Ludwig Thoma
Münchnerinnen
Ludwig Thoma

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»Wenn die Herren gestatten, daß ich etwas Platz nehme, es ist nämlich ein Thema angeschlagen worden, zu dem ich mir eine Bemerkung erlauben möchte... Globerger ist mein Name... ich möchte mir als Mann der Praxis... wenn Sie gestatten... nur ein paar Worte zu dem Thema erlauben...«

Der Rechtsrat machte eine einladende Bewegung, und Benno nahm Platz. Franz fühlte, wie ihm eine brennende Röte ins Gesicht stieg; er hatte Paulas Mann schon vorher mit Unbehagen am Nebentische gesehen, jetzt drängte sich der taktlose Prolet – so hieß er ihn – in die Gesellschaft und saß breitspurig und selbstgefällig schräg gegenüber.

Ob er sich an die schlierseer Fahrt erinnerte und ihn wiedererkannte? Die Befürchtung war grundlos, denn Benno war in das wichtige Thema vertieft, und außerdem hatte er für solche Kleinigkeiten, wie die flüchtige Begegnung war, kein Gedächtnis.

»Herr Rechtsrat Vogel... net wahr? Ihr werter Name is ja bekannt und hat einen guten Klang, sozusagen, im Bürgertum. Es sin ja vorhin Stimmen laut geworden gegen die modernen Bestrebungen, ich meine hinsichtlich des Fremdenverkehrs, und Herr Rechtsrat haben treffend bemerkt, daß ma sich den Forderungen der Zeit anpassen muß. Ich möchte diesbezüglich nur sagen, daß die denkende Bürgerschaft in diesem Punkte auf Ihrer Seite is, Herr Rechtsrat, und daß man darin sogar eine Existenzfrage für München erblickt...«

»Es wär aber besser, wenn sich die guten Münchner ihre Existenz solider fundieren würden«, sagte Hausladen nicht ohne Schärfe.

Der Mensch da war ihm nicht sympathisch.

Benno merkte es nicht. Ihm war froh zumute, daß er vor bedeutenden Kapazitäten sein reifes Urteil abgeben konnte, und Einwendungen belebten seinen Geist.

»Gewiß... ich möchte auch durchaus nicht gesagt haben, daß man darauf ausschließlich seine Existenz basieren soll, oder daß der einzelne sich da auf trügerische Hoffnungen einlassen darf, aber die Stadt als solche kann nicht umhin, die momentane Konjunktur auszunutzen. Herr Rechtsrat werden mir gewiß in diesem Punkte beipflichten...«

»Ich habe meinen Standpunkt schon mehr wie einmal öffentlich betonen müssen...«

»Gewiß!« sagte Benno sehr eifrig. »Diese betreffenden Reden haben allgemeinen Beifall gefunden...«

»Wie g'sagt, ich hab meinen Standpunkt klargelegt. Nach meiner Ansicht is München vor die entscheidende Frage gestellt, ob es den Fremdenstrom, der doch unleugbar von Norden nach Süden flutet, ob es diesen Fremdenstrom hier stauen will, um... ihn... gewissermaßen, von hier aus dann durch verschiedene Kanäle ins Land zu leiten, wo er befruchtend wirken muß... oder ob es diesen Strom an sich vorüberfluten lassen will...«

»Ausgezeichnet!« rief Benno. »Herr Rechtsrat werden es mir als bescheidenem Bürger nicht verübeln, wenn ich sage, ich finde hier den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Franz, der seine Verlegenheit überwunden hatte und nun sicher war, daß ihn Benno nicht erkannte, beobachtete den selbstgefälligen Herrn, der das Maul spitzte und die Augen aufriß, um seine Klugheit und sein tiefes Verständnis anzuzeigen.

Eine nervöse Unruhe war in dem dicken, vom Weintrinken erhitzten Manne. Er klopfte die Asche von seiner Zigarette, warf die halbgerauchte in den Aschenbecher und zündete sich eine neue an; wenn er getrunken hatte, wischte er sich umständlich die Lippen ab, er richtete seine Krawatte, er zog seine Weste straffer an, immer war er mit sich beschäftigt. Er schlug ein Bein über das andere, aber die Stellung war ihm wegen seines Bauches unangenehm, und er setzte sich wieder gerade. Dabei sah man, daß ihm der Socken an dem einen Fuße heruntergerutscht war. Die Weste hatte Flecken, am Rockkragen hingen Schuppen.

Und wie nun dieser Mensch mit seinen abstoßenden Manieren so auf Armslänge vor ihm saß, erinnerte sich Franz einer peinlichen Szene, die er kaum eine Woche vorher erlebt hatte. Er hatte Paula abends auf Umwegen durch kleine, schlecht beleuchtete Gassen heim begleitet. Da war sie plötzlich zusammen gefahren und hatte ihn hastig in einen Hausgang gedrängt. »Sei still, er kommt grad daher!« Er hatte ihr Herzklopfen gefühlt, wie sie sich hinter der Türe an ihn gepreßt hatte. Auf der Straße waren dann zwei Männer im Gespräche vorübergegangen; als ihre Schritte verhallt waren, hatte Paula erleichtert aufgeatmet wie nach einer überstandenen großen Gefahr. »Gott sei Dank!« hatte sie geflüstert, »er hat nix g'merkt... Jessas, wenn wir ihm grad in d' Arm g'laufen wären!... Grad hab ich ihn noch g'sehen unter der Latern...«

Der Vorfall war ihm damals peinlich gewesen; jetzt in der Erinnerung kam er ihm noch widerwärtiger vor.

