Ludwig Tieck
Victoria Accorombona
Ludwig Tieck

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Zweites Kapitel

Da die Familie Accoromboni sehr viele Bekannte und Freunde hatte, vorzüglich im nahen Rom, so war es natürlich, daß alle diejenigen, die von ihnen wußten, bald durch das Gerücht jene Begebenheit erfuhren, und zwar mit Übertreibungen, so daß manche glauben mußten, die junge und schöne Vittoria sei der Welt durch einen frühzeitigen Tod entrissen worden. Die Mutter, welche ihre tiefe Rührung verbarg, da sie die Äußerung einer jeden Schwäche scheute, hoffte den jungen Camillo bald wiederzusehn und ihm noch einmal Dank zu sagen und bei ihm selbst zu erforschen, auf welche Art sie ihm vielleicht auf seinem künftigen Lebenswege nützlich sein könne. Als er aber nicht erschien, ward sie besorgt und Vittoria noch mehr, daß der Jüngling wohl erkrankt sein könne, denn sie konnten nicht glauben, daß er, ohne von ihnen Abschied zu nehmen, nach Rom zurückgereist wäre. In dieser Erwartung sagte die Mutter zur Tochter an einem Morgen: »Mein Kind, es ziemt sich nicht, daß wir uns um den jungen Menschen, dem wir dein Leben zu danken haben, so gar nicht kümmern. Er ist arm, seine Eltern, wie ich gehört habe, leben in der Stadt nur sehr kümmerlich, man sagt, daß er sich dem geistlichen Stande widmen soll, wir müssen also irgendeine Summe ihm oder seinen Eltern einhändigen, damit er seine Studien bequemer fortsetzen könne, und ihn nachher einigen unsrer wohlwollenden Gönner dringend empfehlen, damit er bald zu einer einträglichen Stelle befördert werde, so daß er nachher seine armen Eltern selber unterstützen kann. Bei solchen Gelegenheiten kehrt mir immer wieder der Wunsch zurück, daß ich reich sein möchte, um durch meine Wohltat das Glück eines solchen Hülfsbedürftigen auf dauernde Weise gründen zu können. Ans jeden Fall werde ich ihm die hundert Skudi geben, die ich neulich für unerwartete Fälle von meinem Ersparnis zurücklegen konnte. Empfehlung, wenn sie wirksam ist, kann nachher als eine große Summe angerechnet werden. Was meint ihr, Kinder, Flaminio und du, Vittoria, zu dieser meiner Absicht?«

Flaminio stimmte unbedingt der Mutter bei, doch Vittoria schüttelte lächelnd den Kopf, so daß die Mutter sie betroffen ansah und mit ihrem forschenden Blicke ihre Meinung erraten wollte. »Nein! nein!« rief das lebhafte Mädchen, »glaubt mir nur, unser Camillo ist ganz anders, als wie ihr ihn euch denkt. Ich habe ihn seit lange beobachtet und kenne ihn ganz genau. So blöde das junge Wesen scheint, so schwachgemut und ungewiß in seinem Denken und Tun, was vielleicht daher kommt, daß sein Charakter noch nicht ausgebildet ist, so stolz ist doch dieser Jüngling, so daß er gewiß, verwundet und gekränkt, diese Wohltat, die ihm wohl gar als eine Bezahlung erscheinen möchte, ausschlagen würde. Glaube auch nicht, liebe Mutter, daß es sein Wunsch ist, ein Geistlicher zu werden. Er hat mir schon vor einigen Monaten in Rom bekannt, daß ihm dieser Stand verhaßt sei; Soldat möchte er werden oder als Handelsmann auf Reisen gehn, eine Seefahrt versuchen und fremde Länder sehn. Wunderliche Schicksale der Seeleute, der großen Feldherren und Kondottieri – das reizt ihn, solche Bücher wie das alte Gedicht von dem Feldhauptmann Picciuini liest er am liebsten und versäumt, wie er nur irgend kann, Messe und Gottesdienst, so daß ihm auch viele seiner Schulgenossen feind sind und ihn erbost nur den Ketzer und Lutheraner nennen. – Und dann – hundert Skudi! Liebe Mutter – wenn ich nun doch einmal bezahlt werden soll, bin ich denn nicht mehr wert? Diese Taxe ist allzu gering, dafür schlage ich mein Hündchen noch nicht einmal los.«

