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Ich legte meiner Nachbarin noch ein Stückchen Kapaun auf den Teller.
Sie dankte und sagte: »Es ist zu ungeschickt, dass er immer so spät kommt.«
Ich nickte ihr beifällig zu und versicherte ihr, dass ich gleichfalls einen gut gebratenen Kapaunen dem besten Fisch vorziehe.
Da sah sie mich verwundert an und brach in ein silberhelles Lachen aus. »Das ist köstlich! Das ist reizend! Dieses Missverständnis! Ich meinte ›ihn‹ und Sie denken an gebratene Hühner. Das muss ich Peter Paul erzählen.«
»Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich wusste nicht, dass Sie verlobt sind.«
»Verlobt? Ich spreche doch von Peter Paul!«
Diesmal klang es vorwurfsvoll; und als ich ihr treuherzig versicherte, dass ich niemanden dieses Namens kenne, rückte sie von mir weg.
Sie sprach leise einige Worte mit dem Herrn zu ihrer Rechten; nach kurzer Zeit entstand ringsherum ein Tuscheln und Flüstern; man hörte auf zu essen, und als ich mir eben noch ein Stückchen Geflügel ausbitten wollte, sah ich, dass die Augen aller Anwesenden auf mich gerichtet waren. Ich fuhr mit der Hand nach der Krawatte. Sie saß auf dem rechten Fleck und auch sonst war nichts in Unordnung.
›Vielleicht habe ich den Salat mit dem Messer in den Mund geschoben; ich werde mich etwas mehr zusammennehmen, dachte ich und nahm mir mit möglichster Unbefangenheit einen fetten Schlegel von der Platte.
Ich sollte ihn nicht mit Ruhe verzehren. Es quälte mich, dass so viele Lorgnons und Zwicker durchbohrend auf mich gerichtet waren. Ich wurde unsicher und stach mit der Gabel daneben. Das Bratenstück wurde förmlich lebendig, ich jagte es auf dem ganzen Teller herum, und als ich es endlich zu fassen kriegte, rutschte ich mit dem Messer so heftig ab, dass die Sauce in die Höhe und meiner Nachbarin auf das Kleid spritzte.
Ich entschuldigte mich und begann den Kampf von neuem.
Diesmal gedachte ich es besser zu machen und spießte in verhaltener Wut den widerspenstigen Schlegel fest auf das Porzellan. Eben hatte ich ihn und schnitt mit einer energischen Bewegung tief in das Fleisch, als mein Vis-a-vis, ein blonder Herr mit melancholischen Gesichtszügen, das allgemeine Schweigen unterbrach und mich mit vibrierender Bassstimme fragte: »Sie kennen also Peter Paul nicht?«
Ich verspürte einen elektrischen Schlag in der linken Hand und fuhr mit dem durchbohrten Kapaunen gicksend über den Teller hinaus. Da lag er jetzt auf dem weißen Tischtuch und ich sah, dass er für mich verloren war.
Zornig wollte ich dem unangenehmen Fragesteller erklären, dass ich auf alle Peter Pauls der Welt pfeife, als die Tafelrunde in große Bewegung geriet.
Alle erhoben sich von den Stühlen und mehrere Damen eilten auf die Türe zu, in deren Rahmen ein mittelgroßer, fetter Herr erschien.
Man nahm ihm Hut und Überzieher ab; nach geraumer Zeit löste sich der Kreis, welcher sich um ihn gebildet hatte, und er schritt an der Seite unserer Gastgeberin auf seinen Platz zu.
Ich sah, wie alle Anwesenden heftig bemüht waren durch Kopfnicken und Verbeugungen dem neu Angekommenen sich bemerklich zu machen, und ich sah, wie sich die Gesichter derjenigen verklärten, welche einen vertraulichen Gegengruß erhielten.
Ich wurde in meinen Betrachtungen plötzlich gestört. Ein Herr hatte sich hinter mich geschlichen und flüsterte mir erregt ins Ohr: »Blamieren Sie sich nicht länger! Das ist Peter Paul!«
Ich sah ihn so verständnislos an, dass er sich meiner erbarmte und nochmals hervorstieß: »Peter Paul Huber!«
Dabei zog er die Brauen in die Höhe und verdrehte die Augen so, dass man nur mehr das Weiße sah.
