ab, weil er unter Alexius ein Stück Land willkührlich und durch Ueberfall dem griechischen Reiche entzogen hatte, das er mir nicht zurückgeben wollte. So gesellte sich der Barbar zu meinen Feinden, die mich schon rings umdrängten, und eine einzige unglückliche Schlacht, die wir unbesonnen schon für Sieg erklärten, vollendete mein Schicksal. In dem entscheidenden Augenblicke, als ich mit Wenigen schon von meinen Kriegern abgeschnitten war, wechselte mein treuer Knappe, mir an Gestalt und Wuchs nicht unähnlich, mit mir Helm und Schild, er nahm die Abzeichen meiner Würde an sich, und kaum daß dies geschehen war, verlor ich unter neuen Wunden Bewußtsein und Freiheit; auch mein Knappe ward schwer verwundet und gefangen. Als ich das Licht wiedersah, hatte man jenen schon als Kaiser erkannt, ich schien ihnen nur ein Knecht zu seyn, und der Redliche bestärkte sie auch mit großmüthigem Sinn in ihrem Irrthum. In wilder Wuth, in trotzigem Hochmuth, gesiegt und den Kaiser selbst gefangen zu haben, verstümmelten sie den Aermsten, der sich mir aufopferte, im Regen lag er, tief im Schlamme vor der Burg im Graben, ohne Arme und Beine, ein schauderhafter Rumpf; aber er klagte nicht, er verrieth nicht das Geheimnis; in den zwei Tagen und Nächten, als er in unaussprechlicher Pein verschmachtete. Einige gefangene Griechen und selbst Franken sahen und sprachen ihn dort, die nachher die Mähr nach Europa brachten, so in Martern sei Balduin verschieden. – Nachher, als der Kaiser Heinrich, mein jetzt auch längst verschiedener Bruder, wieder durch Gesandte Unterhandlungen mit den Bulgaren anknüpfte, gaben sie vor, ich lebe noch, um Vortheile zu erlangen, waren aber selbst vom Gegentheil überzeugt, und mußten nachher eingestehn, Balduin sei langsam und ruhig im Gefängniß gestorben. Dies ist die Ursache und der Zusammenhang der Dinge, weshalb später in Europa von meinem vermeintlichen Untergange so verschiedene Gerüchte im Umlauf waren. – Ich indeß schmachtete unerkannt und vergessen im Kerker, unter Knechten und geringen Menschen. Ich hatte gehofft, mit andern Gefangenen ausgelöset zu werden; aber Das, was mir das Leben gerettet hatte, war jetzt die Ursach, daß man mich nicht achtete und für unbedeutend hielt, indem man mich völlig vernachlässigte, ohne mir doch die Freiheit zu geben. Hier nun, in der dunkeln Einsamkeit des Kerkers, von Allen gemißhandelt, zum Tiefsten der Menschheit erniedrigt, demüthigte ich mich in meiner Schmach vor dem Herrn und erkannte meine Missethat und seine strafende Hand. Gebet, Reue, Thränen, Zerknirschung vor ihm waren meine Speise und mein Labsal. Wie erschien mir jetzt mein Kriegsübermuth, jener Rausch und Wahnsinn, jene Frevel und Schändungen der Kirchen und alles Göttlichen, jenes Vernichten und Verhöhnen aller seiner Gebote, durch welche ich mich, fast mährchenhaft, zu jenem verderblichen Throne hinaufgeschwindelt, der mich nun um so tiefer in den Abgrund unermeßlichen Elendes gestürzt hatte. Nein, wer dergleichen in Frevel wie in Buße, in Erhebung wie in Erniedrigung nicht selber erlebt hat, kann es nicht fassen, sein Gemüth versteht nicht die räthselhafte Umkehrung, völlige Umwandlung des Herzens und aller Wünsche. Wer mich jetzt auf jenen furchtbaren Thron so vieler schändlicher Kaiser und eines völlig entarteten Volkes zurückgeführt hätte, den würde ich als meinen ärgsten Feind verabscheut haben. So that ich denn ein feierliches Gelübde, wenn mir mein Heiland und Gott aus diesem Elend hülfe, auf immer diesem griechischen Thron zu entsagen und auch meinem Lande auf fünf Jahre unbekannt zu bleiben. Das war in einer Nacht feierlich beschworen worden, Gott, dem Heiland und meinem Schutzpatron. Es fügte sich, daß die alte Mutter des Kerkermeisters ein inniges Erbarmen zu mir faßte. Sie beredete den Sohn, mir etwas mehr Freiheit zu gestatten. Dieser löste zwar noch meine Ketten nicht, aber dennoch mußte ich es für ein Glück und eine Gnade des Himmels achten, daß ich, der Kaiser, gefesselt jetzt die Gemächer des Gefängnisses besuchen, den Eingekerkerten ein Diener und den Knechten des Meisters ein Helfershelfer seyn durfte. Da ich ruhig blieb, mich in meine Bestimmung fand und niemals den Wunsch nach Freiheit äußerte, so traute man mir endlich, man gewöhnte sich so völlig an mich, daß ich nach einem Jahre zum Hause und zur Familie ohne weitere Untersuchung gehörte. Die Ketten hatte man mir schon seit Monaten abgenommen. So fügte es sich, daß an einem großen Fest Mutter und Sohn, dessen Frau und Kinder, alle im Hause des Gefangenwärters, indem sie fröhlich und trunken auswanderten, meiner ganz vergaßen; ich verließ im Getümmel das Schloß und die Stadt und wandelte eilend, ohne Nahrungsmittel und Geld, in das nahe Gebirge. Bettelnd gelangte ich in der unbekannten Gegend tief in öde Steppen und fast unbewohnte Fluren. Eine Krankheit überfiel den Hungernden, der an Allem, auch an Kleidern, Mangel litt. So fand mich im Gebirge ein Streifzug von fremden, wilden Kaufleuten, die Menschenhandel trieben. Ich war ihnen als Waare schon fast zu schlecht; auf Gerathewohl und aus einem geringen, thierischen Mitleid luden sie mich auf. Ihr Zug ging nach Syrien. Hier verkauften sie die übrigen Sklaven, und mich, fern ab, in einsamer Gegend, einem unbemittelten Bauer, der mich in seiner Armuth nur um so härter zur Arbeit trieb, um sein weniges Geld nicht zu verlieren, das er für mich ausgegeben hatte. Gefesselt, in einem kleinen Hause Nachts versperrt, sah ich Niemand, als meinen Peiniger. Er lebte dürftig mit einem alten Weibe und ich war sein einziger Knecht. Seht, Freunde, noch jetzt sind diese meine Hände von der allzuharten und mir damals ungewohnten Arbeit geschwollen und rauh. Meine Schwachheit, die ich mit allen gebornen Menschen theile, ließ mich oft Thränen vergießen, und der Stolz, der uns nie ganz verlassen will, schämte sich oft, daß ich als verworfner Sklave so einem Verworfnen die niedrigste Arbeit thun mußte, in elenden Lumpen, bei schlechter Kost, verdorbenem Wasser und verschimmeltem Brot, und wie oft von der Peitsche des mißvergnügten Menschenfeindes heimgesucht, den