»Törichtes Wesen!« sagte die Mutter lächelnd, »wie kindisch du zuweilen sprechen kannst, da dich doch viele kluge Männer in manchen Stunden wegen deines Verstandes bewundern wollen. Das Unbezahlbare, das Höchste läßt sich niemals mit Münze ausgleichen, das weiß ich so gut wie du. Aber ebendeswegen muß ein Leben wie das des Kindes, das die Mutter, wenn es entflohen ist, nicht mit Millionen zurückkaufen kann, mit Dank, mit Kleinigkeit, mit Hülfe erwidert und belohnt werden. Der Wohltäter fühlt dies auch selbst und nimmt das, was Freundschaft reicht, wenn er es bedarf, mit Rührung an, als wenn es ein großer Schatz wäre. Sind wir doch immerdar mit dem Leben und den Elementen, die uns beherrschen, im Kampf: kann ich dem Nebenmenschen diesen erleichtern, so tue ich, selbst durch eine Kleinigkeit, etwas Gutes.«

»Alles wahr,« sagte Vittoria, »aber darum ist auch in diesem Falle, der so gewichtig ist, Wohlwollen und Freundschaft, ein Entgegenkommen im Vertrauen, ein kindliches und brüderliches Verhältnis, so daß ein solcher Wohltäter mit zur Familie gehört – für den Zartfühlenden der wahre Dank und die größte Belohnung. So sollten wir mit diesem freundlichen und bescheidenen Camillo sein und auch in Rom seine armen Eltern manchmal sehn, die sich gewiß durch solche Auszeichnung sehr geschmeichelt und beglückt fühlen würden.«

Die Mutter stand auf und ging heftig im Saale auf und ab. »Also dahin sollte es kommen?« sagte sie und setzte sich wieder langsam in den Sessel. »Vielleicht bereitet sich uns allen von diesem Zufalle aus ein trauriges Schicksal. Eben alles dies, was du mir deklamierend hergesagt hast, wollte ich vermeiden und unmöglich machen, weil ich das menschliche Herz besser kenne als du. Weil sich so natürlich ein vertrauliches Verhältnis, eine brüderliche Annäherung aus solchem Unglück entwickelt, weil für dieses ein eigentlicher Dank und eine Belohnung unmöglich sind: so will der erst so großmütige Wohltäter nur gar zu leicht das gerettete Wesen selbst an Zahlungs Statt und vernichtet so seinen Dienst, indem er sich das Liebste eigennützig zum Opfer bestimmt; die Gerettete ist oft im Überschwang des Dankes schwach genug, eine solche Schuldforderung anzuerkennen, ohne einzusehn, daß sie auf diesem Wege nur später eines andern Todes stirbt. Und sollte ich dich je auf diese Weise verlieren können, so wäre es mir eben auch nicht schmerzlicher, wenn dich die rasenden Wogen dort verschlungen hätten. Gerade darum muß nun dieser Mattei unser Haus so wenig wie möglich betreten; wir sind ihm zum höchsten Dank verpflichtet, aber wir müssen uns ihm mehr als je entfremden; er muß fühlen, daß wir in verschiedenartigen Elementen leben und daß unsere Lebenskreise sich niemals berühren können.«

»Ihr überrascht mich, Mutter«, sagte Vittoria hoch errötend. »Nein, ich bin diesem kleinen freundlichen Camillo so gut, fast wie unserm Flaminio da – aber deswegen – – was du andeutest, Frau Julia, davon könnte ja niemals die Rede sein. Du sagst, du kennst das menschliche Herz besser als ich – kann sein; aber ich kenne mein eigenes Herz, mein Wesen, das dir doch vielleicht in einigen Teilen noch fremd und unbekannt ist.«

