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Torggelstube

Eine Weinwirtschaft am Platzl, in der die Zunftstube der bedeutenden Literaten war. Wer aus der Fremde kam und dort das Handwerk grüßte, durfte sich an den Tisch setzen, an dem Meister Wedekind Tag um Tag, im frostigen Winter, im jungen Frühling, im heißen Sommer und im hinsterbenden Herbste saß und Rotwein trank. Manchmal warf er ein bedeutendes Wort unter die gierig Horchenden, die es sich merkten und weitertrugen und auch niederschrieben.

Keines seiner Worte verwehte, denn die ungeheuren Schalltrichter des Jüngers Joachim fingen das Leiseste auf, und ein nie fehlender, stets dabeisitzender Literaturprofessor reihte es sogleich ein ins Bedeutende, Faustische oder anekdotischem Wesen sich Nähernde.

Hier war es, wo das auserwählte Volk der Geistigen auf das Erscheinen der »Franziska« harrte und dieses neue, zwischen den Torggelstubennächten entstehende Werk des Meisters als Offenbarung ersehnte.

Ein Zufall fügte es, daß ich an jenem bedeutsamsten Tage der Erstaufführung, an einem Nebentische sitzend, Zeuge des Ereignisses ward. Der Platz des Meisters war leer, als ich das Gastzimmer betrat, einige Stühle lehnten umgeklappt an dem geweihten Tische. Eine einzige elektrische Lampe war aufgedreht und beleuchtete spärlich die kulturhistorische Ecke.

Lag die Vorahnung großer Ereignisse darüber?

Das Servierfräulein, das immer so verzeihend lächelte, wenn sich ein geistiger Führer der Nation über die bourgeoise Gewohnheit des Bezahlens hinwegsetzte, war sichtlich aufgeregt.

Da und dort flüsterte sie Gästen zu: »Heut is d' Franziska.«

»Was is heut?« fragte ein gewöhnlich aussehender Herr zurück. Ein münchner Rentner, ein Privatier sozusagen.

Man warf ihm von rechts und links unwillige Blicke zu; das Servierfräulein zog die Achseln in die Höhe.

Wie kam der Mensch eigentlich da herein?

Eine bleischwere Stunde verstrich langsam.

Draußen vor der Torggelstube stand die lange Reihe der Droschken; die Kutscher standen in einem Kreise zusammen, und jeder trank seine Maß Hofbräuhausbier.

Seltsam, wie in großen Momenten das kleine Leben unbeirrt und ewig gleich weitergeht.

Ein paar Straßen weiter wurde eben »Franziska« aufgeführt, und hier war alles wie sonst. Leute gingen ins Hofbräuhaus, setzten sich in die qualmende Halle, Leute kamen heraus, es roch nach Bier, nach Käse, nach Gebratenem.

Es war eine Nacht wie sonst. Komisch eigentlich!

Ich saß an meinem Nebentische und las in einer Zeitung. Zuweilen blickte ich auf das Servierfräulein, das immer unruhiger wurde. Man kennt ja die Stimmung, wenn man auf ferne Schritte horcht … »Jetzt … jetzt … jetzt bringen s' ihn …«

Endlich!

Die Glastüre wurde aufgestoßen. Der Literaturprofessor stürmte mit wehendem Mantel herein, hinter ihm kamen gewöhnliche Menschen, bedeutende Menschen und wieder gewöhnliche.

Der Jünger Joachim kam; er war blaß und sah angegriffen aus wie eine Wöchnerin. Er hatte eben ein Telegramm zur Welt gebracht.

Immer wieder klappte die Türe auf und zu; geräuschvolle Theaterbesucher kamen und füllten die Stube mit schwirrenden Gesprächen.

Am Tische der Bedeutenden war es totenstill. Der Literaturprofessor hatte das erlösende Wort noch nicht gefunden. Er rang sichtlich darnach. Der Jünger Joachim saß verängstigt auf seinem Stuhle; es war ein Wagnis gewesen, zu telegraphieren, noch vor das maßgebende Urteil gesprochen war.

Sollte …?

Und wirklich schlug in diesem Augenblicke der Professor auf den Tisch und rief: »Nein! Nein! Da kann ich nicht mehr mitgehen. Das verstehe ich einfach nicht mehr …«

In der Stube wurde es still, die Gespräche verstummten.

War man an einem Wendepunkte angelangt?

Das Servierfräulein stellte sich an den Tisch der geistigen Führer.

»Und?? –? –«

Niemand antwortete ihr.

Der Professor suchte fieberhaft nach einer Spalte in der Wand, die sich vor seinen Geist geschoben hatte.

Der Jünger Joachim war bleich und tief erschüttert.

Wer wird auch so schnell telegraphieren! Dieses verfluchte Gesetz der Fixigkeit!

Stühle rückten, eine Bewegung ging durch den Raum.

Der Meister kam. Ein paar Getreueste folgten ihm.

Als er auf seinem Platze saß, löste sich die Spannung der Tafelrunde.

Bewundernde Worte erklangen.

Der Literaturprofessor brachte seine Zweifel vor, nicht als Zweifel, sondern als ehrerbietige Fragen.

Und es wurde ihm Erleuchtung zuteil.

Mit knappen, hingeworfenen Randbemerkungen goß Wedekind eine Flut von Licht über alles Dunkle aus.

Faust zweiter Teil war es, an den man analog zu denken hatte.

Verständnis huschte über die verängstigten Gesichter und legte sich breit und sonnig auf die Miene des Literaturprofessors.

Die Einreihung ins ganz Große, ins Symbolische, ins Faustische vollzog sich.

Der Jünger Joachim glänzte; er brauchte seine Bewunderung nicht umzuparkieren, und sein Telegramm stempelte ihn zum Erkennenden, Vorausschauenden.

So vollzogen sich in München die großen literarischen Ereignisse.

*


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