ich immer nicht verstehen lernte, wenn ich auch schon seit Jahren in seinem Felde arbeitete. Aber auch in dieser trübseligen Einsamkeit suchte mich der Herr heim und überschüttete mich mit seiner Gnade. Ich fühlte seine Nähe und war glücklich. Aber ich empfand auch, daß er für meine Sünden ein größeres Opfer, eine strengere Züchtigung verlange, daß er mich in diese neue Schule gethan habe, um meinen Glauben und meine Reue noch stärker zu erwecken. Fünf Jahre hatte ich ihm nur und meiner Besserung schenken wollen: so genau, so geizig hatte ich mit ihm gehandelt, den ich doch so tief verletzt hatte. Ich erneuerte mein Gelübde, noch feierlicher, noch inbrünstiger, und schwur, möge der Herr mit mir thun, was er wolle, mich in dieser strengen Schule lassen, oder mich lossprechen, zwanzig volle Jahr, vom ersten Auszug aus Gent zum Kreuzzug gerechnet, sein Knecht und elender Bettler zu bleiben, mich Niemand zu offenbaren, kein weltlich Kleid an meinen Leichnam, keine Waffe in meine Hand kommen zu lassen und, bis diese zwanzig Jahre verstrichen, von Almosen zu leben. Die fünf Jahre, die ich dem Herrn früher geschenkt hatte, waren nun gerade verstrichen und acht Jahre war ich schon von meinem hiesigen Vaterlande entfernt. Nichts hatte ich seitdem von Griechenland oder Europa vernommen, in diese Einsamkeit reichte keine Kunde, die Welt stand hier still, und kein Gerücht, nicht Krieg, nicht Frieden berührte diese armselige Hütte. An einem trüben Regentage hörte ich Fußtritte von Pferden. Ich erstaunte und erschrak fast wie vor Gespenstern, denn keine Straße führte dort vorüber, ich hatte in diesen fünf Jahren kein fremdes menschliches Antlitz gesehen. Aber es waren in der That Reisende, und wie ich an ihrer Sprache vernahm, als sie näher kamen, sogar Franken. Was ich fühlte, kann ich nicht in Worten sagen; mein Herz in mir weinte, mein Athem schluchzte, das Licht verfinsterte sich mir und ich glaubte vor unaussprechlicher Freude zu sterben. Sie waren verirrt, sie fragten mich nach dem Wege, da ich der einzige Mensch war, den ihre Augen weit und breit ersahen. Ich faßte mich und bat sie, fränkisch mit mir zu sprechen. Und nun, fuhr ich fort und umfaßte weinend ihre Knie, da mir Gott so gnädig gewesen ist, Euch, wie durch ein Wunder, mir so unerwartet in meine Einöde herzusenden, o so laßt Euch eines armen, verlassenen, höchst unglückseligen Christen erbarmen, nehmt mich aus dieser Knechtschaft, Ihr gütigen, lieben Herren, daß mein Fuß wieder die christliche Erde betreten, daß mein fast blind geweintes Auge wieder eine christliche Kirche, den Altar und Priester schauen möge: o erbarmt Euch, so fleht der Unglückseligste, kauft mich Aermsten los von einem eben so armen Herrn, ich will Euer Diener seyn unterwegs, ich will Euch keine Kosten weiter machen, oder, wenn es seyn muß, verkauft mich wieder auf der Reise, nur in einer Gegend, wo Menschen wandeln, wo ich sprechen höre, wo ich hoffen darf, von dort einmal wieder nach christlichen Ländern zu kommen. – Der Himmel hatte mir fromme und liebevolle Reisende zugesendet, reiche Kaufherren, die neben ihren Handelsgeschäften zugleich die heiligen Wallfahrtsörter besuchten. Sie kauften mich los, gaben mir Kleider, nährten mich. Ich reisete mit ihnen bis an die See, dann landeten wir nach manchen Unfällen bei der großen Stadt Neapel. Hier verließ ich sie mit herzlichem Dank. Sie hatten mich nicht ausgeforscht, sie waren zufrieden damit, daß ich ein Krieger des Kreuzheeres gewesen sei. – Jetzt ward meine Reise Wallfahrt, Rom besuchte ich als Pilgrim, sah den heiligen Vater bei den großen Kirchenfesten, versäumte keinen Tempel und keine Feierlichkeit. Dann pilgerte ich durch Welschland, nach Deutschland, den Rhein hinunter, und verehrte in Köln die heiligen drei Könige, die Reliquien, die der große Friedrich Barbarossa nach der Zerstörung von Mailand dorthin gesendet hat. So waren wieder zwei Jahre, und mehr als zehn vergangen, seit ich von Gent Abschied genommen hatte. Sollte ich nun, als ich den Boden meines Landes betrat, mein heiliges Gelübde brechen und meineidig werden? Was hätte mich dazu zwingen sollen? Es waren Unruhen in Stadt und Landschaft; aber hätte ich sie nicht vermehrt, wenn ich mich gezeigt hätte? Würde man meiner Erscheinung geglaubt haben? Kein Fremder hatte sich eingedrängt, keiner suchte meinen Stamm zu stürzen, diesem waren Alle getreu, und die Partheien befehdeten sich nur unter einander mit wechselndem Glück. Mein Glück, mein Heil war jetzt nur, mein Gelübde dem Himmel treu zu bewahren, der mich so gnädig errettet hatte. Und nichts zerreißt den Bund mit Gott, nichts trennt uns so gefährlich vom Himmel, als Weltgeschäfte, Staatskunst und Regentenpflicht. Das haben wohl alle edle Gemüther erfahren, die diesen Kampf und den mit dem Himmel bestanden. Und wie, weshalb sollte ich mich meiner Tochter entdecken und vertrauen? Sie kannte mich nicht, als ich das Land verließ, sie hat ihre Kindheit und Jugend nicht unter meinen Augen verlebt: wie sollte ich ihre Ruhe und ihr Glück stören, da ich in der Ferne sah, daß es ihr wohl erging, da ich, so oft ich nur wollte, von ihrem Wohlbefinden hörte? Ja, auch in der Nähe habe ich sie gesehen, zuerst, schon vor zehn Jahren, als sie noch ein Kind war, in Antwerpen, damals, als ich kaum zuerst mein Land wieder betreten hatte; später in Brügge, in Brüssel, und noch im vorigen Jahre in Gent. So lebte ich, betete und war glücklich in meinem Walde und meiner kleinen Zelle. Schon seit einigen Tagen war die Zeit meines Gelübdes vorüber, aber, Ihr wißt es Alle, ich zögerte noch. Ein Zufall machte, daß jener Robert mich zuerst erkannte, daß des Volkes Andrang mich zu halbem Geständniß zwang, sonst wäre ich wohl noch lange meiner Verborgenheit treu geblieben. Und jetzt, wenn ich auftrete, wie so Viele es von mir fordern, – werde ich den Sitz meiner Vorfahren wieder einnehmen? Ich weiß es noch nicht, und werde mich, wenn es so weit gediehen, erst dann mit dem Himmel berathen. Aber sorgen werde ich, meine geliebte Johanna würdig zu vermählen, damit ich meine Unterthanen glücklich in Zukunft weiß.