Ich begriff, dass ich wohl oder übel verstanden haben musste, und ließ über meine Züge ein Lächeln der Erhellung gleiten. »Ach, pardon! Natürlich! Wie man nur . . . pardon!«
Dann setzte ich mich und nahm mir vor an diesem Abend den Mund nur mehr zum Essen aufzutun. Die Verwirklichung dieses Vorsatzes wurde mir sehr leicht, da die Aufmerksamkeit der sämtlichen Tischgäste auf Peter Paul gerichtet war.
Er hatte den dicken Kopf auf die linke Hand gestützt und blickte träumerisch über die Tafel hinweg.
Der Diener, welcher mit der Platte hinter ihm stand, hob bald das eine Bein, bald das andere in die Höhe und verzog sein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse, da er sich die Finger verbrannte.
Endlich schreckte Peter Paul auf, sah den Servierkellner geistesabwesend an und nahm sich ein Stück Wildpastete.
Während des Tranchierens legte er plötzlich Messer und Gabel zur Seite, verschränkte die Arme wie Napoleon in der Madame sans gêne und sagte: »Der Stolz des Weibes ist die Demut vor dem Schicksale.«
Dann erst aß er weiter. Die Wirkung des Satzes war eine großartige.
»Haben Sie gehört? Der Stolz des Weibes . . . ah, kolossal! Welche Tiefe! Und dabei diese Einfachheit!«
Die Herren sahen nachdenklich auf das Tischtuch und wiegten in tiefem Sinnen die Häupter, die Damen wetteiferten um das bekannte »Aufleuchten« in die Augen zu bekommen. Die Hausfrau sah triumphierend im Kreis herum und eine bejahrte Matrone ließ sich von ihrem Nachbarn den Satz durch das Hörrohr sagen.
Dann schüttelte auch sie begeistert den Kopf und öffnete den zahnlosen Mund. »Ach wie schön! Das ist ja entzückend! Die Demut des Weibes . . . ja, ja . . . ist das Schicksal des Stolzes . . . äh . . . äh . . . Wundervoll! Ganz wundervoll!«
Peter Paul aß inzwischen zwei Pasteten und dann noch eine.
Als er mit der dritten fertig war, versank er wieder in Nachdenken.
Ich hoffte, dass er beim nächsten Gang wieder etwas sagen werde, da ich mir bei der allgemeinen Aufregung öfter servieren lassen konnte.
Meine Erwartung wurde nicht getäuscht.
Als er sah, dass die Gesellschaft sich hinreichend gesammelt hatte um einen neuen Stoß zu erleiden, strich er seine Haare in die Stirn, und indem er die Hausfrau durchbohrend anblickte, sagte er langsam, jedes Wort betonend: »Die Renaissance ist die Patina der Antike.«
Diesmal waren die Folgen Besorgnis erregend.
Herren und Damen drehten sich auf ihren Sitzen herum und sahen sich minutenlang in die starr geöffneten Augen. Dann brach es los.
»Also das ist . . . das ist einfach fabelhaft! Das ist ja . . . ach Gott . . . das ist eben Peter Paul!«
Der Gefeierte nahm sich drei Filetstücke heraus; ich beobachtete ihn genau und nahm mir vor ihn um eines zu schlagen. Ich tat dies auch und war schon lange fertig, als die Matrone sich noch immer den Ausspruch durch das Hörrohr trompeten ließ.
Sie konnte nicht damit zurechtkommen und sagte endlich verdrießlich: »Aber das verstehe ich ja nicht.«
Zum Glück für sie erhob sich in diesem Augenblicke Peter Paul und eröffnete den schmerzlich überraschten Gästen, dass er noch eine Wohltätigkeitsvorstellung besuchen müsse.
Als die ganze Schar seiner Verehrer sich zum Abschied um ihn drängte, ließ er sich erweichen und sagte noch: »Eine Wohltätigkeitsvorstellung ist gut, wenn die Wohltätigkeit keine Vorstellung und die Vorstellung eine Wohltätigkeit ist.«
Nun konnte er gehen.
So lernte ich den berühmten Schriftsteller Peter Paul kennen.