»Wie die Jugend in ihrer Unerfahrenheit spricht!« antwortete die Matrone nicht ohne Heftigkeit. »Dein Herz! Dein Wesen! Hast du denn schon etwas derart, da du noch gar kein Schicksal, keinen großen, mächtigen Schmerz erfahren und erlebt hast? Ehe das Eisen geschmolzen, gehärtet und gehämmert wurde, ist es eine unscheinbare Erdscholle, ohne elastische Kraft, Schneide und Widerstand. Dein Wesen ist nur noch Traum und Ahnung; was du bis jetzt warst und geworden, ist nur noch Widerschein meines Geistes, Denkens und meiner Erfahrung. Glaube mir, Kind, es schlafen in uns gräßliche Gespenster, tief im Hintergrund unserer Seele, wohin der Blick der spielenden Jugend und die vorlaute Phantasie niemals reicht. Man lernt alle Menschen früher als sich selber kennen. Wäre nun dieser Camillo immerdar um dich, gewöhnte sein Gemüt so an deinen Umgang, daß dieser ihm zu seinem Dasein unentbehrlich würde, und du wolltest ihn nun als einen Überlästigen abschütteln, so würde er aus Eitelkeit, verletztem Gefühl, Zärtlichkeit und Kränkung in eine solche tödliche Leidenschaft geraten, so in Wut, Eigennutz und Aufopferung rasen, so vor deinen Augen hinsterben, daß dein Mitleid, Kummer, Gewissen, die Vorwürfe, die du dir machtest, dein eignes Wesen dir ganz verhüllen könnten, daß du auch auf eine Zeitlang glaubtest, dieselbe Leidenschaft zu empfinden, und du zu spät deine Aufopferung bereutest. Glaube mir, alles dies geschieht so gar nicht selten, und so erwachsen nur zu oft aus scheinbarer Liebe die unglücklichsten Ehen. In gewissen Stimmungen werfen wir unser Selbst und Heiligstes mit mehr Leichtsinn hinweg, als wir dem gierigen Hunde den Knochen hinschleudern. Eine freie und edle Wahl, meine Vittoria, muß deine Vermählung mit einem ausgezeichneten und hochstehenden Manne herbeiführen, er muß deiner wert sein, so daß dein reiches Wesen durch ihn gewinnt. Dazu gehört vor allen Dingen, daß er dich versteht, daß er die Welt und den Adel echter Geister kennt; ein solcher muß dich erheben, du nicht ihn. Das dürftigste Schicksal, das kläglichste, entwickelt sich in den Ehen, in welchen das Weib höher steht als der Mann.«

Vittoria hatte ihr feuriges Auge sinken lassen, ihr schönes Haupt ruhte zwischen beiden Händen, indem sie die Arme auf den Tisch stützte, so daß die fließenden Haare dunkel wie eine Wolke niederwallten. Plötzlich sah sie auf, wie von einem Traume erwachend, und erschrak fast, als sie ihren Bruder Flaminio in der Nähe erblickte. Sie stand auf, flüsterte dem Bruder leise etwas zu, worauf dieser das Zimmer verließ. »Was hast du, Tochter?« fragte die erstaunte Mutter.

»Ich wollte dir nur sagen,« erwiderte sie, »und das sollte mein junger Bruder nicht hören, daß ich gar nicht, niemals heiraten will und werde.«

»Du hast heute deinen törichten Tag,« erwiderte jene, »kann mein Kind sich so etwas vornehmen oder beschließen?«