Daß er sich vor dem da versteckt hatte!

»Was hättst denn getan?« hatte Paula gefragt. »Wenn mir jetzt so Arm in Arm grad an ihn hingrumpelt wär'n? Ich glaub, es hätt eine Rauferei geben...«

»Die hätt nicht lang dauert«, hatte er geantwortet.

»Ja, aber ich! Was hätt denn ich tan? I hätt' ja gar nimmer heimgehen können...« Die paar Worte hatten ihm damals wie eine Warnung geklungen, hatten ihn auf eine große Gefahr hingewiesen.

Etliche Stunden später hatte er sie wieder vergessen, aber er hatte doch über die Folgen nachgedacht.

»Aber ich? Was hätt' denn ich getan?«

Nun fiel's ihm wieder ein und stand recht deutlich vor ihm. Hätte ihm nicht ein Zufall die schwerste Verantwortung aufbürden können?

Er riß sich von dem Gedanken los und blickte zu Hausladen hinüber. In dem unbehaglichen Gefühl, das ihn beschlichen hatte, kam ihm der joviale Freund seiner Eltern wie ein mahnender und helfender Vertreter der Welt vor, zu der er gehörte. Ganz unvermittelt sagte er zu ihm:

»Wenn's der Tante Lies recht is und dir, bleibe ich morgen nachmittag bei euch...«

Er wollte sich selber festigen in dem Entschlusse, den er plötzlich gefaßt hatte: auf keinen Fall mit Paula zusammenzukommen, so lang die Winhöringer da waren.

»Natürlich kommst d' zu uns... auf de paar Tag gehts doch wirklich net z'samm... und jetzt trachten wir heim, wenn's dir recht is...«

Benno hatte dem Rechtsrat eben mit dunkeln Worten und mit Augenzwinkern zu verstehen gegeben, daß er im Besitze des allerwichtigsten Geheimnisses sei, daß er irgendwo die Hände im Spiele habe, daß er Mitglied und Beirat eines Konsortiums sei, das die Zukunft Münchens umgestalten werde. Leider sei es ihm nicht möglich und nicht gestattet, darüber nähere Angaben zu machen, aber der Rechtsrat könne versichert sein, daß seine Wünsche und Bestrebungen in ungeahnter Weise erfüllt würden.

Hausladen und Franz gingen. Auf der Straße sagte der Gutsherr:

»Ein ekelhafter Kerl, der münchner Spieß da. Und der Vereinsredner vom Magistrat paßt zu ihm. Ich wollt, der Prechtl wär noch dagewesen, der hätt von seinem Räsonierquantum noch eine ordentliche Portion anbracht...«

*

Wege und Wiesen im Englischen Garten waren mit welkem Laube übersät, und die Amseln erschraken über den Lärm, den sie in den raschelnden Blättern machten. Ein dicker Nebel senkte sich auf die Baumwipfel herunter; von den Häusern der Königinstraße war nichts zu sehen, vom Lärm der Stadt nichts zu hören. Mit heiserem Schrei und klatschendem Flügelschlage flog zuweilen eine Krähe auf, und ein Spaziergänger konnte glauben, daß er irgendwo draußen auf dem Lande sei, nicht aber mitten in einer großen Stadt.

Paula, die bald zögernd, bald hastig auf den stillen, menschenleeren Wegen dahin schritt, beachtete es nicht, aber die graue, an Vergehen und Sterben mahnende Stimmung drückte auf sie.

Als sie an die Bank unterm Monopteros kam, blieb sie stehen.

Gelbe Blätter lagen darauf.

Sie streifte sie nicht hinunter, achtete auch nicht darauf, daß das Holz naß war, und setzte sich.

Eine bittere Erinnerung stieg in ihr auf, und plötzlich weinte sie still vor sich hin.

Wie lange war's her? Vor wenigen Monaten, es ließ sich nach Wochen rechnen, da hatte sie auf dieser Bank gewartet. Wie hell und warm war es damals gewesen!

Sie sah ihn mit raschen Schritten heraneilen; sie hörte seine ersten, unbeholfenen Worte wieder, die ihr seine Schüchternheit gezeigt hatten. Sie war selbst zaghaft gewesen, aber doch hatte sie ihn geführt, bis er sich getraute, ihr seine Liebe zu gestehen.

Wieviel Glück hatte sie darin gefunden! Und wie fest hatte sie ihm vertraut! Wenn sie je einmal von Aufhören und Ende gesprochen hatte, wars doch nur geschehen, um seine stürmischen Versicherungen zu hören, daß er nie von ihr lassen wolle.

Aber war's denn zu Ende? Mußte sie aus seinen zwei Briefen das Schlimmste herauslesen?