Bei diesen letzten Worten haftete der Blick des Redners, wie zufällig, auf Wachsmuth, der in seiner Nähe stand. Das Antlitz des Jünglings wurde glühend roth, und er suchte es, höchst verlegen, zu verbergen, aber Keiner hatte seine Erschütterung bemerkt, denn Alle waren in Rührung und Freude aufgelöst. Viele Thränen flossen, viele Hände hoben sich in Dankbarkeit zum Himmel, Manche schluchzten laut, einige Nahestehende warfen sich vor dem Redenden knieend nieder und küßten den Saum seines Gewandes. Nur Conrad behielt in der erschütterten Menge seine ruhige Miene, sein bleiches Gesicht verlor die strengen Züge nicht, sein schwarzes Auge blickte eben so ernst als vorher. Alle scheinen befriedigt, sagte er endlich, und meine vorzüglichsten Einwürfe sind allerdings beantwortet; doch verlangt wieder die Pflicht von mir, noch weiter zu forschen. Es erhob sich ein Murren, aber ohne sich irgend stören zu lassen, fing er jetzt ein langes Gespräch mit dem Fürsten an, erinnerte ihn an längstverflossene Jahre, fragte nach Begebenheiten, bei denen er zugegen gewesen war, und erforschte die allerkleinsten Umstände, die unscheinbarsten Zufälligkeiten; der fremde Mann wußte auf Alles Rede und Antwort, so wie den gründlichsten Bescheid zu geben. Die angefangenen Erzählungen endigte er alle, ja berichtigte manche Dinge, in denen sich, wie es einige der ältesten Zuhörer wohl einsahen, Graf Conrad geirrt, oder die er vergessen hatte. Nachdem diese Fragen, dies Erzählen und Antworten lange gewährt und schon die Unzufriedenheit manches Gegenwärtigen erregt hatten, stand endlich Conrad plötzlich auf, wie in heftiger Bewegung, fiel auf die Knie und küßte die Hand Balduins, indem er unter Vergießung häufiger Thränen laut ausrief: empfangt, huldreichster Kaiser, die Huldigung Eures treuesten Vasallen! Vergebt mein Zögern, ich wollte Alle, so wie mich überzeugen. Kein Sterblicher, als nur Balduin, unser großer Fürst, kann die Umstände wissen, die ich jetzt von Euch erforschte.