»Ich sehe wohl, Mutter,« sagte Vittoria tief bewegt, »daß du mich, trotz deiner Liebe, nur geringe schätzest. Was nützen uns Bücher, der Umgang mit verständigen Männern, die Kenntnis der Vorzeit und alles, was uns die edelsten Geister singen und sagen, wenn das alles nur wie an Klötzen und Steinen vorübergeht und nicht zu unserem Geiste sagt: Stehe auf, die Morgenstunde ist da, rufe aus allen Kammern deines Herzens und Gehirns die Diener, daß sie an die Arbeit gehn, daß in den Wellen des Blutes Entschlüsse und Kräfte erwachen, die das Geistige, Unsichtbare in Tat und Wahrheit verwandeln! Ja, Mutter, und so bin ich geworden, bin so geschaffen, daß ich ein Grauen vor allen Männern empfinde, wenn ich den Gedanken fasse, daß ich ihnen angehören, daß ich ihnen mit meinem ganzen Wesen mich aufopfern soll. Sieh sie doch nur an, auch die besten, die wir kennen, auch die vornehmsten: wie dürftig, arm, unzulänglich und eitel sind alle, wenn sie alle Verlegenheit der ersten Besuche ablegen und sich so recht frei und offen zeigen. Diese klägliche Lüsternheit, die aus allen Zügen spricht, wenn das Wort Liebe oder Schönheit nur genannt wird; diese alberne hohnlächelnde Tugend, die jene andern, welche für moralisch gelten wollen, zur Schau tragen; diese Dienstbeflissenheit und das Kriechen vor den Weibern, die sie doch in ihrem Herzen verachten, – o weh! wenn ich in diesen Gesellschaften meine Heiterkeit behalten soll, so muß ich mich in einen Traum von Leichtsinn hüllen und meine Beobachtung zum Schlaf einwiegen. Und diesen Herzlosen, Gelangweilten, Geldgierigen, nach Ehrenstellen und Lob der Großen Durstenden soll ich das Kleinod meines reinen Leibes, meiner Keuschheit und Unschuld hingeben, wie man sich Tisch, Gefäß, Buch oder sonst ein Totes aneignet? Und – nur mit Entsetzen kann ich an diese Aufgabe unsers Lebens denken – wie aus einem Schrank, wie aus lebendigem Sarge soll mir unter Qualen ein Wesen genommen werden, das ich bin und doch nicht bin, das in seinem ersten materiellen Blödsinn mich ebensowenig kennt, vielleicht weniger wie die Nelke, die ich in meinem Scherben erziehe. O, mir graut, nur davon zu sprechen. Und dies Leiden, den Graus, den Abscheu zu erleben, wirklich zu erleben, ich ertrüg es nicht! Wie sehr tatest du recht, Mutter, mir unsere Bandello, Boccaz und den leuchtenden Ariost nicht zu verschließen, wie manche Eltern tun, denn statt zu verlocken, hat sich diese sogenannte Liebe, die immer nach diesem entsetzlichen Ziele strebt, die berühmte allwaltende Leidenschaft mir nur verhaßt gemacht.«

»Welche Unnatur!« rief die Mutter aus, »Kind, deine entartete Phantasie ist es nur, die dir Grauen erregt, nicht diese Bedingung des Lebens selbst, die durch göttliche wie menschliche Gesetze ihre Weihe, wie alles Heilige, erhalten hat.«

»Ich verstehe ja auch«, erwiderte die Tochter, »den Willen Gottes und der Natur, ich verehre diese Satzung und begreife ihre Notwendigkeit – aber warum soll ich mich ebenfalls dem Ausspruch fügen und nicht zurücktreten dürfen wie so viele Priester, Nonnen und Heilige?«

»Und in ein Kloster wolltest du dich vergraben, du lebensmutiges Kind?«

»Nein, Mutter,« rief Vittoria aus, »lieber sterben! Ich verehre die Ehe; bist du, herrliche Julia, doch Mutter geworden, und Mutter vieler Kinder; muß ich dir doch dafür danken, da ich nur durch dich in dies freundliche Dasein gerufen wurde. Laß mich gewähren. Vielleicht erzieht mich Zeit und Erfahrung noch anders. Du meinst, der Mann müsse höher stehen als das Weib. Noch habe ich keinen gesehn, der sich dir nur vergleichen dürfte; meinen teuern Vater habe ich nicht gekannt und kann mir kein Bild von ihm machen; aber müßte ich durchaus dem Gesetz nachgeben, so scheint mir vielmehr ein Mann wie Camillo meiner Ehe zu passen, den ich eigentlich ohne alle Bitterkeit unter mir fühle.«