Sie holte die zerknitterten Bögen aus ihrer Tasche und fuhr nervös zusammen, als sie das Schloß laut und scharf zuklappte.

Sie las.

Eine Entschuldigung. Er habe Besuch von daheim erhalten, er müsse sich den alten Freunden seiner Familie widmen.

Das konnte doch wahr sein; und wenn's so war, durfte er sich der Pflicht nicht entziehen.

Aber warum stand kein zärtliches Wort in dem Briefe? Warum klang nicht das leiseste Bedauern durch, daß er ihr fernbleiben mußte? Warum keine Freude auf Wiedersehen?

Die Antwort auf diese Fragen, ja die stand doch in dem zweiten Briefe, der die Spuren ihrer Tränen zeigte. Wie kalt klang das alles!

»Es ist mir absolut unmöglich, dich bei mir zu sehen, da es nicht ausgeschlossen ist, daß man mich besucht. Meine Mutter hat ihre Freundin gebeten, daß sie meine Bude ansieht, weil sie glaubt, alle Wohnungen am Englischen Garten seien feucht und deshalb ungesund. Wir müssen uns also vorläufig gedulden...«

Sie las noch einmal.

Die Angst machte Paula scharfblickend. Sie fühlte deutlich, daß er etwas verschwiegen hatte, um etwas herumgegangen war.

»Wir müssen uns also vorläufig gedulden.« Hatte er kein herzliches Wort gefunden, um seine Sehnsucht nach ihr zu zeigen? Aber die hatte er nicht mehr. Zu deutlich sah sie es.

Rasch stand sie von der Bank auf. Er mußte ihr Rede stehen, er mußte ihrs wenigstens sagen, wenn alles aus war. Sich vorläufig gedulden, bis ihr ein dritter Brief die Absage brachte, oder sein Ausbleiben ihr das gleiche bewies, nein!

Das wollte sie nicht.

Und einen Grund mußte sie wissen.

Nicht weggeschoben sein, wie was Lästiges, das man einfach nicht mehr mag.

Sie ging jetzt mit raschen Schritten zur Lerchenfeldstraße hinüber.

Einen Grund mußte sie wissen.

Sie wollte ihn nicht plagen, sie wollte nicht betteln. O nein!

Sie sagte sich die Worte vor.

»Wenn du... wenn Sie eine Ursache haben, wenn ich Ihnen vielleicht einen Grund gegeben habe, dann müssen Sie auch den Mut haben, es mir zu sagen...«

Aber die Antwort darauf?

Dann war's ja aus, für immer aus! Das war doch nicht möglich!

Sie wimmerte vor sich hin: »Franz, lieber, lieber Franz!« Die Treppe zu seiner Wohnung stieg sie langsam hinauf. Im Glasfenster des Stiegenhauses war eine leichtbekleidete weibliche Figur, die Blumen aus einem Füllhorn schüttete.

Heute gerade so wie an den fröhlichen, glücklichen Tagen, wo sie rasch, um nur schnell bei ihm zu sein, die Stufen hinaufgehuscht war.

Paula blieb stehen und schaute in das pausbäckige Gesicht dieser Flora. Wenn sie herunterkommen würde, wenn sie die Figur wiedersehen würde, war's zu Ende... war das Abschiedswort gesprochen...?

Sie stand vor der Wohnungstür und läutete. Die Hausfrau, der sie früher kaum einmal begegnet war, öffnete. Eine magere, kleine Person mit sehr neugierigen Augen und einem mürrischen Zuge im Gesichte.

»Der Herr Doktor Riggauer zu Hause?«

»Der Herr Baron?« korrigierte die Frau... »Nein, der is net da...«

»Können Sie mir net sagen, wann er kommt?«

»Ja, dös weiß i net...«

Die Frau musterte Paula scharf und mißgünstig; sie machte eine Bewegung, als wollte sie gleich wieder die Türe schließen.

»Ein' Augenblick... entschuldigen Sie...« Paula wußte eigentlich nicht, was sie wollte... da kam ihr ein Entschluß. »Dürft ich nicht ein paar Zeilen bei Ihnen schreiben?« Sie öffnete ihre Tasche und nahm aus ihrem Portemonnaie ein Geldstück, das sie der Person gab... »Es handelt sich um was Wichtiges...«

»So?... Na... kommen S' halt rein...« Sie ging voran durch den Gang, am Zimmer von Franz vorüber. Paula zögerte; aber es war besser, nicht da hineinzugehen; am Ende hätte sie sich vor der Frau nicht mehr beherrschen können.

In der Küche kramte diese nach längerem Suchen aus der Tischschublade einen kleinen, etwas beschmierten Briefbogen heraus. Paula schrieb mit Blei hastig ein paar Worte hin.

»Um Gottes willen... was ist denn? Ich komme heute nochmal. Ich muß dich sprechen. Ich muß...«

Sie steckte das Papier in ein Kuvert, das schlecht gummiert war und kaum schloß.

»Bitte, legen Sie den Brief ins Zimmer... sagen Sie ihm auch, daß Nachricht da is...«

Paula eilte weg. Sie war froh, den prüfenden Blicken der Frau zu entrinnen.


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