Im Augenblicke stürzten Alle im Saale nieder, riefen: Balduin! Balduin! und schwuren Treue, Liebe und Gehorsam; Friedrich riß ein Fenster auf, und zehn Trompeten mußten, wie es das verabredete Zeichen war, laut auf die Straße ihre Töne hinausschmettern. Noch lauter wurde der muthige, freudenreiche Zuruf von unten beantwortet. Die Zünfte hatten sich schon mit ihren Fahnen versammelt, die Ritter schaarten sich, die Uebrigen der Obrigkeit, die bis jetzt noch gefehlt hatten, drängten sich in das Haus und den Saal, allenthalben Freudengeschrei, Jauchzen, Musik und Zinken und Trompeten betäubten und ermunterten zu noch lauterem Jubel der Schreienden. Mit Majestät und erhabener Haltung empfing Balduin den Schwur der Landesherren, Ritter, Vasallen und Edeln, so wie der Räthe und obrigkeitlichen Personen. Dann zeigte er sich auf dem Altan der jubelnden Menge, ging dann hinab und zog durch die Straßen der Stadt, sprach mit Allen, lobte und ermunterte ihre Treue. – Man ordnete indeß eine Gesandtschaft an den Regenten und die junge Fürstin, man theilte die Bürger und Edle in Schaaren und gab ihnen Waffen, im Fall Graf Hugo den Fürsten nicht anerkennen sollte, und die ganze Stadt erschien wie ein freudiges Feldlager in Lust um den geliebten Fürsten versammelt.