»Ich werde noch lange«, sagte die Matrone, »über unser Gespräch und deine sonderbaren Meinungen nachzudenken haben. Demjenigen. was allem Lebensreiz, bewußt und unbewußt, der Poesie und aller Kunst zum Grunde liegt, dem willst du entsagen, und doch bist du für Malerei und Poesie begeistert, doch hast du Sinn für die männliche Schönheit: wie willst du mit deiner Unnatur dich in geselligem lebenden Kreise bewegen?«

»Mit Mut und Entschlossenheit macht sich alles«, erwiderte die Tochter mit heiterer Miene. »Gestern noch las ich das hübsche Büchelchen von der Tullia d'Aragon, ›Über die Unendlichkeit der Liebe‹. – Sieh, diese weltberühmte Frau hat sich niemals vermählt und wurde von der ganzen Welt vergöttert, in Bildnissen verherrlicht, und der große Bembo, der herrliche Poet Bernard Tasso und so viele andere berühmte Namen haben ihr gehuldigt.«

»Kind! Kind!« sagte die Mutter mit schwerem Seufzer – »wohin gerätst du? Dieses Wesen, so schön, so poetisch sie war, durfte sich an Tugend und Hoheit niemals mit der vermählten Colonna und andern Dichterinnen vergleichen: du weißt auch, daß sie zum Teil deshalb bekannt und beliebt war, weil ihre Sitten, so sagt man, sich durch Leichtsinn auszeichneten; ihre platonische Liebe soll mehr als einmal zur irdischen herabgestiegen sein, und so könnte, weil auch du schön bist, dein Eigensinn dich, statt zur Gattin, zur Buhlerin machen.«

Vittoria legte der Mutter den Finger auf den Mund und sagte: »Bitte! bitte! Was sagt die Welt nicht alles von großartigen Frauen. Ich denke mir, daß sie ein schönes, reines Leben führte, das Edelste jener Gelehrten, Fürsten und Dichter sich aneignete, die zu ihren Füßen saßen. Hat nicht der ernste pedantische Orthodox, der alte Speron Sperone in Padua, einen eigenen Dialog über die Liebe geschrieben, wo sie auftritt und von dem großen Bernardo Tasso verehrt und gepriesen wird? Dieser herrliche Dichter verleugnete auch nie, daß sie seine Göttin war.«

»Vergiß nicht,« sagte die Matrone, »daß der finstere Sperone damals jünger war und daß er gewissermaßen in einem spätern moralischen Dialog alle jene Äußerungen und Meinungen zurückgenommen hat.«

»Um so schlimmer für ihn!« rief die Tochter aus, »denn was einmal wahres Eigentum unsers Geistes war, sollen wir niemals wieder weggeben. Wer gegen sich selbst nicht treu ist, kann es gegen niemand sein. Wer sich verleugnet, wird auch das Göttliche verleugnen. Da helfen sie sich denn freilich mit den traurigen eisernen Schranken einer dürren Moral und einer mißverstandenen Religion.« –

»Camillo vergessen wir ganz darüber«, sagte die Mutter, indem sie aufstand. Sie ging in die Gesindestube und fühlte, daß dieses Gespräch eine Epoche ihres Lebens bilde, denn sie war dadurch in eine ganz andere Stellung zu ihrer Tochter gerückt worden. Diesen strengen Geist des eben erst aufgeblühten Kindes hatte sie nicht geahnet, sie sah jetzt ein, daß der poetische Leichtsinn, das Harmlose des schönen Wesens, der oft kindliche Übermut ebensoviel Vorsatz als Temperament war. Sie sorgte jetzt, das Düstere der Vorstellungen möchte einst über die Heiterkeit den Sieg davontragen. »Schwanken wir nicht immerdar«, sagte sie zu sich, »an der Grenze des Wahnsinns hin? Arbeit, Pflicht, Scherz und Andacht müssen uns immerdar zerstreuen, um nicht in den stets offnen Abgrund hineinzutaumeln, wie sie vor wenigen Tagen dort in den Wassersturz.«

