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Pernerstorfer

Er war sozialdemokratischer Führer, aber kein Sozialdemokrat, weder in seinem Wesen, noch in seinen Neigungen, noch in seinem Äußern.

Das ist nämlich auch wesentlich.

Ich sehe es einem an, ob er Sozialdemokrat sein kann, und Pernerstorfer hatte nicht ein einziges Merkmal. Seine Augen blickten altösterreichisch, gutmütig, klar, ein bißchen alldeutsch schwärmerisch. Ich hätte auf Schönerianer geraten. Auch das andere stimmte damit überein; es war gar nichts Unruhiges, Parteisüchtiges, Bohrendes, Hassendes, Arbeitersekretärisches in seinem Gesicht. Wenn man so aussieht, liest man den ledernen Marx nicht, noch keine zwanzig Seiten davon.

Ich weiß, daß ihn die wirklichen Sozialdemokraten auch nicht lesen, aber sie tun so, und man kann ihnen glauben, daß sie markante Marxianische Lehrsätze auswendig lernen. Die Neigungen Pernerstorfers waren Deutschland zugewandt und erreichten merkliche Wärmegrade.

Der Mann war stolz auf sein Deutschtum und trug diese Ketzerei ganz offen zur Schau; er sprach davon, er sprach sogar gleich, bei der ersten Begegnung, davon und kam immer wieder darauf zurück.

Eine sozialdemokratische Größe in München, mit der ich von Pernerstorfer redete, tadelte sofort diese unbegreifliche, ich glaube, er sagte »senile«, Marotte des wiener Genossen, und dabei hatte sein Ton gleich das richtig Giftige und seine Augen das typische, etwas schielende Arbeitersekretärische.

Wie ganz anders und wie so gar nicht senil wirkte der alte Pernerstorfer, als er mich beim ersten Schoppen Klosterneuburger darauf hinwies, daß von zwölf Millionen Bayern etwa neun herüben in Österreich säßen, und daß wir uns nur ja nicht einbilden sollten, die allein echten Bajuwaren zu sein. Ein Sozialdemokrat, der in seiner Liebe zu Stamm und Rasse eifersüchtig ist? Die Abart gibt es nicht.

Das Wesen Pernerstorfers war behaglich, taktvoll, gutes Altwien, und nun habe ich alles gesagt, was mir die Gewißheit gab, daß der Führer der österreichischen Partei kein Sozialdemokrat war, oder was noch schwerer wiegt, keiner sein konnte.

Ich lernte ihn in Wien im Januar 1903 kennen, als ich zu einer Erstaufführung in der Burg dort war. Er war im Theater gewesen, denn dafür hatte er ein starkes Interesse. Nach der Vorstellung saßen wir mit Schlenther beim Pilsner zusammen, und Pernerstorfer lud mich ein, den andern Vormittag in das Parlamentsgebäude zu kommen, wo er mich erwarten wollte.

Ich traf pünktlich ein, und da gerade eine Reichsratssitzung war, konnte ich die klassische Stätte des »Bahölls« zusamt ihren Akteuren kennenlernen. Wir standen auf der Galerie und blickten in den Saal hinunter.

Eine laut durcheinander schwatzende, lachende, hin und her sich bewegende Menge; nur wenige Abgeordnete saßen auf ihren Stühlen, die meisten standen oder gingen herum. Der Lärm war so stark, daß Pernerstorfer ziemlich laut sprechen mußte, um sich verständlich zu machen.

Ich fragte ihn, wann die Sitzung beginne.

»Die is doch schon …«

»Die ist schon? Spricht jemand oder …?«

»Aber natürlich spricht jemand. Dort links, schauen Sie nur hin, steht der Redner.«

Ich mußte längere Zeit suchen, bis ich einen kleinen Herrn entdeckte, dessen regelmäßige Armbewegungen darauf schließen ließen, daß er eben das Wort hatte.

Niemand hörte ihm zu, einige standen vor seinem Platze und hatten ihm den Rücken zugekehrt.

Nicht einmal diese Nächststehenden schenkten ihm die geringste Aufmerksamkeit. Ein Verständnis für Österreichs Parlamentarismus dämmerte in mir auf.

Pernerstorfer wies auf die eigentliche Rednertribüne hin, auf der niemand zu sehen war, und erzählte mir einiges von jenem berühmten Skandal, der unter Badeni hier getobt hatte.

Er muß ungeheuerlich gewesen sein, wenn er sich vom üblichen so sehr unterschieden hatte.

Von dort herunter hatten die Saaldiener die sich sträubenden Redner getragen. Der widerhaarige Abgeordnete wurde an Kopf und Füßen gepackt und wie ein Kartoffelsack herunter und zum Saale hinaus befördert.

Ja, es war eine gewaltige Zeit. Sicherlich erschien es Pernerstorfer als etwas sogar die Würde dieses Hauses Entweihendes, aber er erzählte es doch mit einer gewissen Befriedigung, die man hat, wenn man Augenzeuge eines welthistorischen Ereignisses hatte sein dürfen. Ich sah die Tribüne an und warf auch ehrfurchtsvolle Blicke auf die historischen Pultdeckel, mit denen so oft und so laut geklappert worden war.

Wir schieden von der weihevollen Stätte und schritten durchs Haus. In den Gängen kamen uns Abgeordnete entgegen; einige grüßten, andere warfen herausfordernde Kontrahage-Blicke auf den guten Pernerstorfer, der ihnen jedoch keinen dummen Jungen aufbrummte, sondern mit mir ein Weinbeisel in den Tuchlauben aufsuchte.

Wir trafen dort eine Gesellschaft an, die in mir das freundlichste Bild vom alten, liebenswerten Wien wachrief.

Der Lyriker David, einige Beamte, ein Universitätsprofessor Müller, der als beurlaubter Benediktiner in Wien lebte und lehrte.

Diese Unterhaltung in ihrer taktvollen, milden Heiterkeit, in die sich ein bißchen Resignation und Raunzen mengte, war für mich ein altösterreichisches Erlebnis. Und wie die Herren bald mit Stolz, bald mit der leisen Wehmut für ihr Österreichertum sprachen und seine Geltung in Deutschland verlangten, aber auch wieder vermißten, gab der Unterhaltung den besonderen Reiz. Bei Pernerstorfer war das Lieblingsthema angeschlagen, und wenn Professor Müller das Beste sagte, so gab er ganz gewiß das Kräftigste dazu. Wir haben uns zuweilen geschrieben, gesehen habe ich ihn leider nicht mehr.

Und daß er kein Sozialdemokrat geworden ist, dessen bin ich sicher.

*


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