Am Abend dieses tumultvollen Tages, als die Stadt wieder etwas beruhigt war, sagte Wachsmuth zu seinem Vater: Leben wir nicht, wie in einem wunderbaren Gedichte? Oft rufe ich mich an und denke, ich träume nur, und strebe zu erwachen. Welch ein Glück ist uns vom Himmel gefallen, daß ich nun mit sehenden Augen den Helden vor mir erblicke, der meiner Kindheit schon so bedeutsam vorschwebte! Und wie gütig er gegen uns ist, wie freundlich, herablassend und vertraut zu mir! Wie glücklich wird Johanna seyn, den edelsten Vater in die Arme zu schließen: und meine erstorbene Hoffnung schwingt nun wie ein Adler die mächtigen Flügel. In diesen Tagen schon sehen wir sie wohl wieder, und Alles endigt so selig, groß, erschütternd und lieblich, wie es uns nur neulichst noch kein wahnsinniger Traum vorgaukeln durfte.

Conrad betrachtete seinen Sohn mit einem scharfen, prüfenden Blicke. Du meinst also, im Hafen zu seyn? fragte er ihn dann. Wird sie denn den Vater so unbedingt, geradehin anerkennen wollen? Und wenn sie sich drein ergäbe, wird es der schlaue Hugo über sich vermögen?

Wie? rief Wachsmuth aus, nach allen diesen Beweisen? Der Ueberzeugung der Landschaft, des Adels, Ritterstandes, so mancher Aebte? Nach Eurer Prüfung und Euerm Ehrenwort? Wer kann dieser Majestät des Fürsten, dieser Würde sich entziehn? Und das eigene Kind, die zarte Johanna sollte ihr Herz so unnatürlich abwenden können?

Der Vater sagte unwillig: Du bleibst immerdar ein Neuling in dieser unserer klugen verwickelten Welt! Du bist leichter überzeugt, Du bist gerührt, weil es mit Deinem Vortheil zusammenhängt: Jene, die verlieren, werden sich dem Gefühl und der Wahrheit widersetzen.

Kann man denn, rief der Sohn, glauben, was man will? Giebt es keine Wahrheit, keine Tugend? Wie glücklich muß auch Hugo seyn, seinem Fürsten, dem Helden, das Scepter wieder zu übergeben? Und was büßt er ein?

Conrad wendete sich, wie unwillig, ab. Die Jugend, sagte er dann, urtheilt so frischweg, wie ihr leicht wallendes Blut eben in Bewegung gesetzt ist. Begleite morgen die Gesandtschaft nach Gent, und Du magst Dich dort selbst überzeugen. Aber erlebe, mein Sohn, indem Du lebst. Wir schelten den Knaben, der nach einer Stunde sein Buch schließt, ohne seine Aufgabe gelernt und begriffen zu haben. Und das große Buch der Erfahrung und Geschichte wird vom Schicksal vor uns aufgeblättert, und wir sehen kaum hinein, und lernen die großen Ziffern und Buchstaben der Welt nicht lesen und verstehn. Wie groß war dieser Philipp von Frankreich! Wie rang er mit und gegen England. Wie bekämpfte er den Usurpator Johann, als die Waise, der junge Arthur, von diesem verdrängt war! Und bald gab er nach, als es sein Vortheil heischte, vergaß, was Ehre und Pflicht forderten, verband sich mit dem Feinde und ließ den Jüngling untergehn. Und dennoch nennt ihn Welt und Geschichte einen großen Herrscher. Sein Sohn, Ludwig, der jetzt regiert, dieser fromme, sanfte Herr, dessen Tugend und Enthaltsamkeit, Adel und Gottesfurcht wie ein Muster der Welt dasteht, widersetzte sich dem hochverehrten Papst, als er glaubte, England mit dem Schwert gewinnen zu können. Recht ist erst Recht, wenn Macht es anerkennt und so bekräftigt: dem Unrecht wachsen, vom Glück begünstigt, Engelschwingen, um sich vor den geblendeten Augen der staunenden Menschensöhne bis in den Himmel verklärt zu erheben. Ist Deine Tugend nicht mit Klugheit gepaart, so bist Du bald auf der Gasse der Spott Derer, die Dich gestern im stillen Zimmer bewunderten.

Wachsmuth war von diesen Reden wie betäubt. Er verstand seinen Vater nicht, indem er zu sehr erstaunt war, diese Worte zu vernehmen. Vater und Sohn schieden, jeder verstimmt und unzufrieden mit dem Andern.



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