Sie sendete Ursula, die alte Amme, da Flaminio nicht zugegen war, zum Weltpriester hin, um zu erfahren, ob Camillo Mattei nicht gar von jenem Wagnis krank geworden sei, da er noch immer nichts von sich hatte hören lassen. Die berührige geschwätzige Alte freute sich, in dem kleinen Orte, in welchem sie nur wenige Unterhaltung fand, wieder einmal eine neue Bekanntschaft zu machen. Nachdem sie ihre Kleidung verbessert und einen weißen Schleier umgelegt hatte, begab sie sich in das kleine Haus des Priesters. Der Alte sah verdrüßlich von seinem Gebetbuche auf nach der unbekannten Besucherin hin, die sogleich redselig die Grüße ihrer Herrschaft hersagte und sich dann erkundigte, warum denn der junge, liebenswürdige Mattei noch nicht wiedergekommen sei, um die herzlichsten Danksagungen der ganzen Familie zu empfangen.

»Setzt Euch, alte Person, ruht Euch aus,« sagte der Priester; »das Schwatzen muß Euch sehr müde machen. Mein Neffe, Gott tröste ihn, ist krank. Die junge fröhliche Dame ist, wie ich höre, mit weniger selbst als einem blauen Auge davongekommen. So geht es immer mit den Vornehmen und Reichen: wir armes Gesindel müssen alles ausbaden und den Schaden bezahlen. Das Wasser hat meinem jungen Bengel nicht geschadet, aber beim Hineinspringen ist er so heftig auf die spitzen Steine aufgeschlagen, daß Rücken, Rippen, Hüften, alles ein Schmerz ist. Er hat Beulen und ist so blau gefärbt und angelaufen wie der damaszierte Stahl. – Das wißt Ihr doch von Eurer Jugend her, aus der Naturgeschichte, Ihr altes Kind, daß Steine nicht so weich sind wie das Wasser?«

»Lieber Himmel, nein,« sagte Ursula, »das habe ich noch nicht vergessen. Ich habe alle meine Herrschaften aufgesäugt, sonst wäre meine gnädige Signora Julia auch wohl nicht so schön geblieben, und alle die Kinder, vorzüglich aber das älteste, der Herr Abbate, mögen mir vielen Verstand und Einsicht und Gedächtnis weggesogen haben, womit sie nun in der Welt prunken und Aufsehen erregen, aber diese Kenntnis und Einsicht ist mir doch geblieben. Ja, ehrwürdiger Herr, Steine sind in der Regel hart, aber auf verschiedene Art, nach seiner Temperatur ein jeder: aber darauf hinstürzen ist keinem Körper gesund. Sonst hätten die bösen Juden den heiligen Stephanus gar nicht steinigen können, wenn in den Kieseln nicht eine gewisse Härte wäre.«

»Eure Kenntnis wandelt auf dem ganz richtigen Wege,« fuhr der Priester fort; »man freut sich, mit Menschen von Geist und Erfahrung Bekanntschaft zu machen, denn die Welt verdummt immer mehr. Aber meinen Neffen, den haben die Herrschaften, so scheint es mir, verbraucht; denn wenn er auch wieder aufkommen sollte, wird er doch zeitlebens ein Narr bleiben. Da phantasiert und tollt er auf seinem Lager herum und spricht von den alten heidnischen Göttern, von denen er wenigstens ein Dutzend, so schreit er es aus, da unten im Wasserfall kennen gelernt hat. Dann sagt er zur Abwechselung, er sei selbst eine von den alten Gottheiten, und Euer hochgewachsenes Fräulein habe ihn dazu gestempelt. Er meint in seiner philosophischen Raserei, er hätte sich eigentlich, wenn er Menschenverstand gehabt hätte, neulich umbringen sollen und die überweise Vittoria zugleich mit, so würden die beiden jetzt in den elysischen Gärten spazieren gehn und die reifsten und süßesten Maulaffenbeeren von den Bäumen herunternaschen. Von der Religion will er nun gar nichts wissen, weil er meint, die könne ihm zu seinem künftigen Fortkommen in der Hölle doch von keinem sonderlichen Nutzen sein; denn Herr Pluto und dessen unterirdische Richter examinierten die Kandidaten nach einem gar andern Katechismus. Kurz, der Bursche ist mir und der ganzen Christenheit dermalen verdorben, und das hat einzig Eure superkluge Herrschaft zu verantworten, die das junge Blut als einen Pudelhund mit sich nahm, um verlornen Hochmut aus dem Wasser wieder heraufzuholen. Ich habe sogleich den Apotheker müssen kommen lassen, der ihn bepflasterte und ihm Latwergen und Tränke und Tropfen mitgebracht hat, die ich armer Gesell aus meiner knappen Wirtschaft nun alle bezahlen muß; alles bittres, verfluchtes, niederträchtiges Zeug, wo sie mir noch viel Geldes dazu geben müßten, wenn ich sollte überredet werden, das gottlose Höllengesöff hinunterzuschlucken. Der einzige greifliche Vorteil bei der ganzen verfluchten Geschichte ist, daß das dumme Lammsgesicht in den ersten zehn Jahren nicht wieder braucht geprügelt zu werden, weil ihm Rücken und Rippen von der remarkablen Geschichte beinah zerquetscht und zertrümmert sind.«

»Geistlicher Herr,« sagte Ursula, »Ihr beliebt so klug und so quatsch durcheinanderzusprechen, daß es fast unmöglich ist, Eure Meinung zu kapieren. Wenigstens macht Ihr es den Laien ziemlich schwer.«

»Nun, so seht Euch die Bescherung selbst an,« sagte der Geistliche, »wenn Ihr Euch aus meiner Legende nicht zu vernehmen wißt.«

Sie gingen in die Kammer, wo der Kranke sich unruhig auf seinem schlechten Lager wälzte. Seine Augen glühten, und als die beiden eintraten, rief er ihnen entgegen: »Teuerster Monsignore Charon, bringt Er sie jetzt herüber, meine längst angetraute Gemahlin, die Dame Vittoria? Ei was! Ist sie schon seit den kurzen dreihundert Jahren so sehr gealtert, wie muß ich dann erst aussehn, der ich schon vor meiner Geburt ein alter Kerl war? – Wie? Runzeln in dem braunen Gesicht? Warum gerade so? Kann das Alter denn nicht bloß ehrwürdig erscheinen, warum muß es gerade lächerlich sein?«

»Nein, nein, junges Blut,« rief Ursula unwillig aus; »ich bin nicht die Herrschaft, ich bin die Amme, die sie großgesäugt hat, darum laßt Eure Pasquinaden und wendet Euch an Gott, damit er Euch gesund mache und Euren verfallenen Verstand wiederherstelle.«

»Ihr habt sie mit Eurem Blut, mit Eurer Milch, mit Euren Lebenskräften gesäugt?« rief der Kranke; »kommt näher, Musterbild aller Schönheit, denn auf die Weise hat sie ja nur von Euch ihre Vollkommenheiten. Ehe sie selber war, ruhten ihr Auge, die süßtönende Rede, die Himmelslippen, alle die Verse, die sie weiß und selber dichtet, schon in dieser verknöcherten, kastanienbraunen Brust? O kommt und reicht mir auch etwas von dieser Nahrung, damit ich doch einige Ähnlichkeit mit ihr bekomme.«

»Pfui!« schrie die Alte erbittert, »Er sollte doch wenigstens auf eine dezente Art rasen, daß wohlerzogene Frauenzimmer sich über Seine Liebesphrasen nicht zu schämen brauchten.«

Sie ging böse und scheltend fort und erstattete der Herrschaft nur einen sehr unvollkommenen und verwirrten Bericht. Die Signora Julia schickte durch ihren jüngern Sohn eine bedeutende Summe zum Pfarrer, damit ihm der kranke Neffe nicht zu viele Ausgaben veranlasse, auch sorgte sie dafür, daß ein verständiger Arzt außer dem halbgelehrten Apotheker sich auf ihre Rechnung des Leidenden annahm. Auch kühlende Sachen, eingemachte Früchte und andere Erfrischungen besorgte sie, und so hoffte sie, bald von der Besserung und Genesung des Camillo Mattei zu vernehmen.


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